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Einsamkeit

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»O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen …«

Rainer Maria Rilke

Damals, im Garten der Nachbarn, gab es einen einsamen Jungen. Ganze Nachmittage lang zog er seine Kreise um die große Birke, leicht hüpfend und immer wieder innehaltend. Manchmal saß er stundenlang unter dem Baum und blinzelte in die Sonne. Draußen, außerhalb der hohen Hecke, spielten und kreischten die Kinder. Nie habe ich ihn in unserer Nachbarkinderschar entdeckt, nicht in der Schule, nicht auf dem Schulweg. Auch dort ging er allein. Später traf ich ihn wieder. Er lehrte jetzt Philosophie, und ich ahnte, dass damals unter der Birke alles begonnen hatte – in der kindlichen Einsamkeit.

Wenn wir an einsame Kinder denken, dann überfällt uns leicht ein Schrecken, wir spüren Verlust und Mangel und das damit verbundene Leid. Aber dies muss, wie das Beispiel zeigt, nicht immer berechtigt sein. Manche Kinder wählen die Einsamkeit ganz bewusst, sie brauchen sie, um ihre fantasievolle Innenwelt gegen den Zugriff anderer zu schützen. Sie haben genug an sich selbst, an ihren inneren Monologen, an den erfundenen Gestalten, an Farben und Tönen, die sie sich schaffen. Und das Fürsichsein gibt Raum und Zeit, all dies frei auszuleben.

Ganz anders hingegen die ungewollte oder gar erzwungene Einsamkeit mancher Kinder. Viele Schüler kehren vom Hort oder von der Schule in leere Wohnungen zurück. Die Eltern sind bei der Arbeit oder sonst wie beschäftigt, Geschwister fehlen, und kein Hund springt ihnen entgegen. Diesen Kindern ist die Leere der Wohnungen so selbstverständlich, dass sie sie kaum als fremdartig empfinden. Deshalb revoltieren sie nicht: Sie essen allein, sie tappen allein durch die Wohnung und schalten Geräte ein, die das Gefühl von Einsamkeit nicht aufkommen lassen. Oft schlafen sie abends allein ein. Diese Kinder sind einsam, meist ohne sich dessen bewusst zu sein.

Einsamkeit ist ja durchaus nicht nur gekoppelt an räumliches Alleinsein. Manchmal bricht dieses Gefühl paradoxerweise gerade dann aus, wenn das Kind sich in einer Gruppe mit vielen anderen befindet. Es ist umgeben von fröhlichen Kindern und spürt plötzlich, dass es nicht, wie anscheinend all die anderen, in der Gruppe aufgeht. Dann fühlt es sich einsam. Peter Handke beobachtet ein solches Kind: »Es läuft, unter den andern Kindern, völlig ziellos im Garten herum, bleibt stehen, macht Anfangsbewegungen eines Spiels, die es sofort ratlos wieder abbricht; dann wieder kleine klägliche Nachahmungen der Lebhaftigkeit der anderen Kinder, aus dem Stand, völlig sinnlose, virtuos sein wollende, dabei nur sehr traurig lächerliche Handlungen im Kreis durch den Garten, Hüpfen, Sich-Anschleichen, Sich-um-sichselber-Drehen, das alles unter all den andern, die ihren Rhythmus haben, in einer völligen Einsamkeit; und als es einmal, ein einziges Mal, im Rhythmus mit den andern ist und ganz stolz zu denen hinschaut, wird es gar nicht bemerkt, und selbst die Hunde, zu denen es sich beugen will, laufen an ihm vorbei, und so geht es, die Hände auf dem Rücken, im Kreis weiter, scheinlebhaft manchmal aus der Traurigkeit aufhüpfend.«63

Kinder spüren genau, ob sie unter anderen aufgehoben und gewollt sind oder nur ein ungeliebtes Anhängsel. Aus der Kindergruppe ausgeschieden zu sein, gegen den eigenen Wunsch nicht dazuzugehören, macht einsam und traurig, manchmal auch zornig. Das Kind fragt sich, warum es ausgeschlossen ist, und schiebt die Schuld häufig in Form von Selbsthass auf seine eigene Person. Irgendetwas muss an ihm sein, das es nicht liebenswert für andere macht. Solche Gedanken sind der Nährboden dafür, dass sich das Kind in sich zurückzieht und verstärkt den Kontakt zu anderen meidet. Dies kann ernstzunehmende Depressionen verursachen.

Kehren wir noch einmal zurück zu den positiven, den kreativen Aspekten kindlicher Einsamkeit. Die Fähigkeit, mit uns allein zu sein, ohne an uns zu zweifeln und ohne zu verzweifeln, ist eine Grundfähigkeit des Menschen, die wir auch dem Kind zugestehen und bei ihm unterstützen sollten. Ich erinnere mich an nie enden wollende Nachmittage im Haus meiner Kindheit. Wo waren sie eigentlich, die Eltern, die Brüder und Schwestern? Ich erinnere mich an das Alleinsein, in dem mein Ich durchsickerte, in dem ich mein Ich entdeckte. Einsamkeit bedeutet, die Spaltung der Welt anzuerkennen: »Hier bin ich, das Kind – und dort um mich herum, auf dem Schulhof, auf der Straße, im Haus, ist die Welt um mich herum, ist das Nicht-Ich.« Wir sind alle getrennt. Wir sind alle einsam. Und dennoch bin ich ohne die anderen nicht denkbar.

Kindliches Alleinsein ist eine Gratwanderung. Dort, wo es den Weg zum kindlichen Ich bahnt, wo es dem kindlichen Ich Raum und Zeit zu seiner Entfaltung gibt, ist es ein kostbares Gut. Aber wenn das Kind traurig und hoffnungslos wird, wenn es sich nach Gemeinschaft und Nähe sehnt, dann ist es einsam. Da haben wir als Erwachsene alles zu tun, das Kind daraus zu erlösen und mit unserer Gegenwart einzuhüllen.

Das Alphabet der Kindheit

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