Читать книгу Covent Garden Ladies: Ein Almanach für den Herrn von Welt - Хэлли Рубенхолд, Hallie Rubenhold - Страница 5
Kapitel 2 Die Legende von Jack Harris
ОглавлениеGeboren wurde Jack Harris just in der Wiege der Illusionen: zwischen zwei Theaterhäusern. Nichts war so, wie es schien in Covent Garden, wo Schauspieler die Identität imaginärer Charaktere annahmen und maskierte Männer und Frauen anonym durch die vergnügungssüchtigen Scharen flanierten. Vor einer solchen Kulisse war es leicht, zu verschwinden oder ein anderer zu werden. Bis er stolz und leichtsinnig wurde, hatte sich Jack Harris nie direkt in den Glanz des Rampenlichts gestellt; nie hatte er jemanden ihn und seine Geschichte wirklich kennenlernen lassen. Er hatte sich gut versteckt gehalten, und das wenige, was er der Welt über sich enthüllte, war erstunken und erlogen.
Nach seiner aufsehenerregenden Verhaftung 1758 wollten plötzlich all jene, die ihn immer nur als einen vor den Kulissen von Covent Garden hin und her huschenden Schatten wahrgenommen hatten, seine Geschichte hören. In all den Jahren zuvor hatte zwar nie jemand ein sonderliches Interesse an ihm gezeigt, doch nun beschloss er, mit der Hilfe eines Schmierenjournalisten seine Geschichte nachzuerzählen und eine Erklärung für seine Verderbtheit zu liefern:
Schon lange bevor seine Eltern ihn in die Welt setzten, habe das Schicksal seine Familie zum Leiden ausersehen. Sein Vater, so gibt er an, stamme aus »einer angesehenen Familie aus Somersetshire«, habe jedoch das Unglück gehabt, als jüngerer Sohn ohne Erbe und mit mageren Aussichten geboren zu werden. Mit Harris’ Mutter schließt er eine Liebesehe, die denn auch prompt die Missbilligung seiner wohlanständigen Verwandten findet. Ohne Geld oder Posten ganz auf sich allein angewiesen, macht sich das junge Paar auf den Weg nach London, wo Harris senior durch »vielerlei Versprechungen großer Männer Ämter, Pfründe und Pensionen« in Aussicht gestellt worden sind. Er glaubt, als ein Spross der Landeigentümerklasse genügend Verbündete in der Regierung zu haben, auf deren Unterstützung er zählen könne. In der Hauptstadt angekommen, muss er jedoch leider feststellen, dass ihm die Türen verschlossen bleiben und dass Männer, die ihn zuvor ihrer Gunst versicherten, jetzt nur mit den Schultern zucken und ihm viel Glück bei den anderen wünschen. Als dann um 1725 Jack auf die Welt kommt, sind die Rücklagen der jungen Familie bald aufgebraucht. Um sich über Wasser zu halten, hat sein Vater keine andere Wahl, als zur Feder zu greifen. Befeuert durch seinen Zorn und das Gefühl, von jenen, die ihn mit falschen Hoffnungen nach London lockten, verraten worden zu sein, macht sich Harris senior in einer Serie wüster Beschimpfungen Luft und verabsäumt nicht, »ebenjene zu schmähen, die seine eigene Schmach so sehr befördert« haben. Von Geburt her ein Whig, beginnt Harris’ Vater nun auch, seine politische Positionierung zu überdenken. Wenn seine bisherigen Verbündeten unter der Aristokratie ihn nicht wollten, würde er eben die Seiten wechseln und sie aus den Reihen der Opposition attackieren. Von seinen angestammten Gesellschaftskreisen gemieden, macht sich Harris senior »unter den antiministeriellen Schreibern jener Zeit bald einen vielbeachteten Namen, und die Landpartei reihte ihn unter ihr Banner«.
