Читать книгу Mark Twain - Helmbrecht Breinig - Страница 8
I. Einleitung
ОглавлениеTwains Popularität und Image
Autobiography
Als im Jahre 2010 anlässlich des hundertsten Todestages von Samuel Langhorne Clemens weltweit zahllose Gedenkartikel, Fernseh- und Radiosendungen, Tagungen und wissenschaftliche Publikationen an den Mann erinnerten, der aller Welt als Mark Twain bekannt ist, setzte das an der University of California, Berkeley, angesiedelte Mark Twain Project einen neuen Markstein. Der erste Band der Autobiography of Mark Twain erschien pünktlich nach Ablauf des hundertjährigen Moratoriums, das sich der Autor gewünscht hatte, das freilich von mehreren seiner Nachlassverwalter partiell missachtet worden war, so dass Teilfassungen der Autobiographie durchaus erhältlich waren. Das voluminöse, schwergewichtige Buch, Teil einer auf drei Bände angelegten kritischen Ausgabe, enthält eine 58-seitige Einleitung und 250 Seiten inhaltliche Anmerkungen und bibliographische Referenzen. Angesichts dieses abschreckend wissenschaftlichen Formats rechnete die University of California Press mit 7.500 verkaufbaren Exemplaren. Bereits im November des Jahres war das Buch jedoch sechsmal nachgedruckt worden. Die Auflage lag da schon bei 275.000 Exemplaren, und die Nachfrage war ungebrochen. Der Band erreichte Spitzenplätze auf den Bestsellerlisten und war für den Verlag der größte Erfolg seit 60 Jahren (Bosman 2010). Das hier deutlich werdende Interesse des Lesepublikums selbst am Alltag des Autors, selbst an seinen nebensächlichen Äußerungen, belegt Twains Beliebtheit und Hochschätzung. Diese erklären sich freilich nicht nur aus Publikumsfavoriten wie The Adventures of Tom Sawyer, sondern aus der Einsicht oder zumindest Ahnung, dass Twain in vielen seiner Themen höchst aktuell geblieben ist. Dem gilt es nachzuspüren.
Populäre oder anspruchsvolle Literatur?
Der Ruf, der populärste große und der größte populäre Schriftsteller der Vereinigten Staaten zu sein, hing Mark Twain bereits zu seinen Lebzeiten an. Über seine Berechtigung braucht in einer Einführung in Twains Texte nicht befunden zu werden. Nicht zu vermeiden ist aber ein Hinweis darauf, dass ein Verständnis dieser Texte nicht unbeeinflusst von dem Bild sein kann, das sich die allgemeine und die literarische Öffentlichkeit von diesem Autor gemacht haben. Und die Stationen seines Lebens wie auch die attraktiven und die eher bekümmernden Seiten seiner Persönlichkeit sind als Stoff, als Schreibsituation oder als psychologisches Movens so prägend für sein Werk gewesen, dass auch hier, wo für ihre Darstellung kein Raum ist, zumindest ihre Relevanz angedeutet werden muss.
Twain schrieb früh, aber nicht frühreif. Er hinterließ, neben vielen anderen Werken, allein acht veröffentlichte Romane, dazu zwei Kurzromane und einige Romanfragmente, aber für viele Leser wurde er nie ein rechter Romancier. Das, was man von ihm und seinen Büchern erwartete, sogar heute noch in Biographie und Schriften zu finden hofft, liegt oft weit entfernt von dem, was sie, dem Verständnis einer jeden Epoche gemäß, tatsächlich bieten – bereits bei Erscheinen jener heiteren Kurzgeschichte über »Jim Smiley and His Jumping Frog« (»Jim Smiley und sein Springfrosch«, 1865), die seinen Ruhm landesweit begründete, wurde er mit Shakespeare verglichen, und nach seinem Tode stritten sich die Kritiker jahrzehntelang in einer Weise über Erfolg oder Misserfolg seiner Bücher, dass deren ästhetische Unvollkommenheit als moralische Schuld gegenüber seiner Nation erscheinen musste.
Image
Er selbst hatte erheblichen Anteil daran, dass die an ihn gerichteten Erwartungen oft maßlos waren, dass er schon zu Lebzeiten zur mythischen Figur wurde. Er wurde 1835 geboren, als der Halleysche Komet am Himmel erschien, ein alltäglicher Zufall, aber dass sich seine Lebensbahn mit dem nächsten Erscheinen des Kometen im Jahre 1910 vollenden sollte, war bemerkenswert und mehr als das, stimmte es doch mit der Vorhersage des Autors überein. Seine Existenz schien von höherer Hand geplant und wirkte somit episch gerundet, zugleich aber auch effekthascherisch inszeniert. Den Zug zur Übertreibung wies seine Biographie mehrmals auf. Nicht genug damit, dass Twain zunächst den amerikanischen Populärmythos der rags to riches-Karriere, des Aufstiegs aus ärmlichen Anfängen, vorlebte, wurde er auch noch zum Bankrotteur, der sich, wiewohl im fortgeschrittenen Alter, am Zopf seiner Popularität, seiner Schaffensenergie und seines Talents zum Knüpfen nützlicher Freundschaften noch einmal selbst aus dem Sumpf zog und in einer an Geschäftsskandalen reichen Zeit ein moralisches Exempel setzte, indem er seine Gläubiger bis zum letzten Cent befriedigte. Seine weltbekannten Exzentrizitäten trugen zu seinem halbmythischen Image bei, etwa der Seehundsmantel, den er in jüngeren Jahren zu tragen beliebte wie später seine weißen Anzüge, oder das Haus, das er sich in Hartford bauen ließ und das ein Betrachter als eine Mischung aus Ritterschloss, Raddampfer und Kuckucksuhr beschrieb.
