Читать книгу Covent Garden Ladies: Ein Almanach für den Herrn von Welt - Хэлли Рубенхолд, Hallie Rubenhold - Страница 4
Kapitel 1 Der Vorhang öffnet sich
ОглавлениеAuch wenn der Ort vielleicht nicht wiederzuerkennen ist – wir befinden uns in Covent Garden. Der Anblick wirkt wohl etwas unvertraut, ohne das Markthallengewölbe aus Stahl und Glas und ohne all den Touristentrubel. Es gibt keine Straßenmusikanten, keine Fahrradrikschas und auch keine Läden, die billigen Plastikkrimskrams verhökern. Mitte des 18. Jahrhunderts ist da nur der unverbaute, nackte Platz mit Pflastersteinen, Schmutz und offenen Abwasserkanälen.
Es herrscht ein buntes Treiben, selbst schon im ersten Morgenlicht. Um diese frühe Stunde brummt der Platz vor Londoner Leben. Obst- und Gemüsehändler, Fuhrmänner, Balladensänger, Scherenschleifer und Milchmädchen umwogen einander im täglichen Reigen ihrer Arbeit. Unter breitkrempigen Strohhüten balancieren Frauen mit roten Ellbogen fruchtgefüllte Körbe auf ihren Hüften. Männer schuften in wollenen Gehröcken oder Lederschürzen, den Dreispitz über die schläfrigen Augen gezogen. Barfüßige Kinder jagen Hunde. Alte Männer humpeln an behelfsmäßigen Stöcken, die genauso krumm sind wie ihre Rücken. Die zahnlosen, runzligen Frauen sind viel jünger, als sie aussehen. Viele aus den Reihen derer, die – gegen die Morgenkälte dick eingemummt – zum Feilschen hierhergekommen sind, gehören zum Heer der Londoner Dienstboten. Mit schwer gefüllten Körben werden sie zu den Häusern ihrer Arbeitgeber zurückgeeilt sein, noch bevor Herr und Herrin aus den Federn sind.
Natürlich hat dieses Fest fürs Auge auch Nase und Ohr etwas zu bieten. Der mit frischen und faulenden Produkten vollgestapelte Markt verströmt den süßlichen Geruch von Kohl und Äpfeln. Auch die feuchte Schärfe von Pferdeäpfeln lastet überall, genauso der gelbe Kohlenrauch und der Duft von brennendem Holz. Die eher unvermuteten Odeurs jedoch dünsten die trüben Pfützen aus. In Ermangelung eines funktionierenden Abwassersystems stöhnt London unter dem eigenen Gestank. Die Wohlhabenden haben ein besonderes Geschick darin entwickelt, die jähen olfaktorischen Angriffe durch den Hauch von Verwesung und menschlicher Exkremente abzuwehren, indem sie ihre Nasen hinter parfümierten Taschentüchern und Blumensträußchen verstecken. Die Armen wiederum haben schlicht gelernt, mit diesen Unannehmlichkeiten zu leben. Seit langem hat die arbeitende Klasse entdeckt, dass ein Lied helfen kann, Not und Entbehrung zeitweise vergessen zu machen, und ihre Weisen erfüllen die Luft. Viele der auf dem Platz gepfiffenen oder gesummten Melodien waren zuvor in einem der beiden umliegenden Theater zu hören. Musik ist eine tragende Säule der Abendunterhaltung im Covent Garden Theatre am Ostrand des Platzes wie auch im konkurrierenden Theatre Royal in der Drury Lane. Seit je ist dieser Teil der Stadt, bei Tag und bei Nacht, ein Ort der Instrumente und Stimmen gewesen. Wenn die Bühnenlichter gelöscht sind, stimmt stattdessen der Markt sein Konzert von Klängen an. Straßenverkäufer schreien ihre Waren aus, ihre Rufe fließen misstönend ineinander. Zwischen dem Singsang ihrer Aufforderungen zum Kauf von Quitten und Apfelsinen schäkern und scherzen sie, fordern einander übermütig heraus. Andere Arten von Musik überlagern ihre Verkündigungen – das städtische Geklapper von Pferdehufen, das Quietschen und Aufschlagen von Holzrädern, zuschlagende Türen, rollende Fässer, plärrende Säuglinge, das Quieken und Brüllen von Tieren. Es gibt keine leise tickenden Maschinen, keinen Strom und keine automatisierten Abläufe, die Mensch und Vieh die Arbeiten abnehmen würden; nur das Ächzen und Schwitzen der Kreatur.