Wiewohl Verleumdung durch strenge Gesetze geahndet wird, spottet Harris’ Vater der Gefahren einer erbitterten Gegnerschaft zum Kabinettsvorsitzenden Sir Robert Walpole. Sobald er einmal seine Feder gespitzt und Blut geleckt hat, fällt es ihm schwer, sie wieder niederzulegen, besonders da seine feindseligen Ergüsse ihm nun endlich Geld und die Unterstützung einiger vermögender Hintermänner einbringen. Der Horizont scheint sich für die Familie Harris wieder aufzuhellen, die nun in Erwägung zieht, ihrem ältesten Sohn eine standesgemäße Erziehung zukommen zu lassen. Dann aber – Vater Harris steht »bereits im Begriff, mich an die Westminster-Schule zu schicken« – nehmen die Ereignisse eine eher unvorhergesehene schlimme Wendung: Harris senior wird verhaftet.
Harris’ Vater hatte den fatalen Fehler begangen, sich Nathaniel Mist anzuschließen, einem berüchtigten Pfahl im Fleische des Establishments. Mist’s Weekly Journal, eine für ihr unverfrorenes, laut ausposauntes Jakobitentum bekannte verleumderische Publikation, rollte so lange von einer versteckten Druckerpresse, bis die Behörden sie 1728 schließlich aufspürten und kurz und klein schlugen. Auch wenn sie ihr gehöriges Pensum im Gefängnis und am Pranger zu leisten haben, setzen Mist und seine zahlreichen Kollegen die Veröffentlichung ihrer Schmähschriften fort, nun unter dem Mantel des Fog’s Weekly Journal. Eine Reihe von Razzien macht bald jedoch auch diesem Unternehmen ein Ende. Zu der Handvoll regierungsfeindlicher Schreiber, die im Zuge der Verhaftungen dingfest gemacht werden, gehört auch Harris’ Vater.
Wieder einmal erhofft sich Harris senior, nun in einem kleinen Gefängnisloch in der Nachbarschaft eingesperrt, in seiner Notlage Hilfe von seinen Freunden und politischen Verbündeten, doch keiner kommt. Jack erzählt: »Da niemand die Kaution stellte, blieb er mehrere Wochen dort in der Zelle. Kaum hatten sie von seinem Missgeschick Nachricht erhalten, ließen ihn all seine Genossen sogleich im Stich.« Sein Vater sei bald in eine unheilbar tiefe Depression gesunken. Und es wird alles nur schlimmer. Da die Behörden sein Verbrechen als sehr schwerwiegend betrachten, wird Harris senior ins King’s-Bench-Gefängnis verlegt und »zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren verurteilt«. Darüber hinaus wird »eine Geldstrafe von fünfhundert Pfund gegen ihn verhängt«, für Menschen in der Situation der Familie Harris eine erdrückend hohe Summe. Während dieser Zeit, Mitte der dreißiger Jahre, stattet Jack seinem Vater regelmäßig Besuche ab, »obzwar sein Wärter vorwandte, ausdrückliche Weisung erhalten zu haben, niemanden zu ihm zu lassen«. Rückblickend spricht Jack von der tiefen Wirkung, die es auf ihn gemacht habe, seinen Vater in einer so niedergeschlagenen und mitgenommenen Verfassung zu erleben. Harris senior war ein gebrochener Mann:
Sein Unglück hatte sein natürliches Gemüt zu einem solchen Grade verbittert, dass er zu einem ausgemachten Menschenfeinde geriet. Die schändliche Behandlung, die er von beiden Seiten erfahren, hatte ihm den größten Abscheu gegenüber allen eingeflößt, und er schien nun ob seiner Gefangenschaft vor Kummer zu vergehn, allein weil es ihm nun an jeder Gelegenheit gebrach, die Welt so zu hintergehen, wie diese zuvor ihn hintergangen.