Werdegang und historischer Kontext
Karriere und Zeitgeschichte
Nahezu alle jene Phasen und Erscheinungen der gesellschaftlichen, geographischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, die die Historiker inzwischen als markante Kapitel amerikanischer Geschichte zwischen 1830 und dem Ersten Weltkrieg erkannt haben, waren auch Kapitel seiner persönlichen Biographie: die südstaatliche Sklavenhaltergesellschaft, die Entwicklung des Mississippi zur Lebensader der Nation, der politisch-ökonomische und schließlich militärische Nord-Südkonflikt, die Verschiebung und dann das Verschwinden der offenen Siedlungsgrenze im Westen, der Edelmetall-Boom in Kalifornien und Nevada, die Rekonstruktionszeit nach dem Bürgerkrieg und das von ökonomischem Aufschwung, Spekulantentum und Korruption geprägte »Gilded Age« (das »vergoldete Zeitalter«), der Übergang der gesellschaftlichen Dominanz von der alten sozialen und kulturellen Elite zu den neureichen Gründervätern in den Oststaaten, die industrielle Revolution und die Urbanisierung, die Masseneinwanderung, der Eintritt der USA in den Kreis der imperialistischen Mächte und ihr Aufstieg zur Weltmacht. Twain hatte teil an den Epochendiskursen, an den gesellschaftlich konstruierten Vorstellungen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹, am wissenschaftlich-technologischen Fortschrittsglauben, am euro-amerikanischen Auserwähltheitsdenken und Sendungsbewusstsein, aber er war in der Lage, sich damit auch kritisch auseinanderzusetzen, Gegenpositionen zu entwickeln und früher Geglaubtes über Bord zu werfen. Nicht alle genannten geschichtlichen Phänomene schlugen sich unmittelbar in seinen literarischen Werken nieder; wie für viele andere Intellektuelle blieb auch für ihn, den Süd-Nord-Wanderer, der Bürgerkrieg ein »unwritten war«, und die Industrialisierung prägte seine persönlichen Verhältnisse mehr als seine Literatur. Aber eben damit hat man sich abzufinden: Twain war nicht nur Schriftsteller, sondern zuvor und zum Teil daneben Drucker, Journalist, Mississippi-Lotse, Milizsoldat, Angestellter der Territorialverwaltung von Nevada, Parlamentsreporter, Goldschürfer, Vortragsreisender, Privatsekretär eines Senators, Zeitungsherausgeber. Technikbesessen wie seine Epoche, war er ein unermüdlicher Erfinder und besaß schließlich etliche, wenngleich recht nutzlose Patente, mit »Mark Twain’s Self-Pasting Scrapbook« (»Mark Twains selbstklebendes Einklebebuch«) freilich auch ein gewinnbringendes Produkt.
Er war ein unverbesserlicher Spekulant, der in alle möglichen Neuerungen, von der Gedächtnistrainingsmethode bis zur Hutnadel, investierte, dessen Hauptinvestitionen – sein eigener Verlag und die Paigesche Typensetzmaschine – ihn jedoch schließlich in die Zahlungsunfähigkeit treiben sollten. Was Wunder, dass er auch seine Romane und Reisebücher, seine Essays und Kurzgeschichten als Mittel zum Erfolg sah, einem Erfolg, der sich in Dollars und Sozialprestige mindestens ebenso manifestieren musste wie in künstlerischer Reputation.
Persönlichkeit
Pseudonym und Autorenrollen
Er, Mark Twain – »Mark Twain«. Wie bei so manchem anderen Autor tilgte das Pseudonym den tatsächlichen Namen gründlich aus dem öffentlichen Bewusstsein. Der Mann, der sein public image pflegte und durch sein Auftreten, durch seinen Umgang mit der Presse und durch die über ihn kolportierten Geschichten manipulierte wie die Medienstars unserer Zeit, trieb mit seinen Namen ein Spiel, das seine ihm selbst allmählich deutlicher und bedrängender werdenden Identitätszweifel zugleich verdeckte und belegte. Mit siebenundzwanzig Jahren begann Samuel Langhorne Clemens seine Zeitungsbeiträge mit »Mark Twain« zu zeichnen. Kaum denkbar, dass er Adventures of Huckleberry Finn (Huckleberry Finns Abenteuer) als Thomas Jefferson Snodgrass (eines seiner früheren Pseudonyme) veröffentlicht hätte – oder doch? Auch mit »Mark Twain« ist ja die Vorstellung einer komischen Pose verknüpft und zwar vor allem dort, wo der Name heute noch als gewinn- und publicityträchtiges Markenzeichen verwendet wird: in angeblichen Mark-Twain-Gedenkstätten, in auf Harmlosigkeit zurechtgetrimmten Mark-Twain-Kinderbüchern und -Verfilmungen, bei den Mark-Twain-Bühnenimitatoren oder bei der Verwendung von Twain-Zitaten in der Werbung.
