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Engel

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»Ich ließ meinen Engel lange nicht los,

und er verarmte mir in den Armen

und wurde klein, und ich wurde groß.«

Rainer Maria Rilke

Kinder nehmen oft Dinge wahr, die die meisten Erwachsenen nicht wahrnehmen. Sie sehen Engel – in der Regel ihren Schutzengel –, sie hören und spüren ihn leibhaftig. Aber sie halten diese Begegnungen oder ihr Schauen meist geheim, weil niemand in den intimen Dialog einbrechen darf. Die in Frankreich so populäre Kinderanalytikerin Françoise Dolto hat erst als ältere Frau freimütig erzählen können, dass sie als Kind intensiv an Engel, vor allem an ihren eigenen Schutzengel, geglaubt hat. Dieser war ihr damals so real, dass sie schrieb: »Wenn ich schlafen ging, legte ich mich nur auf die eine Hälfte des Bettes, um meinem Schutzengel Platz zu lassen, damit er neben mir schlief (…) Er trug ein weißes Kleid, er hatte Flügel, die er zusammenklappte, deshalb sagte ich ihm ab und zu: ›Nein, tue deinen Flügel bitte nicht dahin, er stört mich.‹«73 Dieselbe Frau wurde später eine überaus vernünftige und tatkräftige Kinderärztin und Schriftstellerin. Besonders verstand sie sich darauf, die verborgenen Sehnsüchte der Kinder zu erspüren. Vielleicht hatte sie all dies als kleines Mädchen schon jahrelang mit ihrem Schutzengel eingeübt.

Engel sind für alle diejenigen wirklich existent, die sie in sich einlassen, die an sie glauben. Und viele Kinder glauben. Manchmal sind Engel auch nur vorübergehende Gefährten: Sie erscheinen, sie begleiten das Kind eine Zeitlang – und sie verschwinden ganz leise wieder, so dass sie bisweilen in späteren Jahren kaum mehr erinnert werden. Schade! Aber das gehört zu ihrem Geheimnis.

Das Alphabet der Kindheit

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