Betrogen, entkräftet und krank, legt Harris senior seinem Sohn dringlich ans Herz, aus den Fehlern seines Vaters zu lernen und sich nicht an das Streben nach einem ehrlichen Leben zu verschwenden. Seine letzte väterliche Geste besteht darin, nach der Feder zu greifen, und seine Ratschläge zu Papier zu bringen. In seinem »Wholesome Advice to His Son for His Conduct in Life« (Hochnützlicher Fingerzeig für seinen Sohn, dessen Lebens-Conduite betreffend) fasst er all jene Gedanken zusammen, die er seinem Kinde bei ihrem Zusammensein in der Zelle vorgetragen hat. Da er kein Vermögen sein Eigen nenne, habe eine konventionelle Erziehung für ihn keinen Sinn, gemahnt Harris senior seinen Jungen. Zumindest habe er selbst die Erfahrung gemacht, dass es, wolle man »zu Geld kommen, kein größeres Hindernis« gebe, »als Bildung«. »Nein, mein Sohn«, fährt er fort, »ich habe dafür Sorge getragen, dich für ein ganz anderes Geschäft vorzubereiten«:
Willst du Reichtum erlangen, mein Sohn – studiere die menschlichen Leidenschaften; benutze sie. Strebt ein Mann ehrgeizig nach Ruhm – setze Himmel und Erde in Bewegung, um aus ihm den größten Patrioten aller Zeiten zu machen; aber sichere dir deine Belohnung, bevor du seiner Reputation den tödlichen Streich versetzt. Liebt er das Huren – so ist die Kuppelei ein blühendes Geschäft. Sie muss ein rechtschaffenes Gewerbe sein, sonst würde es so mancher, der es heute ausübt, nicht betreiben. Will er einen Sitz im Parlament – stimme für ihn, besteche für ihn, schwöre für ihn; nichts von alledem ist von Übel. Ein allzu gewissenhafter Mann mag Einwände gegen einen Eid haben, weil er falsch ist; doch könnte er ja auch wahr sein. Lies ihn nicht, und dann wirst du das auch nicht wissen; auch nehmen sie ihn dir so schnell ab, dass du ihn nicht verstehst, selbst wenn du es eigentlich könntest. Wenn dein Gönner die Karten liebt, übe die Geschicklichkeit deiner Hand und betrüge, was du kannst. Sei vorsichtig, lass dich nicht ertappen, und wenn es doch geschieht, so fluche und tobe, fordere zum Kampf und töte, dann ist deine Ehre wiederhergestellt. Dies wird jeden Tag sehr erfolgreich so gehalten; nichts wäscht den Schandfleck der Niedertracht besser ab, als das Blut des Mannes, gegen den du dich versündigt hast! Lass die Gewissenszweifel nicht die Überhand gewinnen. Will man es in der Welt zu etwas bringen, darf man von jenem Gut kein Körnchen im Leibe haben.
Auch wenn er über die Empfehlungen seines Vaters zunächst entsetzt ist, lernt Harris schließlich doch, die Logik hinter ihnen zu begreifen. Als ihm dieses Vermächtnis seines Vaters nach dessen Tod ausgehändigt wird, geht ihm die Eindringlichkeit seiner Botschaft tief zu Herzen.
Bei seinem Ableben hat Harris senior seiner Familie nichts als die Aussicht auf den Hungertod hinterlassen. Er hat auch die Saat des Lasters in seinen jüngsten Sohn gepflanzt. Gewappnet mit des Vaters Ratschlägen, die er »als mein einziges persönliches Besitztum« betrachtet, stürzt er sich kopfüber in eine kriminelle Karriere. Um das Vertrauen der Gesellschaft zu gewinnen, besteht sein erster Schritt darin, sich eine überzeugende Erscheinung zuzulegen, mit der passenden Kleidung und dem richtigen Auftreten, und in die Rolle eines ehrenwerten Gentlemans zu schlüpfen. Hierbei sind »Unkunde und Unverschämtheit, die ja fürwahr die Errungenschaften des modernen Menschen erst so groß machen, die einzigen Ansprüche auf diesen Rang«, die er geltend machen kann. Leider bedarf es, wie er einräumt, einiger minder erfolgreicher Anläufe, bis er seine wahre Berufung entdeckt. Zuerst trifft er Anstalten, ein Politrabauke und Beutelschneider zu werden, der vom Eintreiben von Bestechungsgeldern lebt. Für diesen Zweck habe er »ein Haus in Westminster bezogen, in der Hoffnung, durch Wahlen mein Vermögen zu machen. Da aber zunächst keine allgemeinem Wahlen folgten, musste ich, nebst meinem Hause, all meine diesbezüglichen Hoffnungen aufgeben.