Schwierigkeiten waren unausweichlich. Samuel L. Clemens benutzte zwar für offizielle und bürokratische Angelegenheiten seinen richtigen Namen, und für seine Familie war er »Sam«, doch bereits unter seinen Freunden schwankte die Sprachregelung zwischen »Mark«, »Mark Twain«, »Twain« und »Clemens«. Seine Identifizierung mit seinem Pseudonym ging weit, aber nicht so weit, dass er sich nicht gelegentlich davon distanziert hätte, am deutlichsten im Falle seines biographischen Romans Personal Recollections of Joan of Arc (Persönliche Erinnerungen an Jeanne d’Arc, 1896), dessen Zentralfigur er so verehrte, dass er sie nicht durch die populären Vorstellungen von »Mark Twain« in falschem Licht erscheinen lassen wollte. Doch auch sein eigentlicher Name war damals schon so untrennbar mit »Twain« assoziiert, dass er seine Objektivierungsabsicht bei der Erstveröffentlichung nur durch zwei vorgeschobene, fiktive Erzähler-bzw. Übersetzergestalten realisieren zu können glaubte.
Herkunft und Bedeutung des Pseudonyms sind von Twains Nachlassverwalter und Biographen Albert Bigelow Paine beschrieben und in dieser Form weithin akzeptiert worden – »Mark Twain«, das bedeutete zwei Faden Wassertiefe und damit für den Mississippi-Lotsen »safe water«, so lernen es heute noch Schulkinder in aller Welt. Aber an Paines Darstellung, und damit an Twains eigener, sind Zweifel laut geworden – geht »Mark Twain« nicht eher auf des Autors Angewohnheit zurück, während seiner Zeit im Westen bei seinen Barbesuchen anschreiben zu lassen?
Identität und Pose
Doch wie undurchdringlich sich das Netz der Mythen auch hier vor die Fakten gelegt haben mag, unbestreitbar ist nicht nur die Einprägsamkeit und klanglich-assoziative Attraktivität des Pseudonyms, sondern auch seine Angemessenheit für einen Mann, der schon früh zwei (oder mehr) Seelen in seiner Brust fühlte und den das Problem der menschlichen Identität so sehr gefangen nahm, dass er noch in seinen späten Jahren mit einer Theorie vom »dream self«, vom Traum-Ich als Gegenpart zum ›realen‹ Individuum spielte. »Mark the Double Twain« überschrieb Theodore Dreiser einen 1935 veröffentlichten Aufsatz und meinte damit, dass hinter dem Bild des Humoristen und Jugendbuchautors das des Realisten, des grimmigen Satirikers und des deterministischen Philosophen erst noch zu entdecken sei – eine Botschaft, die auch heute noch nicht überall ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist. Aber Twain, der eine Vorliebe für das Motiv der Zwillinge hatte und der sich nicht nur durch seinen nom de plume, sondern durch eine Vielzahl von selbst angenommenen oder seinen fiktionalen Figuren zugewiesenen Masken und Posen zugleich verhüllte und von immer neuen Seiten offenbarte, war auch in anderer Hinsicht ein Mann mit mehreren Identitäten (zur Entwicklung der Maske in Twains Frühwerk vgl. Florence 1995). Da war der Südstaatler, der sich nur allmählich aus den rassistischen Vorstellungen lösen konnte, in denen er erzogen worden war, der diese Loslösung dadurch erleichterte, dass er neben dem ›eigenen‹ noch einen anderen, schlimmeren Süden der erstarrten Feudalstrukturen und der Plantagensklaverei zeichnete, und der sich doch aus den positiven Erinnerungen an Menschen und Landschaften seiner Jugend nie befreien konnte. Diese Jugend war zugleich die Erfahrung der frontier, denn Missouri lag damals an der westlichen Siedlungsgrenze, und bereits hier, vor allem aber durch seine Erlebnisse in Nevada und Kalifornien, entwickelte sich Twain zum Westerner, der die Primitivität des Lebens in den landwirtschaftlichen Siedlungen wie in den Goldgräberlagern, die riesigen und damals nur beschwerlich und risikoreich zu überbrückenden Entfernungen westlich des Mississippi, die Gewalttätigkeit und Rechtsunsicherheit erlebt hatte und davon erzählen konnte. Dann war da der Oststaatler, das heißt der Neuankömmling aus dem Westen, der sich mühsam seinen (durch die Heirat mit der Tochter eines Kohlemagnaten symbolisch besiegelten) Zugang zur Welt der (neu-) reichen Geschäftswelt in den Städten des Ostens verschaffte und es noch erheblich schwerer fand, sich auch der alten neuenglischen Sozial- und Kulturelite akzeptabel zu machen. Dass diese mehrfachen Wechsel des Milieus, die die Wichtigkeit von Paradigmenwechseln hatten, traumatische Spuren hinterließen, ist von Van Wyck Brooks in seiner 1920 veröffentlichten Studie The Ordeal of Mark Twain als evident angesehen und zur Hauptursache für Twains künstlerische Unzulänglichkeiten erklärt worden – sicherlich eine Überspitzung, doch auch für den weniger kritischen Betrachter ist unübersehbar, dass die weitgehende Aneignung der Normen vor allem des nach außen hin genteel-viktorianischen, bürgerlich-wohlanständigen Ostens für Twain psychische und ästhetische Probleme bereitete. Und dann gab es noch den Weltbürger Twain, der insgesamt ca. 13 Jahre außer Landes verbrachte: als Reisereporter auf Hawaii und in den Ländern des Mittelmeerraumes; in Mitteleuropa, Frankreich, England und Italien als Tourist, als Sammler von literarischem Material, als Begleiter seiner Erholung suchenden Frau, am längsten aber als mit Familie von Land zu Land wandernde Zelebrität, die zwar von vielen hofiert wurde, der es jedoch vor allem um eine sparsamere Lebensweise ging; schließlich als bezahlter Vortragsreisender auf einer weltumspannenden Tournee.
