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II. Erzählende Kurzprosa

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Sonderrolle in der Entwicklung der Short Story

Die Geschichte der amerikanischen Short Story wurde geprägt von Autoren wie Poe und Hawthorne, Chopin und Anderson, Hemingway und Paley. Für die Entwicklungslinien, die sich vom frühen 19. Jahrhundert bis in unsere eigene Zeit ziehen lassen, hat Mark Twain kaum eine Rolle gespielt. Und doch tauchen seine Kurzgeschichten in fast allen größeren Short Story-Anthologien auf: sie sind ein ebenso unerlässlicher wie aus dem Rahmen fallender Bestandteil des literarischen Erbes. Rechnet man die journalistischen Arbeiten mit ein, so besteht ein beträchtlicher Teil von Twains Œuvre aus kurzen Prosatexten, von denen wiederum ein Großteil narrativ ist und normalerweise wenigstens einige fiktionale Elemente enthält. Twains eigene Terminologie ist nicht einheitlich, aber für viele dieser Arbeiten benutzt er den bescheideneren Begriff »sketch« statt »story«. Die beiden wichtigsten Typen solcher Texte sind die quasi-mündliche, oft humoristische Erzählung und die didaktische oder satirische Geschichte.

Die mündliche Dialekterzählung

Mit dem Rückgriff auf die Urform aller narrativen Literatur, das mündliche Erzählen, steht Twain nicht allein. Schon Boccaccios Novellen oder, in der amerikanischen Literatur, schon Washington Irvings Erzählungen am Anfang von Twains Jahrhundert sind diesem Modell verpflichtet und bedienen sich der dafür fast unerlässlichen Konvention, in einem Erzählrahmen den Erzähler und häufig auch die Erzählsituation einzuführen. Twain nähert sich der Urform allerdings erheblich stärker an, indem er das Format der Geschichten der Kürze mündlicher Erzählberichte angleicht, indem er als Erzähler einfache Menschen (vor allem aus dem Goldgräber-Milieu Nevadas oder Kaliforniens) wählt und indem er den ihnen zuzutrauenden Vortragsstil nicht nur in der durchgängigen Wiedergabe des Dialekts, sondern zum Teil auch in der Lockerheit und Unsystematik des Erzählens imitiert. Er entwickelt dabei die in den Texten der Southwestern Humorists und der Literary Comedians benutzten Konventionen fort, wobei er vor allem die schriftlichliterarischen Elemente weiter reduziert.

»Jim Blaine and His Grandfather’s Ram«

Kurzprosa als Teil der Reisebücher

Einige der bekanntesten kurzen Erzähltexte Twains sind als selbständige Einheiten in seinen Reisebüchern erschienen, was deren Episodik ebenso belegt wie das Fehlen eines Anspruchs, im Rahmen des Genres der Short Story zu schreiben. Hierher gehört »Baker’s Bluejay Yarn« (»Bakers Eichelhähergarn«, Kapitel 3 in A Tramp Abroad) und »Jim Blaine and His Grandfather’s Ram« (»Jim Blaine und seines Großvaters Schafbock«, Kapitel 53 von Roughing It, 1872). Auch der nichtamerikanische Leser kann sich der Komik der Geschichte nicht entziehen, die der Goldgräber Jim Blaine nur dann erzählen kann und nur dann unweigerlich erzählt, wenn er einen bestimmten Grad der Betrunkenheit erreicht hat.

Komisch ist bereits die Diskrepanz zwischen Vokabular und Gegenstand, wenn der Erzähler Twain einleitend seine gespannte Erwartung beschreibt: »I never watched a man’s condition with such absorbing interest, such anxious solicitude; I never so pined to see a man« – nein, eben nicht: »die« oder »get well«, sondern: »uncompromisingly drunk before« (II, 344; »Noch niemals hatte ich so interessiert, so eifrig besorgt auf jemandes Zustand aufgepaßt, noch niemals so danach geschmachtet, jemand anständig voll zu sehen«, HA III, 331). Die schiere Freude der Southwestern Humorists an Wort-Hyperbolik, an sich steigernden und Passendes mit Unpassend-Eindrucksvollem verbindenden Wortketten, wie sie hier der Rahmenerzähler an denTag legt (»he was tranquilly, serenely, symmetrically drunk« [»er war heiter, gelassen, gleichmäßig blau«], ebd.) ist nur ein Vorgeschmack auf die Leistungen Jim Blaines:

»There never was a more bullier old ram than what he was. Grandfather fetched him from Illinois – got him of a man by the name of Yates – Bill Yates – maybe you might have heard of him; his father was a deacon – Baptist – and he was a rustler, too; a man had to get up ruther early to get the start of old Thankful Yates; it was him that put the Greens up to jining teams with my grandfather when he moved West. Seth Green was prob’ly the pick of the flock; he married a Wilkerson – Sarah Wilkerson – good cretur, she was – one of the likeliest heifers that was ever raised in old Stoddard, everybody said that knowed her. She could heft a bar’l of flour as easy as I can flirt a flapjack. And spin? Don’t mention it! Independent? Humph! When Sile Hawkins come a-browsing around her, she let him know that for all his tin he couldn’t trot in harness alongside of her. You see, Sile Hawkins was – no, it warn’t Sile Hawkins, after all – it was a galoot by the name of Filkins – I disremember his first name …« (II, 344f.)

»Einen bessern alten Prachtbock als wie den hat’s nie gegeben. Großvater hatte ihn von Illinois mitgebracht – hatte ihn von einem Mann namens Yates – Bill Yates –, vielleicht habt ihr schon mal von ihm gehört; sein Vater war Diakon gewesen – baptistischer – und ein [Viehdieb] dazu; wer dem alten Thankful Yates zuvorkommen wollte, der mußte früh aufstehn; er war’s gewesen, der die Greens überredet hat, sich mit meinem Großvater zusammenzutun, wie der nach dem Westen gezogen ist. Seth Green war wahrscheinlich der Beste von der ganzen Herde; geheiratet hat er eine Wilkerson – Sarah Wilkerson –, war ’ne nette Person, eins der schmucksten [Jungtiere], die es bei uns im alten Stoddard je gegeben hat; haben alle gesagt, die sie kannten. Ein Faß Mehl hat die hochgestemmt, wie unsereiner Eierkuchen in der Pfanne wendet. Mann, und spinnen hat sie gekonnt! Reden wir gar nicht erst davon! Aber rankommen lassen hat sie keinen, nein, die nicht. Als Sile Hawkins um sie rum[graste], hat sie ihm klipp und klar gesagt, dass er mit all seinem Moos noch lange nicht mit ihr in einem Geschirr trotten könne. Sile Hawkins – nicht doch, war ja überhaupt nicht Sile Hawkins, – war ein Strunk mit Namen Filkins – Vornamen hab ich vergessen … « (HA III, 332)

Dialekt, Sprachkomik – Spannungsmuster von Erwartung und Erfüllung

Der Dialekt, der hier durch falsche, zum Teil archaische Formen (»more bullier«, »a-browsing«), Aussprache (»jining«) und Vokabular (»flapjack«: eine Art Pfannkuchen) signalisiert wird, ist zunächst Teil des regionalkoloristischen Realismus der Geschichte. Komisch wird er, wie bei Twains Vorbildern, in Verbindung mit anderen Elementen wie der Wahl unnötig komplizierter Wörter (»disremember« statt »forget«), der Emphatik des Erzählens, den übersteigerten Vergleichen, der Tiermetaphorik (»jining teams« [eigtl.: Gespanne zusammentun], »pick of the flock«, »heifers«, »a-browsing« usw.). Komisch wird die Erzählung aber vor allem durch den Kontrast von Erwartung und Erfüllung. Erwartet wird eine Geschichte über ein Tier; stattdessen wird von einer Reihe von Leuten erzählt, die durch Tiermetaphern charakterisiert werden. Unerwartet ist die Berufsverbindung »deacon« und »rustler« (»rührige Person«, aber auch »Viehdieb«), aber auch, dass sie dem Erzähler keinen Kommentar wert ist. Die Hörer-/Lesererwartung wird jedoch vor allem dadurch frustriert, dass Jim Blaine so lange von einer Gedankenverbindung zur anderen schweift, bis er einschläft, ohne zu seinem Großvater und dessen Widder gelangt zu sein – in komischer Übersteigerung ein Fall von Detailversessenheit und mangelnder Disziplin, wie er mündliches Erzählen ja oft auszeichnet. Jim Blaine wird zum komischen Erzähler durch seine Unfähigkeit, jenes Maß an Selektion und Ordnung aufzubringen, das Erzählen zu einem Instrument macht, die Chaotik der Erfahrungswelt in den Griff zu bekommen.