« Daraufhin versucht Harris sein Glück als Falschspieler und übt sich in der Kunst, wie man »beim Spiel betrügt«, muss aber zu seinem großen Bedauern feststellen, dass es ihm »wenig fruchtet«, da er »im Rechnen unbegabt und in den Zahlen nicht firm« ist. Kurze Zeit später erkennt er dann irgendwann, wo seine eigentlichen Begabungen liegen. Dienstfertig gibt das Schicksal seinem vorbestimmten Lebensweg endlich die seiner Persönlichkeit entgegenkommende Wende, so dass ihm sein wahres Ziel in den Blick tritt. »Die Natur«, verkündet er rundheraus, »hat mich zum Kuppler geschaffen.«
So weit Harris’ traurige Geschichte. Jene, die sie nach ihrem Erscheinen im Rahmen der Memoirs of the Celebrated Miss Fanny Murray gelesen haben, dürften dem aufrichtig-ernsten Tonfall des Erzählers sauber auf den Leim gegangen sein. Es war eine Geschichte, die gut zur seiner angenommenen Identität passte, seiner Legende Leben und Substanz gab. Da Jack Harris es freilich generell vorzog, ein unauffälliges Leben zu führen, er das helle Licht der Öffentlichkeit scheute und sich lieber im fahlgelben Kerzenschein der Schankhäuser aufhielt, waren diese wenigen Schnipsel alles, was die meisten seiner Kunden je über ihn erfahren haben. Nur einige wenige kannten die Wahrheit. 1779, zwanzig Jahre nach Drucklegung von Jack Harris’ Lebensbeichte, entschloss sich ein altes und gereiftes Mitglied des libertinen Hellfire-Clubs die Nebel der Ungewissheit ein für alle Mal zu zerstreuen. In Nocturnal Revels, seiner Chronik der Londoner Dirnenhalbwelt, geht er mit der Legende ins Gericht: »Ein Mann namens Harris (wie er genannt wird), ein Kuppler, existiert nicht, und es hat ihn vermutlich überhaupt nie gegeben.« Er hatte natürlich recht. Harris hieß eigentlich John Harrison, und seine Lebensgeschichte unterscheidet sich beträchtlich von jener, die er um seinen Decknamen herum erfand.
Anders als Harris verbrachte Harrison eine ausgesprochen unspektakuläre Jugend. Geboren wurde er als Sohn von George Harrison, Inhaber in spe der Bedford Head Tavern in der Maiden Lane, einer Straße, die die Randbezirke des Covent-Garden-Areals gerade noch streifte. Auch wenn sich John Harrison schwerlich brüsten konnte, aus einer Familie von Gutsbesitzern zu stammen, gibt es doch einige wenige entfernte Parallelen zwischen den beiden Lebensgeschichten. So gehörte etwa auch die Familie Harrison, wie die von Harris, zur Zeit von Johns Geburt offenbar noch nicht zur Kirchengemeinde von St. Paul’s, Covent Garden. Als das Bedford Head (eines von mehreren Bierhäusern dieses Namens im Umkreis) 1740 seine Türen öffnete und Harrison senior dessen Eigentümer wurde, muss John bereits ein kleines Kind gewesen sein. Die Schenke mit ihrer frisch geschnitzten hölzernen Innenausstattung war damals ein nagelneues Lokal und noch nicht durch beißenden Kohlenrauch, den säuerlichen Gestank von Alkohol und die Ausdünstungen menschlicher Körper verunreinigt. Für einen Wirt war kaum ein Ort so gut zur Eröffnung eines Gasthauses geeignet wie Covent Garden. Hier konnte er das frei zirkulierende Reservoir sorglos verschleuderter Lohnzahlungen und geerbten Vermögens anzapfen und für sich selbst ein sauber erworbenes Einkommen erwirtschaften. Da Wirtshäuser im 18. Jahrhundert in der Regel als Familienbetriebe geführt wurden, ist es gut möglich, dass die Harrisons bereits seit Generationen im Zapfgewerbe tätig waren und auch schon zuvor ihr Geschäft irgendwo im näheren oder weiteren Umkreis des Platzes betrieben hatten. Doch wo immer sie auch lagen, die Londoner Gasthäuser waren zumeist sicher keine ideale Kinderstube, um rechtliebende junge Menschen mit einem ausgeprägten Gewissen heranzuziehen. In Schmutz und Schmuddel der Schankstube wird der junge John Harrison schon durch eigene Beobachtung viel über die gewalttätige und wollüstige Welt gelernt haben, in die er da hineingeboren war.