Bei aller Geschäftigkeit des Marktplatzes erschöpft sich die Bedeutung von Covent Garden indes keineswegs im emsigen Treiben des morgendlichen Handels. Nicht jeder kommt hierher, um die Früchte für Pasteten und Desserts zu kaufen. Wenn sich der Morgen in den Nachmittag wandelt und die Verkäufer ihre letzten Waren an den Mann gebracht haben, erwacht allmählich das lukrativere Gewerbe des Platzes, und das Zentrum des Geschehens verlagert sich vom umzäunten Gemüsehandel in der Mitte hinter die Steinfassaden der Randgebäude.
Nach Norden eröffnet sich der Blick auf einige der berüchtigteren Lokalitäten. Ganz im nordöstlichen Winkel liegt, leicht vom Arkadengang verdeckt, einer der Hauptschauplätze unseres Geschehens. Unter einem prächtigen, frei hängenden Kneipenschild, auf dem das Konterfei von Englands berühmtem Barden prangt, befindet sich der Eingang zu einem Wirtshaus, das als »The Shakespear’s Head« bekannt ist. Die schändlichen Details über die Vorgänge in seinen dämmrigen Zimmern wollen wir für später aufheben. Nebenan, südlich vom Shakespear’s Head, befindet sich das Bedford Coffee House, ein um ein winziges Quäntchen reputableres Etablissement. Seine distinguierte Klientel aus Literaten- und Theaterkreisen, die ihm ein gewisses modisches Flair verleiht, erhebt dieses Haus minimal über den zweifelhaften Leumund seines Nachbarn. Gegenüber vom Shakespear, nach Norden hin, befindet sich das vornehme Haus der Kupplerin Mrs. Jane Douglas. Die Betrunkenen aus den Gasthäusern sorgen dafür, dass Mutter Douglas’ Mädchen die Kunden nie ausbleiben, und so blüht das Geschäft bis weit in die 1760er Jahre hinein. In späterer Zeit richten die Damen des Kupplergewerbes ihr Augenmerk dann auf die schickeren Viertel: zunächst Soho, dann St. James’s, Mayfair und Piccadilly. Im Augenblick jedoch geht das Geschäft recht gut für Jane Douglas und ihre Zunftschwestern von Covent Garden, die es sich in diesem sündigen Winkel eingerichtet haben. Auch die Inhaber von Haddock’s Bagnio, direkt südlich der Ecke Russell Street ebenfalls am Platz gelegen, können sich nicht über magere Umsätze beklagen. Dass man hier unter einem Dach ein türkisches Bad, eine Mahlzeit und die Gesellschaft einer käuflichen Dame genießen kann, ist eine neue Attraktion, die in adligen Kreisen gut ankommt. Jede Nacht kann man diese Herrschaften zwischen Haddock’s und der benachbarten Bedford Arms Tavern (nicht zu verwechseln mit dem Bedford Coffee House oder der Bedford Head Tavern in der Maiden Lane) herumtorkeln sehen. In puncto fleischliche Zerstreuungen ist hier also fürwahr viel geboten, und so ist es auch verzeihlich, wenn man darüber die Pfarrkirche St. Paul’s Covent Garden in all ihrer strengen Schönheit übersieht, die die Westseite des Platzes einnimmt. Von hier aus hat sie seit über hundert Jahren schweigend das Geschehen verfolgt.