»1601: Conversation, As lt Was at the Social Fireside, in the Time of the Tudors«
Was war Pose, was Wirklichkeit? Gab es eine Wirklichkeit hinter den Posen? War Twain der vorbildliche Familienvater, oder war er im geheimen ein Familientyrann? War seine heitere oder auch cholerische Selbstdemonstration nur eine Maske vor einer zeitlebens von Schuldgefühlen gepeinigten Psyche? War er der typisch viktorianische Frauenverehrer, dessen Idealisierungsversuche in Joan of Arc ihren Höhepunkt fanden und dessen Frauengestalten fast immer entsprechend steif und unwirklich, ja geschlechtslos geraten mussten? Oder unterwarf er sich nur dem offiziellen Code, sehnte er sich im Grunde nach einem direkteren Umgang der Geschlechter, nach der Aufgabe der Doppelmoral, ist also sein notorischer Untergrund-Text »1601: Conversation, As lt Was at the Social Fireside, in the Time of the Tudors« (»1601: Unterhaltung, wie sie in der Tudorzeit am geselligen Kamin stattfand«, 1880) mehr als ein für einen Männerclub geschriebener Scherz, mehr als eine Fingerübung im Brechen möglichst vieler sprachlicher und sozialer Tabus? Wollte er solchen Normkonflikten entgehen, indem er sich in eine Welt unschuldiger Kinder flüchtete – vornehmlich die seiner Töchter und später die des Fanclubs aus jungen Mädchen, mit denen er korrespondierte, oder auch die in seinen Büchern entworfene? (Nicht umsonst ist Twains Position zum damaligen Geschlechterdiskurs ein Schwerpunkt der neueren Forschung; vgl. z.B. Stahl 1994, Morris 2007, Stoneley 1992.) Was war typischer: die lebenslange Freundschaft mit Männern wie William Dean Howells und dem Geistlichen Joseph Twichell oder doch jener erschreckend häufige, plötzliche Umschlag von Liebe in Hass, von offenherziger Kooperationsbereitschaft in radikale Verstoßung beim ersten Anzeichen von Illoyalität oder Inkompetenz, den so viele seiner Freunde und Geschäftspartner von Bret Harte bis zu seinem Neffen und Verlagsmanager Charles L. Webster erfahren mussten? Was war eher der wahre Mark Twain: der Sozialreformer und Advokat der Gewerkschaftsbewegung oder der Unternehmer und Freund von Plutokraten wie Henry H. Rogers von Standard Oil? War er Agnostiker und Rationalist wie sein Vater oder, in seinem Hass auf die katholische Kirche und in seinem Determinismus, doch eher ein Erbe des ihm von seiner Mutter vermittelten Calvinismus? Für beide Alternativen in diesen wie in anderen Fällen von emotionaler oder intellektueller Gespaltenheit gibt es zahlreiche Belege.
Gewiss, es gab nicht nur Widersprüche, sondern auch durchgängige Merkmale oder zumindest längerfristige Entwicklungen von einer Position zur anderen. Aber übrig bleibt der Eindruck von »Mark Twain« als Sammelbezeichnung für eine nicht nur vielseitige und entwicklungsfähige, sondern auch schillernde Gestalt, eine Verbindung von Kern-Identität und freiwillig oder auch genötigt angenommenen Rollen und Posen. Als solches Konglomerat wird »Mark Twain« auch im vorliegenden Buch benutzt.
Schriftsteller-Rollen
Subskriptionsbuchhandel – Literaturkonzept
Den Schriftsteller Twain kennt jeder – glaubt jeder zu kennen. Die immense, weltweite Popularität einiger seiner Werke beruht nicht nur auf deren Textqualitäten, sondern auch auf einer geschickten Vermarktung, die bereits vom Verfasser selbst begonnen wurde. Als einer von ganz wenigen respektablen literarischen Autoren seiner Zeit verkaufte Twain einen Teil seiner Bücher über den Subskriptionsbuchhandel und erzielte damit nicht nur hohe Auflagen, sondern erreichte auch ein Publikum, das mit anspruchsvoller Belletristik sonst wenig im Sinn hatte. Mit seinen zahllosen Interviews, seinem Bemühen um günstige Publikationstermine und die richtigen Rezensenten, mit seiner ständigen Präsenz in der Öffentlichkeit, seinem publicitysichernden Umgang mit den Mitgliedern dessen, was man als den Luxusdampfer-Set bezeichnen könnte, mit seiner selbstverständlichen Annahme öffentlicher Ehrungen (Höhepunkt: der Ehrendoktortitel der Universität Oxford, 1907) trug er dazu bei, sich zur öffentlichen Instanz, zu einer Identifikationsfigur für Menschen nicht nur in Amerika zu machen. An seinen schottischen Kollegen Andrew Lang schrieb er:
Indeed I have been misjudged, from the very first. I have never tried in even one single instance, to help cultivate the cultivated classes. I was not equipped for it, either by native gifts or training. And I never had any ambition in that direction, but always hunted for bigger game – the masses. I have seldom deliberately tried to instruct them, but have done my best to entertain them. (L, II, 527)
Tatsächlich bin ich von Beginn an falsch eingeschätzt worden. Ich habe nie auch nur ein einziges Mal versucht, die gebildeten Schichten zu bilden. Dazu war ich nicht ausgerüstet, weder durch angeborene Begabung noch durch Ausbildung. Und ich hatte nie irgendwelchen Ehrgeiz in jener Richtung, sondern jagte stets nach größerem Wild – den Massen. Ich habe selten bewusst versucht, sie zu belehren, aber ich habe mein Bestes getan, sie zu unterhalten.