Als Kind eines Kneipenbesitzers musste er sicher auch früh anfangen, im Betrieb mitzuhelfen. Seine erste klare Funktion im Bedford Head wird die eines Bierjungen oder einer allgemeinen Aushilfe gewesen sein – jemand, der den Gästen ihre Getränke bringt und leere Krüge und Geschirr wegträgt. Da Lesen, Schreiben und Rechnen ebenfalls als zum Betreiben eines Gasthauses erforderliche Fähigkeiten betrachtet wurden, erhielt ein Wirtssohn auch eine gewisse Schulbildung, höchstwahrscheinlich durch eine nahe gelegene Armenschule. Sein wirklich nützliches Wissen eignete er sich jedoch vorwiegend an, indem er seinen Vater oder irgendein anderes älteres männliches Familienmitglied bei der Erledigung der unerlässlichen Aufgaben ihres Gewerbes begleitete. Wenn er nicht am Zapfhahn aushalf oder seine Einnahmen zählte, wird George Harrison seinen Betrieb aus dem Hintergrund überwacht haben. Er beaufsichtigte die Arbeit der Kellner, die sich, mit Bier beladen, von Tisch zu Tisch plagten, und verdächtige Subjekte behielt er sorgsam in seinem prüfend zusammengekniffenen Auge. Sobald er das entsprechende Alter erreicht hatte, konnte John seinem Vater in diesen Aufgaben assistieren, um schließlich als Vollmitglied in die Reihen des treusorgenden männlichen Bedford-Head-Bedienpersonals aufgenommen zu werden. Als einfacher Tischkellner wird der junge Harrison gegenüber der Kundschaft seines Vaters die Rolle des beflissenen Dieners eingenommen haben. Wenn er sich alle Mühe gab, ihr Verlangen nach Speis und Trank zu befriedigen, konnte er auch eine Belohnung in Form von Trinkgeldern erwarten und sich ein paar Pennys verdienen, indem er den feinen Herren ehrerbietig Teller voll Fleisch und mit Portwein gefüllte Gläser auftrug. Doch wird er bald gelernt haben, dass er mit der Befriedigung ihrer weniger legalen Wünsche viel erklecklichere Summen einheimsen konnte.
Dass die Bedford Head Tavern ein Familienbetrieb war, bedeutet nicht, dass sie auch ein ehrbares Haus war. Nichts weist darauf hin, dass sie sich eines besseren Leumunds erfreute als die Etablissements nebenan; all jene berüchtigten Kaschemmen, die die Maiden Lane verschandelten. Nur ein paar Türen vom Bedford Head die Straße hinunter schwärte eine stinkende Pestbeule von einem Schankhaus: Bob Derrys Cider Cellar. Bob Derry, seine Frau und Tochter nebst Schwiegersohn hatten ihre liebe Not, den in ihre widerliche Lasterhöhle ein und aus strömenden dichten Verkehr der vom Trunk getriebenen Zecher zu regulieren. Räumlichkeiten und Ausstattung von Derrys »Apfelweinkeller« waren, »wie der Name bereits nahelegt«, sehr »roh und einfach«, vermerkte John Timbs, ein Chronist der Gastronomiegeschichte. Derrys Haus war rund um die Uhr geöffnet und gewährte dem Bodensatz der Nachtschwärmer Asyl: all jenen, die bereits zu betrunken waren, um noch gehen oder richtig sprechen zu können. Von Derry geflissentlich ignoriert, machten hier Taschendiebe und syphilitische Straßendirnen ein Mordsgeschäft. Wie Samuel Derrick 1761 schrieb, war das Haus dafür bekannt, dass es dort immer wieder das eine oder andere Problemchen mit tätlichen Auseinandersetzungen gab – brutale Spektakel, wo Männer ihre Rivalen verprügelten oder die Schönen der Nacht sich gegenseitig die Gesichter zerkratzten. Die Kundschaft von Derrys Cider Cellar war nicht gerade dafür bekannt, bei einem guten Kampf dazwischenzugehen; sie gehörte eher zu jenem Schlag, der über den Ausgang Wetten abschließt. Einmal ging die Sache mit dem Doppelmord an zwei Trinkern aus, die nach einer erbitterten Auseinandersetzung grausam erstochen wurden.