Doch auch unter dem strafenden Blick von St. Paul’s scheint sich der Platz mit dem sündigen Treiben bestens arrangiert zu haben. Im näheren Umkreis drängen sich noch viele weitere liederliche Etablissements; alle benachbarten Straßen sind regelrecht verseucht mit Bordellen, wüsten Spelunken, lärmenden Kaffeehäusern und unzähligen billigen Absteigen für die »arbeitenden Damen«. Die berüchtigsten Meilen sind Bow Street, Drury Lane und Brydges Street im Osten des Platzes. An der Ecke von Brydges Street (der heutigen Catherine Street) und Russell Street liegt The Rose, das Konkurrenzhaus des Shakespear’s Head; ein unzüchtiger und schändlicher Ort, wo sich »Posiermädchen« nackt auf den Tischen räkeln. Hier fliegen Gläser und Bierkrüge durch die Luft, Menschen werden Augen ausgeschlagen und die Nasen gebrochen. Gewiss kein Hort der Sicherheit, doch das sind auch die nächtlichen Straßen nicht. Die großen Verkehrsadern wie die engen Gassen sind das Revier der Wegelagerer und Straßenräuber. Selbst die engelsgesichtigen jungen Fackelträger, die anbieten, den Nachtschwärmern heimzuleuchten, stecken oft mit den Räubern unter einer Decke. In diesem Teil Londons versucht man mit allen erdenklichen Mitteln zu bekommen, was man kriegen kann. Mit der Welt von Covent Garden vertraute Gentlemen behalten ihre Uhr immer im Auge und eine Hand an der Geldbörse, wenn sie sich der Dienste der dortigen Damen erfreuen.
So überraschend es scheinen mag: Direkt im Herzen dieser Sündenmeile, eingekeilt zwischen einem Bordell und einem Schankhaus, hat der Arm des Gesetzes sein lokales Hauptquartier. Hier herrscht Richter John Fielding, bis zu dessen Tod im Jahr 1754 an der Seite seines federführenden Bruders Henry. Eine Polizei, wie wir sie kennen, gibt es nicht. Die Nachtwächter sind zu kaum etwas nütze und leicht zu bestechen. Dennoch ist Richter Fielding entschlossen, dem Verbrechen die Stirn zu bieten, und hat eine Truppe von acht Männern eingestellt – die Sondereinsatzgruppe der »Bow Street Runners« –, um Gesetzesbrechern das Handwerk zu legen. Bisher vermochten sie noch nicht viel zu ändern. Covent Garden ist ein Paradies für Schurken.
Die ursprünglichen Bewohner hätten sich die Zukunft ihres Viertels sicher etwas anders vorgestellt. In den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts hatte der vierte Earl of Bedford den Architekten Inigo Jones damit beauftragt, eine vornehme Piazza im italienischen Stil anzulegen. Anfänglich hatte hier der höhere Adel seine Londoner Wohnungen, aber nach der Eröffnung des Theatre Royal 1663 begann es mit der ganzen Gegend bergab zu gehen. Das stets sittenlose Theater und seine Schauspielertruppen brachten den Pöbel, und der Pöbel liebte das Trinken und Huren, zumindest erzählt man sich’s so. Gleichwohl bestätigt schon ein kurzer Blick über den Platz und die umliegenden Straßen, dass auch der Adel die Ausschweifung genauso liebt wie jedermann sonst. Ohne Frage war es nicht zuletzt dessen Geld, was Covent Garden zu seinem Wohlstand verhalf. Als der Obst- und Gemüsemarkt 1670 seine Stände aufschlug, florierten die Kuppelgeschäfte der Frischfleischlieferanten bereits.
So wie der Morgen in Covent Garden Marktzeit ist, ist die Nacht die Zeit, um andere Waren anzupreisen. Wenn am Abend die Lampen angezündet werden und die Bogenfenster der Kaschemmen und Kaffeehäuser in schummrigem Orange erglühen, zeigt der Platz sein geschminktes Gesicht. Man hört Lachen und Johlen, es werden Streiche gespielt und Hiebe ausgeteilt. Wände und Dielenbretter erbeben unter den Regungen hastiger Begattung. Kinder werden gezeugt und beim Kartenspiel Vermögen verloren. Männer wie Frauen erliegen den Verlockungen von Gin, Wein, Bier und Branntwein. Manche sacken unter die Tische, andere erbrechen sich auf ihre Kleider. Vielen werden die Taschen geplündert. Das Streben nach Vergnügen ist der größte Gleichmacher der Gesellschaft, bringt die Söhne von Herzögen mit den Töchtern von Schneidern und mit brotlosen Künstlern zum Zechen zusammen. Die wohlhabenden Kaufleute der Stadt, Offiziere, Anwälte, Maler und gemeine Kriminelle begegnen sich frei und ungezwungen. Bedenkt man, dass Großbritannien ganz und gar vom Unterschied der Klassen bestimmt ist, passiert in Covent Garden wahrhaft Erstaunliches. Das finden auch diejenigen, die selbst Zeuge davon werden, wie die folgenden Zeilen eines anonymen Dichters belegen:
Here buskin’d Beaus in rich lac’d Cloathes
Like Lords and Squires do bluster;
Bards, Quacks and Cits, Knaves, Fools and Wits
An Odd surprising Cluster.