William Dean Howells – Literatur für das ganze Volk
Doch Twains Werkstattäußerungen waren ebenso wenig einheitlich wie seine literarische Praxis, und so muss man hier hinzufügen, dass er sehr wohl und mit voller Absicht auch lehrhaft und auch für die literarisch kompetenten Leser schrieb. Dass er sich immer wieder dem ästhetischen Urteil seines Freundes Howells anvertraute, der sich als Herausgeber der Zeitschrift Atlantic Monthly in den USA die Position eines Literaturpapstes erworben hatte, mag seine Ambitionen belegen. Insofern es ihm gelang, Popularität und literarisches Niveau zu vereinen, gilt er als Exponent jener Tendenz zu einer demokratischen Literatur, die damals von vielen amerikanischen Schriftstellern und Intellektuellen, aber auch von Figuren des öffentlichen Lebens gefordert wurde: einer Literatur für das ganze Volk, als Ausdruck und Spiegelung der gesellschaftlichen Realität, zugleich aber auch als Instrument der Vermittlung von Werten, mit denen sich die gesamte Nation identifizieren konnte und die natürlich Werte der bürgerlichen Mittelschicht waren (vgl. Ickstadt 1977). Die Hoffnung auf die Realisierbarkeit einer solchen Literatur musste freilich trügen, weil sich weder die auf Spannung und illusionsfördernde Identifikation mit den Figuren ausgerichteten Strukturmuster des Populärromans noch dessen deutliche Lehrhaftigkeit mit der Forderung nach Realismus der Darstellung vertrugen – auch in Twains Werk ist dieser Konflikt erkennbar. Dem Konzept der demokratischen Literatur lief aber auch zuwider, dass die darzustellende Realität gerade in jener Phase zu massiver Kritik geradezu herausforderte – Kritik, wie sie dann vor allem von den naturalistischen Romanciers geleistet wurde, wie sie sich aber auch in einem Teil von Twains Schriften findet. Bei näherem Hinsehen beruht der Erfolg dieser Schriften also weniger auf ihrer Harmonisierung unterschiedlicher kultureller Traditionen als auf deren gewagter und spannungsreicher Kombination.
Ebenso wenig wie die gesamtliterarischen Tendenzen miteinander vereinbart werden konnten, waren auch Twains diverse persönliche Schaffensimpulse unter einen Hut zu bringen. Das zeigt sich nicht nur an der Vielfalt seiner Produktion, sondern auch an der Uneinheitlichkeit vieler Einzelwerke. Wie die Kenntnis der verschiedenen Seiten der Person Clemens/Twain, ihrer Rollen und Posen für ein Verständnis auch der Texte wichtig ist, so ist es ebenso unerlässlich, sich die verschiedenen Autorenrollen zu vergegenwärtigen, in die diese Person nacheinander und oft genug gleichzeitig schlüpfte.
Journalist
Die früheste Rolle des Schriftstellers Mark Twain war die des Journalisten. Die journalistische Phase seiner Karriere beginnt 1851 und reicht etwa bis 1871, als er seine wichtigeren Zeitungsverbindungen abbrach und seinen Entschluss ankündigte, künftig nur noch wenig für die Presse zu arbeiten. Die Zahl seiner in diesen zwanzig Jahren in mehr als fünfzig Zeitungen und Zeitschriften publizierten Texte geht in die Tausende; ein beträchtlicher Teil mag noch nicht identifiziert sein. Es handelt sich um Reportagen, Kritiken, politische und gesellschaftliche Kommentare, Parlamentsberichte, Reisebriefe, Kurzgeschichten und Anekdoten, Skizzen, Essays, einige Gedichte, Zuschriften des verschiedensten Umfangs usw. Viele dieser Texte sind humoristisch oder satirisch und bedienen sich der jeweiligen Textform in parodistischer oder scherzhafter Manier. Auch nach Beendigung seiner professionell journalistischen Phase veröffentlichte Twain eine erhebliche Zahl von Beiträgen in Zeitschriften und Zeitungen, und wie zuvor waren darunter auch etliche im engeren Sinn literarische. Versucht man, etwas wie ›das Journalistische‹ in Twains schriftstellerischen Werken zu benennen, so wird man auf die (gelegentlich die Gesamtstruktur gefährdende) Vorliebe für kurze Texteinheiten, für das Episodische und Anekdotische zu verweisen haben, auf die Tendenz zu genauer, oft kritischer Beobachtung von Realitätsdetails und auf die Entwicklung eines präzisen, nicht-ornamentalen, dominant parataktischen und verhältnismäßig einfachen, aber doch flexiblen Prosastils.