Zwar stellen die Annalen von Covent Garden das Bedford Head der berüchtigten Lasterhöhle nebenan an keiner Stelle ebenbürtig an die Seite, dennoch wird man dieses Haus kaum als einen Hort der Gesetzmäßigkeit betrachtet haben. Die meisten der Etablissements im Umkreis dürften auf die eine oder andere Weise in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sein, ob sie nun Huren erlaubten, offen Freier anzuwerben (eine allgemein akzeptierte Praxis), Hehlerei trieben oder stadtbekannte Kriminelle vor den Wachen versteckten. Häufig entfalteten die Eigentümer oder deren Personal auch noch weit schlimmere kriminelle Aktivitäten, und Kellerräume oder Obergeschosse wurden zum Schauplatz von Missetaten wie Diebstahl, Erpressung, betrügerische Münzbeschneidung, Falschmünzerei, von Misshandlung und Vergewaltigungen. In einem Milieu, wo sich das Anständige und das Unerlaubte zu einem unauflöslichen Gewebe verflochten hatten, muss Harrison bereits in die Welt der Gesetzesbrecher eingeführt worden sein, ehe er überhaupt in der Lage war, zwischen beiden Seiten zu unterscheiden. Da Kellnern und Kuppeln praktisch nicht voneinander zu trennen waren, ist es auch wenig wahrscheinlich, dass George Harrison seinen Sohn davon abzuhalten suchte, sein Geld mit dem »Vermitteln von Bekanntschaften« zu verdienen. Ähnlich wie im Fall seines Alter Egos dürfte vielmehr neben den äußeren Umständen auch die ermunternde väterliche Zusprache John Harrison zum Zuhälter gemacht haben.
Im 18. Jahrhundert waren das städtische Wirtshaus und sein Verwandter, das Kaffeehaus, in erster Linie Domänen der Männer. In ihrer Bestimmung waren sie sich bisweilen sehr ähnlich, dienten als Orte der gesellschaftlichen Begegnung und als ein Forum, wo Männer von Rang miteinander Geschäftliches und Neuigkeiten besprachen. Bestimmte Berufsstände bevorzugten oft bestimmte Örtlichkeiten, trotzdem traf hier im Allgemeinen eine bunte Bandbreite von Berufen und Gesellschaftsschichten auf engem Raum zusammen. Auch wenn die Hauptattraktion der Kaffeehäuser das von ihnen feilgebotene koffeinhaltige Modegetränk war, gab es hier, wie in den Cafés auf dem Kontinent, doch auch Alkoholisches. Die besseren Häuser beider Kategorien boten neben flüssigen Erfrischungen auch Speisen an, die entweder in der öffentlichen Schankstube oder, wenn der Gast über die entsprechenden Mittel verfügte, ein Stockwerk höher in abgesonderten Räumlichkeiten eingenommen werden konnten. Im Laufe des Jahrhunderts entfalteten die Aktivitäten in diesen Obergeschossräumen mehr und mehr ihre eigene Geschichte. Sie boten den Mitgliedern von Herrenclubs einen idealen Rahmen für ihre monatlichen oder jährlichen Versammlungen. Diese Zusammenkünfte, die in den Abendstunden häufig mit Gesprächen über Politik, Wissenschaft und Kunst bei einem zeremoniellen Mahl begannen, arteten oftmals zu nächtelangen Massenorgien aus. Bezechte Männer konnten nach den Maßstäben der ehrbaren Gesellschaft weder als würdevoll noch als ungefährlich gelten; folglich durfte keine Frau, die darauf Wert legte, sich eine Dame zu nennen, sich auch nur in die Nähe der Tür eines solchen Etablissements wagen. Dennoch wimmelte es in den Kaffee- und Wirtshäusern von Frauen, insbesondere in den um Covent Garden gelegenen. Das waren jene Frauen, die – wie zeitgenössische Autoren behauptet hätten – »kraft ihres Standes« dazu bestimmt waren, die Männer zu