Gestiefelte Gecken, die in prächtigen Schnürkleidern stecken,
Protzen hier, als wär’n sie Baron oder Gutsherr vom Lande;
Philister, Medikaster, Dichtmeister; Schurken, Narren und Schöngeister
Eine erstaunenswürd’ge, gar sonderliche Bande.
Die eine oder andere Berühmtheit des 18. Jahrhunderts verleiht dieser »erstaunenswürd’gen, gar sonderlichen Bande« einen zusätzlichen Glanz. Im Bedford Coffee House oder in Charles Macklins Piazza Coffee House kann man schon mal David Garrick begegnen, dem prominentesten Schauspieler seiner Zeit, tief ins Gespräch vertieft mit Dr. Samuel Johnson, dem gefeierten Lexikografen. Auch Samuel Foote lässt sich blicken, einen Pulk ambitionierter Aktricen und Stückeschreiber im Schlepptau, unter ihnen zweifellos auch Samuel Derrick – doch von dessen Geschicken später mehr. Sobald er mit Foote fertig ist, wird Derricks nächste Anlaufstelle dann höchstwahrscheinlich Ned Shooter sein, den jemand Arm in Arm mit der Tänzerin Nancy Dawson gesichtet hat. Es gibt noch keine Paparazzi mit langen Teleobjektiven auf der Jagd nach dem perfekten Schnappschuss – was für ein leichtes Leben müssen die damaligen Superstars doch gehabt haben!
An so einem Abend auf der Piazza könnte dem Beobachter auch auffallen, dass die Zahl der Männer die der Frauen bei weitem übersteigt. Echte Damen sind hier zu so später Stunde überhaupt nicht zu finden. Selbst diejenigen, die in ihren eleganten Hüten und ihrem glitzernden Schmuck einen durchaus ehrenwerten Eindruck machen, sind nur die erfolgreicheren Vertreterinnen der »gefallenen Schwestern«. Die Gesellschaft hat viele Namen für jene befleckten Damen, die ihre kostbare Tugend und ihre körperliche Unantastbarkeit geopfert haben, um den Männern der Nation dienstbar zu sein. Man kennt sie unter anderem als »Straßenmädchen«, als »Dienerinnen der Cypria« oder der »Aphrodite«, als »die Unreinen«, als »leichte Mädchen«, »Thaïse«, »Kokotten«, »Halbweltdamen«, »Kurtisanen« und »Hetären«, als »Lohndirnen« und »Freudenmädchen«, als »Venuspriesterinnen«, »Nymphen«, »Schlumpen«, »Vetteln«, »Födeln«, »Luppen«, »Mähren«, »Zaupen« und »Buhlerinnen«, als »gefallene Frauen«, »Metzen« und »Schandhuren«. Sie stammen aus den unterschiedlichsten Orten und Verhältnissen. Manche wurden in die Prostitution hineingeboren, so wie Charlotte Hayes, eine Venusgeweihte, die in diesem Buch eine große Rolle spielen wird. Andere beginnen sozusagen als Seiteneinsteigerinnen: Waisenkinder, verführte Dienstmädchen, arme Näherinnen, ausgebildete Putzmacherinnen, vielversprechende Nachwuchsschauspielerinnen, Vergewaltigungsopfer. Sie kommen aus London und von überall sonst, aus den entfernteren Grafschaften und aus Schottland und Irland. Selbst von den amerikanischen Kolonien oder den westindischen Inseln her wurden einige an die englischen Küsten gespült, andere hat es von Frankreich, Italien, Deutschland oder den Niederlanden in die britische Metropole verschlagen. In der Einwandererstadt London bilden sie einen bunten Querschnitt der verschiedenen Rassen und Völker.