Redner, Vortragender, Performance-Künstler – Mündlicher Vortragsstil, »How to Tell a Story«
Eine weitere Rolle, die Twain schon relativ früh, und spätestens seit Mitte der 1860er Jahre häufig einnahm, war die des Vortragenden und Performance-Künstlers. Er hatte eine ungewöhnliche Begabung, Texte (vor allem die eigenen) mündlich vorzutragen, ja vorzuspielen, und dabei seine Zuhörerschaft nach Belieben zu kontrollieren. Er bediente sich der im 19. Jahrhundert so beliebten Institution der organisierten Vortrags- oder Lesungsreise – damals ein wichtiger Bestandteil der Erwachsenenbildung wie der populären Unterhaltung –, um finanzielle Engpässe zu überbrücken, zuletzt als Sechzigjähriger, der mit einer lecture tour um die ganze Erde erfolgreich versuchte, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Neben seinen teils der Informations- und Meinungsvermittlung dienenden, teils heiter-unterhaltsamen Vorträgen und seinen Lesungen aus eigenen Werken sind seine zahlreichen Reden zu erwähnen, die er bei offiziellen und privaten Anlässen hielt. Twains schon früh perfektionierter mündlicher Vortragsstil macht nicht nur dieses umfangreiche Textkorpus auch heute noch so attraktiv, dass Twain-Imitatoren keine Mühe haben, Säle mit Zuhörern zu füllen, er hat auch auf die literarischen Werke des Autors prägenden Einfluss gehabt. Wiederum sind hier die Kürze der Texteinheiten und die Verständlichkeit der Sprache zu nennen. Hinzu kommt der Gebrauch rhetorischer Stilmittel wie Kontrast, Parallele und Wiederholung, das insistierende Ausbeuten eines Begriffs oder ganzen Wortfeldes sowie der Gebrauch von Ironie, Übertreibung oder understatement. Für das humoristische Erzählen erhebt Twain in seinem Artikel »How to Tell a Story« (»Wie man eine Geschichte erzählt«, 1895) jene mündliche Vortragsform zur Erfolgsnorm, bei der der Erzähler die Implikationen seines Textes nicht zu verstehen scheint, so dass eine Diskrepanz zwischen der gelangweilten, weitschweifigen oder anderweitig inkompetenten Erzählweise und dem tatsächlichen oder erwarteten Inhalt entsteht. Sprecherfiguren von Jim Blaine in Roughing lt (Durch Dick und Dünn) bis zu Huckleberry Finn, aber auch immer wieder »Mark Twain« selbst, folgen solchen Mustern mit großem Erfolg. Und den theatralischen Auftritt, die Performance, schätzen Twains Figuren vom Frühwerk über Tom Sawyer bis zu Pudd’nhead Wilson und No. 44 (vgl. Knoper 1995).
Humorist – Southwestern Humorists – Literary Comedians – Tieferer Humor
Ein Großteil von Twains journalistischen Arbeiten wie auch von seinen Reden und Vorträgen fällt unter die Rubrik ›Humor‹, und die Rolle des Humoristen ist sicherlich diejenige, die er am durchgängigsten gespielt hat. Als Journalist war Twain direkter Nachfahre der Humoristen des alten Südwestens vor dem Bürgerkrieg, die ja häufig Berufskollegen gewesen waren oder ihre heiteren Skizzen und Erzählungen zuerst in Zeitungen und Zeitschriften publiziert hatten, Nachfahre von Augustus Baldwin Longstreet, Thomas Bangs Thorpe, George Washington Harris und wie sie alle hießen. Er folgte ihnen z.B. in der Verbindung von Regionalrealismus und der Darstellung des Exzentrischen und Ungewöhnlichen, im Gebrauch von Dialekt und Umgangssprache, sprachspielerischen Neologismen und drastisch-überraschenden Vergleichen, in der Verwendung jener für die Pioniergesellschaft typischen Form der Lügengeschichte, der tall tale, und in der Kontrastierung zweier oder mehrerer Perspektiven oder auch Erzählweisen, deren Träger unterschiedliche Bildungsniveaus oder Kulturen repräsentieren. Als komisch-unterhaltsamer Vortragender war Twain noch stärker der Schule der sogenannten Literarischen Komiker, der Literary Comedians vor allem der Nachbürgerkriegszeit, verpflichtet, Zeitgenossen wie Charles F. Browne alias Artemus Ward, die die Techniken des Southwestern Humor weiterentwickelten, deren Gebrauch komischer Masken auch für Twains anfängliche Pseudonym-Verwendung einflussreich war und deren egalitäre politische Einstellung Twain eher ansprach als die der oft klassenbewussten Southwestern Humorists. Andererseits ist auch ihr Streben nach dem komischen Effekt um seines bloßen Unterhaltungswertes willen als wesentlicher und nicht immer unbedenklicher Zug in vielen Twain-Texten wiederzufinden. Noch spät in seiner schriftstellerischen Laufbahn konnte Twain nur selten der Versuchung widerstehen, die Komik einer Situation, eines Wortspiels, eines Kontrastes von Figuren oder Sprach- und Denkweisen voll zur Entfaltung zu bringen, selbst wenn der weitere Kontext ernst oder satirisch-kritisch war. Aber Twain war zugleich mehr als ein »phunny phellow«, der mit einigen Manipulationen der Schrift- oder Vortragssprache, mit verbalen und situativen Pointen und mit der Darstellung komischer Figuren sein Publikum mitreißen konnte. Er war Humorist auch in jenem so schwer präzisierbaren Sinn von Humor als der lächelnd-sympathetischen Hinwendung zum Unvollkommenen und außerhalb der etablierten Normen Stehenden, wie sie dem Leser von Huckleberry Finn aufgenötigt wird, aber auch von Humor als dem (fröhlich oder ironisch) lachenden Akzeptieren der unauflösbaren Widersprüche in den biologischen, individualpsychischen und sozialen Bedingungen menschlicher Existenz.