unterhalten. Wo immer Männer tranken, kamen über die Jahrhunderte hinweg bald auch die Huren. War erst einmal der Bierdurst gelöscht und der Bauch mit gutem Essen gesättigt, blieben nur noch die fleischlichen Begierden zu befriedigen. Das machte es den Prostituierten leicht, denen die Freier sozusagen in den Schoß fielen. Und es fügte sich, dass die eine Person, die an der Nahtstelle zwischen dem trunkenen Gast und seiner ersehnten geschlechtlichen Erleichterung stand, eben die männliche Bedienung im Gasthaus war.
»Als wir vor wenigen Wochen den Abend in einem gewissen Wirtshause nahe des Covent Garden verbrachten, erhitzte der Wein etlichen meiner Gefährten so sehr das Blut, dass sie nach dem Hauptportier läuteten und ihn wahrhaftig fragten, ob er denn nicht mit Mädchen für sie dienen könne«, notierte ein mit den zeitgenössischen Kuppeleigepflogenheiten unvertrauter junger Zeitungsschreiber. Lüsternen Männern standen natürlich alle möglichen Ventile der Triebabfuhr zur Verfügung, wenn aber der Zuhälter die Geschlechtspartnerin vermittelte, bestand gegenüber der Zufallsbegegnung mit einer x-beliebigen Straßendirne doch ein immerhin geringfügig besserer Schutz vor Krankheiten. Zumindest theoretisch war das ein wichtiger Aspekt. In ihrer elementarsten Form konnte die Aufgabe eines kuppelnden Kellners einfach nur darin bestehen, eine geeignete im Haus verfügbare Frau oder eine ihm bekannte Dame aus der Nähe zu ihrer Kundschaft zu geleiten. Wie Jack Harris höchstselbst klargestellt hat: »›Kuppler‹ bedeutete nicht mehr, als durch die Nachbarschaft zu eilen und das erstbeste Lumpenweib zu den Herren in dem Wirtshause zu bringen, zu dem ich gehörte.« Dieser Service war ein Bestandteil seiner Aufgabe, schließlich hatte er für die Zufriedenheit der Gäste zu sorgen, solange sie in den Räumlichkeiten des Wirtes weilten. War die Kundschaft nur willens, ihr Geld weiterhin in seinem Haus auszugeben, gab es für einen Gastwirt wenig Grund zur Klage.
Leider bezeichnete das Wort pimp (»Zuhälter« oder, mit dem zeitgemäßen Wort, »Kuppler«), das damals wie heute Vorstellungen von der Niedertracht und Unbarmherzigkeit des Abschaums der Menschheit heraufbeschwört, unterschiedslos alle Männer, die »Frauenzimmern Gesellschafter vorstellten«. Auch wenn die Beurteilung des Autors E. J. Burford im Allgemeinen zutrifft, der die Zuhälter aller Epochen als »böse, herzlose, gemeine Kreaturen ohne jedes positive Merkmal« beschreibt – »erbärmliche Männer, die auf Kosten erbärmlicher Frauen leben« –, fällt doch der »Kuppelkellner« des 18. Jahrhunderts ein wenig aus diesem verbreiteten Bild heraus. So wie die Prostituierten den unterschiedlichsten Kategorien zugehörten, gab es auch unter den Zuhältern Abstufungen. Nicht jeder Lude war ein brutaler Schläger, der in dunklen, dreckigen Gassen lauerte. Die unter der Fassade des Kellnerns betriebene Kuppelei – damals sprach man auch von der »Hurenwirtschaft« oder Maquerellage (pandering) – war bemüht, sich zumindest des äußeren Anscheins des Hässlichen zu entledigen. In jedem Fall war Harrison zu der Überzeugung gelangt, dass am bloßen Zusammenbringen zweier williger Parteien nichts sonderlich Schlimmes sei. In späteren Jahren sollte er (oder jedenfalls »Jack Harris«) argumentieren, als Kuppler eben nur genau dies und nicht mehr getan zu haben. Das sei an sich, wie er schloss, nichts wofür er sich »hätte schämen müssen«.