Entgegen der landläufigen Meinung haben viele der in Covent Garden arbeitenden Damen ihr Leben nicht an den Hungerpfoten der Armut saugend begonnen. Im 18. Jahrhundert ist der Lebensstandard des Einzelnen nichts Fixes, da gibt es keine Garantien. Man kennt keine Sozialhilfe, keine Arbeiterrenten, kein Arbeitslosengeld, keine Zahlungen im Fall der Erwerbsunfähigkeit. Wer seine Arbeit verliert, hat nichts zu beißen. Wer essen will, muss arbeiten bis an den Tod. Nicht einmal Gesellschaftsreformer hätten vom Konzept der nationalen Gesundheitsfürsorge zu träumen gewagt. Es ist eine schwierige Zeit für die Bewohner von London: Auf allen Ebenen – im Wirtschaftlichen, Gesellschaftlichen, Politischen – vollzieht sich ein Wandel. Britannien steht kurz davor, ein altes Imperium in Amerika zu verlieren und in Indien ein neues zu gewinnen. Rohstoffe strömen ins Land, und die Auslagen der Läden sind mit immer mehr nützlichen und interessanten Gütern dekoriert. Monat für Monat scheinen neue Gebäude, Straßen und Plätze aus dem Boden aufzutauchen. Es ist, als liege das Geld auf der Straße, aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Die demütigenden Auflistungen der Bankrotteure in den Zeitungen erzählen eine andere Geschichte. In London wimmelt es von Spekulanten und Schuldnern, und nicht wenige Mittelstandsfamilien treibt die Last der Darlehensrückzahlungen in den Ruin. Dem Druck, immer das Neueste zu haben, kann sich keiner entziehen. Jedermann will in den schönsten Kleidern prunken und sein Haus mit Statussymbolen ausstaffieren, aber schon die Mietkosten zu bestreiten, kann schwer werden, und unversehens klettern die eigenen Schulden in astronomische Höhen. (Könnte vertraut klingen, nicht?)
Dem Mittelstand anzugehören, ist zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein relativ neues Phänomen, und noch bilden diese Leute eine seltsam zwiegesichtige Gesellschaftsgruppe. Die ganz oben sind oft so reich wie der Adel. Die in der Mitte und unten – kleine Ladeninhaber, Handwerksmeister, Apotheker, Verleger, Schullehrer, der niedrige Klerus – müssen die meiste Zeit mächtig strampeln, um nicht den Anschluss zu verlieren. Diese »vom sozialen Abstieg gefährdete Mittelschicht« und jene Familien, die einen sehr schwankenden Platz am unteren Ende der Stufenleiter des Erfolgs einnehmen, treten so manche aus dem Kreis ihrer Töchter an die exklusiveren Bordelle der Hauptstadt ab. Mangelnde finanzielle Sicherheit bedeutet, dass ein schlechtes Handelsjahr oder auch ein Brand, ein Rechtsstreit, eine unbesonnene Nacht am Spieltisch den Ruin bringen kann. Wenn »The Fleet«, Londons großes Schuldgefängnis, winkt, wandern das Porzellan, die Tischwäsche, die feinen Seidenwaren und allerlei Möbelstücke häufig ins Pfandleihhaus. Eine Familie, die zuvor den Luxus eines eigenen Hauses genossen hat, muss nun vielleicht in zwei Zimmern zur Miete unterkommen. In einer solchen Talsohle bedarf es oftmals nur eines kleinen Fehltritts zum Abgleiten in die Kriminalität. Möglich, dass diese unglücklichen Leute im Folgejahr ihr Vermögen wiedergewinnen, ihre Güter zurückholen und wieder in ihr Reihenhaus einziehen. Ebenso möglich aber auch, dass sie immer tiefer in das Heer der Armen hinein absinken.