Steigerungsstruktur – Parodie der narrativen Realitätsstrukturierung

Blaines Geschichte weist zwar auch ordnende Elemente auf, nämlich eine sich steigernde Reihe von grotesk bis grausig übertreibenden Schilderungen (tall tales) von Personen bzw. deren Lebens- oder Todesumständen. Diese Reihe reicht von »›old Miss Wagner‹«, die sich ein Glasauge ausleihen muss, wenn sie Gäste hat – »›it warn’t big enough, and when Miss Wagner warn’t noticing, it would get twisted around in the socket, and look up, maybe, or out to one side…‹« (II, 345; »›Es war der Miss Wagner zu klein, und wenn sie nicht aufpaßte, hat es sich in der Augenhöhle verdreht und nach oben oder nach einer Seite … gestiert …‹«, HA III, 332) –, bis zu einem William Wheeler, der in die Maschine einer Teppichweberei gerät – »›his widder bought the piece of carpet that had his remains wove in, and people come a hundred mile to ’tend the funeral. There was fourteen yards in the piece. She wouldn’t let them roll him up, but planted him just so – full length‹« (II, 348; »›Seine Witwe hat das Stück Teppich gekauft, wo seine Reste mit drin verwebt waren, und zur Beerdigung sind die Leute von hundert Meilen weit gekommen. Das Stück war vierzehn Yard lang. Sie wollte nicht, dass er zusammengerollt wird, und ließ ihn so bestatten – in ganzer Länge‹«, HA III, 336). Aber wenn sich an dieser Reihe Jim Blaines minimale Ordnungsfähigkeit zeigt, so erweist sie sich doch sogleich als hoffnungslos seiner Erfindungskraft unterlegen. Wenn eine angemessene Verbindung von Realitätsstrukturierung und Phantasie das Wesen des ›normalen‹ literarischen Erzählens ausmacht, dann ist Blaines Geschichte dessen Parodie.

»The Notorious Jumping Frog« und die amerikanische Humortradition

Der Rahmenerzähler »Mark Twain« merkt zwar am Ende, dass er von seinen Freunden zum Besten gehabt wurde, als sie ihn zu Jim Blaine lockten, aber er hat die Disproportionalität der Erzählelemente, die Komik der Verbindung von entsetzlichem Inhalt und unangemessener Darstellungsweise in vollen Zügen genossen. Auch in Twains bekanntester Kurzgeschichte, »The Notorious Jumping Frog of Calaveras County« (»Der berühmte Springfrosch von Calaveras«, 1865 zuerst als »Jim Smiley and His Jumping Frog« veröffentlicht), ist der Kontrast von Erwartung und Erfüllung strukturbestimmend. Die Geschichte gewinnt ihren Reiz jedoch vor allem aus der nie aufgelösten Unsicherheit des Lesers darüber, zu welchen Erwartungen er eigentlich aufgefordert ist.