Satiriker
Freilich wird Twain oft, und gerade in den USA, zu einseitig als Humorist gesehen, ein Teil jener verharmlosenden Aneignung seines Werkes, die bis heute anhält. In mindestens dem gleichen Maße nahm er die Rolle des Satirikers ein, der sich mit eben solchen Widersprüchen nicht abfinden mochte und gegen die Verursacher zu Felde zog: schon als Journalist gegen korrupte und brutale Polizeibeamte in San Francisco, später gegen die robber barons, die Finanzkönige des »Gilded Age«, oder gegen die Politiker, die die USA in den Kreis der imperialistischen Staaten führten, und schließlich gegen jene erste Ursache, die er zwar nicht mehr als persönlichen Gott anzunehmen vermochte, deren Schöpfungsprinzip er jedoch mehr und mehr als grausam-absurdes Spiel erkannte. Am Ende seines Lebens, in seiner Autobiographie schreibt er, vielleicht etwas überpointiert:
Humorists of the »mere« sort cannot survive. Humor is only a fragrance, a decoration…There are those who say a novel should be a work of art solely and you must not preach in it, you must not teach in it. That may be true as regards novels but it is not true as regards humor. Humor must not professedly teach, and it must not professedly preach, but it must do both if it would live forever. By forever, I mean thirty years … I have always preached … If the humor came of its own accord and uninvited, I have allowed it a place in my sermon, but I was not writing the sermon for the sake of the humor. (MTE, 202)
Ein »Nur«-Humorist kann nicht überdauern. Humor ist bloß ein Aroma, eine Verzierung … Manche Leute sagen, ein Roman sollte einzig und allein ein Kunstwerk sein, man sollte darin nicht moralisieren und nicht versuchen, anderen etwas beizubringen. Das mag auf Romane zutreffen, für den Humor gilt es nicht. Der Humor darf zwar nicht offenkundig belehren, nicht offenkundig moralisieren, aber tun muß er beides, wenn er für immer bestehen soll. Wenn ich »für immer« sage, meine ich dreißig Jahre … Ich habe stets gepredigt … Wenn der Humor sich von selbst meldete, unaufgefordert, habe ich ihm einen Platz in meinem Sermon eingeräumt, aber ich habe den Sermon nicht um des Humors willen geschrieben. (HA IX, 383)
Erzähler
Hier wird die Indirektheit satirisch-didaktischer Verfahren genannt, die Aktualitätsbezogenheit der Satire, aber auch die Möglichkeit einer Kollision des satirischen mit dem humoristischen und dem erzählerischen Impuls. Allerdings war Twain wenig an einem rein ästhetischen Ideal des Erzählens interessiert, und der Romantradition von Jane Austen bis zu seinem Zeitgenossen Henry James wusste er wenig Erfreuliches abzugewinnen. Als (fiktionaler oder autobiographischer) Erzähler war er vielmehr, wie später genauer darzustellen sein wird, vor allem der mündlichen Tradition verpflichtet: dem Erinnerungsbericht, der eine bemerkenswerte Person oder Situation beleuchtenden Anekdote, der didaktischen Beispielgeschichte. Er war zeitlebens ein unermüdlicher Raconteur, aber die Handlung in ihrer Folgerichtigkeit interessierte ihn dabei am wenigsten, und lange, komplizierte Handlungsabläufe überforderten häufig sein Konstruktionsgeschick.
Realist
Näher an der sonstigen Erzählliteratur seiner Epoche stand er mit seinem Anspruch, ein realistischer Autor zu sein. Er fühlte sich dem Realismus als der die Erzähltexte des späteren 19. Jahrhunderts dominierenden, ja, den Roman erst endgültig ins Zentrum des Spektrums literarischer Ausdrucksmöglichkeiten rückenden Schule verbunden, weil er in Howells’ Forderung nach »fidelity to experience and probability of motive« (Howells 1891, 15; »Erfahrungstreue und Glaubwürdigkeit der Motivation«) ein angemessenes Programm für die literarische Darstellung von Wirklichkeit erkannte. Twain gehört zu einer Gruppe von local color-Autoren, die die Lebensverhältnisse der jeweils dargestellten Region detailgetreu schilderten. Er war es, der Dialekt und Umgangssprache als gleichberechtigt neben dem hochsprachlichen Erzählstil etablierte. Er beharrte auf Authentizität als literarischer Haupttugend und auf der Nähe seiner Werke zum eigenen Erfahrungshintergrund. In allen diesen Punkten ist er Realist par excellence. Aber die Eindimensionalität und Typenhaftigkeit oder auch die exzentrische Einmaligkeit vieler seiner Figuren, die illusionsstörende episodische Zerrissenheit und die Unwahrscheinlichkeit vieler seiner Erzählhandlungen unterlaufen seine eigene Forderung nach Treue zur Wirklichkeit im damaligen Sinne von als gegeben und in sich geschlossen vorgestellter Lebenswelt.
Romantiker und Sentimentalist
Dafür war neben seiner sprunghaften Arbeitsweise in erster Linie sein Wunsch nach humoristischer oder satirischer Darstellung maßgeblich; freilich auch jene andere Grundtendenz des Autors, die des Romantikers und Sentimentalisten (vgl. Camfield 1994). Entgegen seiner explizit formulierten Position und seinen häufigen parodistischen Attacken auf die romantische Literatur eines Walter Scott und Fenimore Cooper oder auf den sentimentalen Roman der eigenen Zeit tauchen in seinen Texten immer wieder Passagen auf, die denen der angegriffenen Autoren inhaltlich ähneln: lyrische Naturschilderungen, rührende Sterbeszenen oder die Glorifizierung heroischer Gestalten (an ihrer Spitze die Jungfrau von Orleans). Die bei Twain so häufig zu beobachtende Verklärung der Vergangenheit, besonders der eigenen, ist nur ein Teil seiner Suche nach dem Ideal, die eine fast notwendige Ergänzung seiner satirischen Entlarvung falscher Ansprüche bildete.