Es gibt im 18. Jahrhundert nichts Schlimmeres, als arm zu sein. Wir zartfühlenden modernen Menschen vermögen uns, wenn wir nicht gerade Gelegenheit hatten, bestimmte Teile Asiens, Afrikas oder Südamerikas zu bereisen, die harten Realitäten eines Lebens im Stande der Armut kaum auszumalen. Wirkliche Armut bedeutet, immerzu gegen die durch Unterernährung begünstigten Krankheiten anzukämpfen. Sie bedeutet ständigen Hunger, körperliches Unbehagen und entsetzliche Lebensbedingungen. Sie bedeutet, das Bett nicht nur mit anderen ungewaschenen Menschen zu teilen, sondern auch mit Ratten, Mäusen, Läusen, Flöhen und Wanzen; bedeutet, die schneidende Kälte durch zerlumpte Kleidung zu fühlen und nicht einmal Unterwäsche zum Wechseln zu haben. Im London des 18. Jahrhunderts arm zu sein, heißt, nichts zu sagen zu haben, nicht wählen zu können, praktisch keinerlei rechtlichen Schutz zu genießen und niemals wahre Gerechtigkeit zu finden. Und ganz besonders heißt es, von den Höhergestellten gefürchtet und geschmäht zu werden. Von den einen wird man geringschätzig behandelt, als sei man kein menschliches Wesen, von den anderen erst gar nicht beachtet. Wer arm ist, kann leicht Opfer der Gewalt werden, und vermutlich sucht er seine arme Seele mit großen Mengen von billigem, oft gepanschtem Gin zu betäuben. Es ist eine menschenunwürdige, jämmerliche Existenz, in die sich nicht jeder willig ergibt. Harte Arbeit könnte helfen, sich aus diesem Sumpf herauszuziehen, aber die meisten verfügbaren Stellen sind schlecht bezahlt. Ein Leben in Schande und Verbrechen bietet stets eine praktikable Alternative. Die Prostitution hilft vielen Frauen; dank ihrer können manche sogar bis in die höchsten Gesellschaftskreise aufsteigen. Taschendiebstahl, Raub, Einbruch, Hehlerei, Fälschung und das Verkuppeln wollüstiger Männer mit käuflichen Damen können ebenfalls recht profitabel sein, und ein Gleiches gilt fürs Falschspielen. Hat man das Pech, aus den untersten Schichten Londons zu stammen, bieten solche Betätigungen oft die einzige Hoffnung auf ein Überleben in dieser gnadenlosen Stadt.
Die Geschichte der Harris’s List of Covent Garden Ladies ist auch die Geschichte dieser Menschen, die im 18. Jahrhundert an den Rändern der Gesellschaft herumgeistern. An der Leiter des sozialen Aufstiegs finden sie stets nur einen schwankenden Halt, und in den »normalen« Kreisen der ehrbaren Gesellschaft werden sie nie wirklich akzeptiert. Unsere Hauptfiguren John Harrison (alias Jack Harris), Samuel Derrick und Charlotte Hayes sind Repräsentanten dieses Milieus. Hier hat das Schicksal für uns eine interessante Auswahl aus den kleinen Chargenspielern (man könnte auch sagen: den Ausgestoßenen) der Geschichte zu einem Lehrstück versammelt – der abgebrühte Kriminelle, der unbeirrte, aber verarmte Poet und die Tochter einer Bordellwirtin. Wenn wir uns ihre Lebensgeschichte vor Augen führen, dürfen wir nicht vergessen, dass ihre Charaktere genauso das Produkt ihrer Zeit sind wie wir das der unseren. Ihre Werturteile und Voreingenommenheiten entstammen einer Epoche, die weit weniger nachsichtig war als die unsere. Man sollte nicht in den gleichen Fehler verfallen, zu dem die Moralisten jener Ära neigten, und glauben, dass es ihre Schlechtigkeit war, was sie zu ihrem Handeln trieb – das würde bedenklich an jene einfältige Beschränktheit erinnern, die damals selbst kleine Taschendiebe an den Galgen von Tyburn brachte. Wir haben nun einen ersten Einblick in die Welt unserer Protagonisten erhalten, mit ihren unsäglichen Schwierigkeiten, den Grausamkeiten, Missständen und krassen Ungleichheiten. Im Herzen all dieser Menschen pochte ein unbändiges Verlangen, keine solchen Qualen dulden zu müssen, auch wenn dies paradoxerweise das Leid anderer bedeutete.
Vorneweg noch ein warnender Hinweis: Dies ist keine Geschichte, in der die Missetäter bestraft werden und die Ausgebeuteten Genugtuung erfahren. Wir haben es hier nicht mit dem sicheren, »vergoldeten« georgianischen Zeitalter der Privilegierten zu tun, wie es Jane Austen beschreibt. Sie und ihresgleichen blicken aus dem Inneren der Gesellschaft nach außen, und ihre Blicke reichen nicht bis in die dunklen Winkel einer ihnen fremden Welt hinein. Die aberwitzigen Biografien der Harris’s List können mit keiner erbaulichen Moral aufwarten, und auch zwischen den Deckeln dieses Buches wird sich nichts dergleichen finden lassen. Doch für ihre richtig guten Storys hält die Geschichte eben auch nur sehr selten solch eine bequeme Moral parat.