Kontrast von Rahmen- und Binnenerzähler – deadpan narrator

Das beginnt mit der Kontrastierung der Erzählerfiguren. Der Rahmenerzähler (in der Erstfassung ist es »Mark Twain« in offenbar selbstironischer Pose, in späteren Fassungen bleibt die Frage der Identität mit dem Verfasser des jeweiligen Sammelbandes, in dem die Geschichte erscheint, offen) erweist sich durch seinen gedrechselt-förmlichen Stil und seine Beziehungen zum Osten der USA (»In compliance with the request of a friend of mine, who wrote me from the East …« [HB XXIII, 17; »Der Bitte eines Freundes entsprechend, der mir aus dem Osten geschrieben hatte«, HA II, 16]) sowie durch den Gegenstand seiner Nachforschungen, den durch Vornamen und Beruf hervorgehobenen »Rev. Leonidas W. Smiley, a young minister of the Gospel« (ebd.; »Ehrwürden Leonidas W. Smiley, einen jungen Geistlichen«, ebd.) als zur kultivierten Oberschicht gehörig, als Gentleman. In den Texten der Southwestern Humorists machte sich der Gentleman-Erzähler über die unbeholfenen, Dialekt sprechenden Binnenerzähler oder Figuren des frontier-Milieus lustig. Bereits bei T.B. Thorpe oder George Washington Harris und einigen anderen wurden dann zwar die Hinterwäldler aufgewertet, aber es war vor allem Twains Frosch-Geschichte, die die alte Konvention des Rang- und Rollenverhältnisses von Rahmen- und Binnenerzähler umkehrte (Bungert 1972). Ersterer stellt sich nicht nur durch seinen Stil bloß, sondern auch durch die Humorlosigkeit und rein pragmatische Einstellung, mit denen er auf jenen Simon Wheeler reagiert, dessen Erzählung er als »as long and as tedious as … useless to me« (ebd.; »ebenso weitschweifig und ermüdend wie … nutzlos für mich«, ebd.) empfindet. Die Sympathiesteuerung des Textes verläuft also zunächst zugunsten Wheelers; dass der Rahmenerzähler dessen Opfer wird – »Simon Wheeler backed me into a corner and blockaded me there with his chair, and then sat down and reeled off the monotonous narrative which follows this paragraph« (ebd.; »Simon Wheeler drückte mich rückwärts in eine Ecke und blockierte mich dort mit seinem Stuhl, setzte sich dann hin und haspelte den monotonen Bericht herunter, der diesem Abschnitt folgt«, ebd.) –, ist von den an den Traditionen des frontier-Humors geschulten Lesern als gerechtes Durchbrechen der alten Norm empfunden worden. Aber ist Wheeler, der seinem Gegenüber nichts über Leonidas Smiley, jedoch mehr als er jemals wissen möchte über Jim Smiley erzählt, der bewusste Rächer der so lange verachteten kulturellen underdogs, der nicht für voll genommenen Bewohner des fernen Westens, oder handelt es sich hier nur um einen weiteren Fall Jim Blaine, ist der Rahmenerzähler nur einem Scherz seines Freundes aufgesessen, der wusste, zu wem er ihn schickte? Wheeler ist das Muster eines deadpan narrator, eines Sprechers mit Pokergesicht, wie ihn die Literary Comedians bevorzugten und wie Twain ihn in »How to Tell a Story« für die humoristische Geschichte forderte, eines Erzählers, der die Komik seiner Geschichte nicht zu ahnen scheint und über jeden Handlungshöhepunkt und jede Pointe hinwegredet. Sollen wir über den Rahmenerzähler lachen, der nicht merkt, dass sich Wheeler über ihn lustig macht, oder über Wheeler, weil der vielleicht nicht merkt, wie komisch seine Geschichte ist? Die Ungewissheit darüber, wer nun wem überlegen ist, setzt sich auf der nächsten Stufe fort: spiegelt sich in dem »friend of mine, who wrote me from the East« doch die Überlegenheit des Ostens oder schreibt der Freund nur aus dem Osten, gehört aber im Grunde zu den auf Schabernack versessenen Grenzern? (Die Unsicherheit gilt auch für die Erstfassung, wo der aus Maine stammende, aber durch seine Schriften mit dem Westen verbundene Literary Comedian Artemus Ward die Rolle des Freundes spielt.)

Bewertungsunsicherheit

Die Bewertungsunsicherheit geht auch in der Binnengeschichte weiter. Simon Wheeler schildert Jim Smiley als von seiner Wettleidenschaft verzehrten Menschen, der nahezu ebenso ausschließlich von dieser seiner Hauptneigung geprägt ist wie die Theophrastischen Charaktere, wie die ihren humores folgenden Gestalten Ben Jonsons oder die satirischen Figuren Molières. Aber im Gegensatz zu diesen ist er durch die Situierung im Goldgräbermilieu von 1849 nicht nur eine Abstraktion, sondern zugleich ein realistischer Charakter. Simon Wheeler hat offenbar Respekt vor ihm: »›he’d bet on any thing – the dangdest feller‹« (HB XXIII, 18; »›der hat auf alles gewettet, [ein toller] Kerl‹«, HA II, 18). Dass Smiley andererseits in momentaner Selbstvergessenheit mit dem Pfarrer eine Wette einzugehen versucht, dass dessen todkranke Frau sich nicht mehr erholen wird, mag zwar ein Stück tall tale sein, ist aber ungleich leichter vorstellbar und daher schockierender als der in 14 Yards Teppich eingewobene William Wheeler.