Phantastik – Historiker – Reiseschriftsteller – Essayist – Philosoph – Autobiograph – Lyriker Bühnenautor
Dem realistischen Anliegen widersprach auch Twains Neigung zur Phantastik. So lässt er seinen Yankee ins 6. Jahrhundert zeitreisen (A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court [Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof]), berichtet von Tom Sawyers Ballonfahrt über die Sahara (Tom Sawyer Abroad [Tom Sawyer im Ausland]) oder macht einen Cholera-Erreger zum Ich-Erzähler (»Three Thousand Years Among the Microbes« [»Dreitausend Jahre unter den Mikroben«]). Aber das Rollenspektrum des Schriftstellers Mark Twain weist noch eine ganze Reihe weiterer Komponenten auf. Da war der Historiker Twain, den seine Vergangenheitsfaszination immer wieder – und nicht gerade realismustypisch – zu Sujets aus der Geschichte greifen oder über das Wesen geschichtlicher Abläufe spekulieren ließ. Da war der Reiseschriftsteller, der in vielen seiner Bücher eigene und imaginierte Reisen zum narrativen Gerüst und den Blick des Reisenden zur Erfahrungsweise schlechthin machte. Da war der Essayist, dessen Gegenstände von Shelleys Ehe bis zur Christian Science oder zur Rolle der amerikanischen Missionare in China reichten und der sich gelegentlich und perspektivesprengend auch in seinen Romanen zu Wort meldete. Da war der Philosoph, der in What Is Man? (Was ist der Mensch?) und anderen Schriften über Natur und Bestimmung des Menschen reflektierte. Da war der Autobiograph, der zwar nie eine komplette Darstellung seines Lebens, wohl aber einige Erinnerungsbücher verfasste und der immer wieder Selbsterlebtes auch in seine Fiktionen einbrachte, um die Dämonen seiner Vergangenheit zu bannen. Den Lyriker Twain (auch ihn gab es) kann man schnell vergessen. Die Stücke und Dramatisierungsversuche des Bühnenautors Twain eignen sich weniger als Belege für sein lebenslanges Interesse am Theater (hierfür sind seine Kritiken interessanter); sie zeigen ihn vielmehr bei dem Versuch, von der Unterhaltungsindustrie seiner Zeit – und das amerikanische Theater war damals selten mehr als das – nach Kräften zu profitieren. Wichtiger ist noch, dass die Rolle des showman, des Unterhalters, die Twain bei seinen Vorträgen und sonstigen öffentlichen Auftritten so gerne spielte, durch die effekthascherischen Konventionen jener Unterhaltungsindustrie nicht unbeeinflusst war und dass er immer wieder auch fiktionale Äquivalente für den eigenen Hang zur Theatralik schuf: die Selbstinszenierungen des Connecticut Yankee, die Gerichtsauftritte von Tom Sawyer oder Pudd’nhead Wilson demonstrieren die »circus side« dieser Figuren, wie Twain mit Bezug auf den Yankee einmal sagte.
Gesamtœuvre
Mark Twain Project
Das Zusammentreffen so vieler künstlerischer wie persönlichkeitsabhängiger Rollen, Impulse und Posen erklärt die Uneinheitlichkeit vieler Werke Twains, die Tatsache, dass sie sich häufig nicht den gängigen Gattungs- und Formenrepertoires zuordnen lassen, sondern Texte eigener Art sind, und überhaupt die Vielfalt seiner Produktion. Diese Vielfalt wird in den letzten Jahrzehnten noch erheblich deutlicher erkennbar, seit zwei monumentale kritische Editionen begonnen haben, Twains Texte in verlässlicher Form zugänglich zu machen: The Works of Mark Twain (ursprünglich »Iowa-California Edition«, 1972ff.) und die Komplementärausgabe The Mark Twain Papers (1967ff.), die bislang unveröffentlichtes oder inadäquat veröffentlichtes Material, dazu Briefe und Notizbücher enthält. Besonders die frühen Arbeiten und das Spätwerk sind auf diese Weise (wieder) zu entdecken. Hinzu kommt die erwähnte, dreibändige kritische Ausgabe der Autobiography (2010ff.). Diese Ausgaben und einige Einzelpublikationen sind Teil des »Mark Twain Project«, des umfassenden und erst in der weiteren Zukunft abschließbaren Publikationsprogramms der »Mark Twain Papers«-Sammlung in der Bancroft Library der University of California, Berkeley, die zum Ziel hat, alle publizierten Werke des Autors und alle seine Privatpapiere und unveröffentlichten Manuskripte in wissenschaftlichen Ausgaben zugänglich zu machen. Eine ergänzende, für ein breiteres Publikum gedachte Ausgabe ist die Mark Twain Library (1982ff.).
Zielsetzung
Aus dem immens umfangreichen, allmählich in den Blick kommenden Gesamtœuvre können im folgenden viele Texte nicht einmal erwähnt und nur wenige ausführlicher besprochen werden; es sind solche, deren Wichtigkeit durch die populäre und/oder die kritische Rezeption belegt wird, wobei durchaus auch nichtästhetische Maßstäbe eine Rolle spielen können. Im Zentrum stehen die Romane, von denen die wichtigsten in der chronologischen Folge ihrer Publikation behandelt, die restlichen in den Zusammenhang von in ihrer Thematik oder wegen ihrer Zentralfiguren verwandten Texten gestellt werden. Andere Werke werden ohnehin nach Sachgruppen zusammengeordnet. Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede der Texte einer Gruppe werden auf diese Weise deutlicher erkennbar, doch bringen die chronologischen Vor- und Rückgriffe auch unvermeidliche Wiederholungen mit sich. Ziel dieses Bandes kann es im Übrigen nicht sein, ein vollständiges Bild Twains und seines Schaffens zu liefern, sondern nur, in einzelne Texte so einzuführen, dass deren spezifische Merkmale sichtbar werden, ohne dass dadurch der Blick auf Kontext und Hintergrund völlig verlorengeht.