John Harrison musste nicht aktiv danach streben, Zuhälter zu werden. Vielmehr war der Handel mit Sex eine Berufung, die sich ihm ganz von selbst eröffnete, sobald er einmal seine Kellneraufgaben übernommen hatte. Hierbei war es sein Glück, dass sich diese Beschäftigung so gut in seine Lebensumstände einpasste. Viele der jungen Frauen, die das Bedford Head frequentierten, hatte er wohl schon in der Kindheit als Nachbarinnen und Spielkameraden gekannt. Die Töchter der notleidenden Familien des Kirchspiels, die in den umliegenden Häusern lebten oder als Dienstmädchen oder Marktfrauen auf dem Platz arbeiteten, waren vielfach auch jene Mädchen, die sich später verkauften, um ihr Brot zu verdienen. Die Geschichten von ihrem Eintritt ins Freudenleben gehörten zum gängigen Kneipengeplauder; Harris könnte sogar im direkten Gespräch von ihrer Situation erfahren haben. In vielen Fällen wird er mit den Eltern oder Geschwistern dieser Frauen bekannt gewesen sein, und nicht minder wahrscheinlich ist es, dass er ihre Verführer und später ihre zahlenden Unterhalter persönlich kannte. In Harrisons Ohren muss der Klatsch des ganzen Viertels widergehallt haben – wessen Tochters Bauch neuerdings eigentümlich rund erschien, oder wer mit der Hand unterm Rock der Küchenmagd ertappt worden war. Sicherlich hatte er einen besseren Überblick darüber, wer »von Franzosen angesteckt« war (also die Lustseuche Syphilis hatte) als die meisten Freier: wertvolle Informationen für einen Zuhälter. Wann immer Harrison mit dem »Bekanntschaftenvermitteln« angefangen haben mag, sich selbst auch als Kuppler zu verstehen begann er jedenfalls erst um 1751, kurz bevor er sich den Decknamen Jack Harris zulegte.
So leicht es gewesen sein mochte, im Gasthaus seines Vaters in dieser Funktion zu reüssieren, seinen berüchtigten Namen hat sich John Harrison noch nicht im Bedford Head gemacht. Das Schicksal hatte eine andere Lokalität für ihn ausersehen. 1753 veränderte irgendein Ereignis den Lauf seines Lebens und katapultierte ihn aus der vertrauten Umgebung der Maiden Lane in eine völlig neue Sphäre. Wir wissen nicht, ob George Harrison gestorben war oder vielleicht schlecht gewirtschaftet hatte – 1754 war er jedenfalls nicht mehr der Besitzer des Etablissements, in dem John seine Jugend verbracht hatte. Was aus den übrigen Familienmitgliedern geworden sein könnte, wo sie lebten und welchem Broterwerb sie fortan nachgingen, bleibt ein Rätsel. Nur John entschied sich, in Covent Garden zu bleiben, an jenem Platz, den er vielleicht stärker als der Rest der Familie als seine Heimat begriff. Nun, da sich die Familienbande des väterlichen Unternehmens gelöst hatten, lag seine Zukunft woanders. Zum Glück musste er nicht weit reisen, um seine neue Bestimmung zu finden. Im östlichen Eck der Piazza, unter einem bunt verzierten Schild, befand sich die Shakespear’s Head Tavern.