Steigerung

Der Rahmenerzähler erkennt in Wheelers Jim-Smiley-Anekdoten nur eine beliebig fortsetzbare Serie, die er durch sein Weggehen an einem zufälligen Punkt durchbricht. Tatsächlich aber bilden die drei Hauptanekdoten eine Steigerungsstruktur, und Smileys Niederlage bei der Wette auf seinen Frosch ist Höhepunkt und Abschluss zugleich. Zunächst geht es um Smileys asthmatische Stute, die, »›coughing and sneezing and blowing her nose‹« (HB XXIII, 19; »›mit Husten und Niesen und [Naseputzen]‹«, HA II, 18), dennoch jedes Rennen gewinnt. Dann folgt der Bericht über Smileys armseligen kleinen Hund namens Andrew Jackson, der ebenso unerwartet den Kampf mit jedem anderen Hund gewinnt, indem er sich in seinen Hinterlauf verbeißt, schließlich aber an gebrochenem Herzen stirbt, als er einem Gegner ohne Hinterläufe gegenübergestellt wird. Und zuletzt geht es um den Frosch Dan’l Webster, den Smiley fängt und so gut trainiert, dass er jedes Wettspringen gewinnt, bis eben jener Fremde kommt, der den Frosch mit Schrot füllt, während Smiley einen zweiten Frosch für den Wettkampf zu fangen versucht. Diese Zentralanekdote ist uralt und sicherlich komisch genug, wenn man sich die vergeblichen Bemühungen Dan’l Websters vorstellt, zumal in Wheelers Formulierung: »›Dan’l give a heave, and hysted up his shoulders – so – like a Frenchman, but it warn’t no use – he couldn’t budge; he was planted as solid as a church …‹« (HB XXIII, 21; »›Daniel hievte an und zog die Schultern hoch – so, wie ein Franzose –, aber es hatte keinen Zweck, er kam nicht vom Fleck; er saß so fest am Boden wie [eine Kirche] …‹«, HA II, 22). Aber der eigentliche Reiz der Erzählung liegt in ihrer kunstvollen Mehrschichtigkeit. Der absteigenden Reihe Pferd-Hund-Frosch entgegen gibt es eine aufsteigende der zunehmenden Vermenschlichung (»›You never see a frog so modest and straightfor’ard as he was, for all he was so gifted‹« [HB XXIII, 20; »›Sie haben noch nie einen Frosch gesehen, der trotz seiner Begabung so bescheiden und schlicht war«, HA II, 20]) und der zunehmenden Kompetenz im Wettkampf bis hin zu Dan’l Websters durch dreimonatiges Training perfektionierter Sprungkraft. Dreimal siegt letztendlich das benachteiligte Tier, aber die Rolle des underdog (oder underfrog) und damit die Lesersympathie wandert von Smileys Seite zu der seines jeweiligen Wettgegners. Andererseits: wenn der Fremde mit seiner Bemerkung »›I don’t see no p’ints about that frog that’s any better’n any other frog‹« (HB XXIII, 21; »›ich finde nichts an dem Frosch, daß er besser wär als andere‹«, HA II, 21) den anti-elitären Tenor der ganzen Erzählung auf den Punkt bringt, so muss man doch auch sehen, dass sein Sieg der eines cleveren Betrügers ist (noch dazu eines Mannes aus dem Osten, wie Twain später betonte). Die Reihe solcher Ambivalenzen setzt sich fort: der nach dem frontier-Helden und demokratischen Präsidenten benannte zähe Kämpfer Andrew Jackson findet in dem (physiognomisch angemessen!) nach dem Whig-Politiker und feinen Oststaatler Daniel Webster genannten Frosch sein Gegenstück; aber wenn hier mehr als komischer Bombast beabsichtigt sein sollte, nämlich politische Satire, wie einige Leser vermutet haben, dann richtet sie sich gegen beide Seiten. Die vielfältige Bewertungsunsicherheit macht den Text ungleich komplexer als »Jim Blaine and His Grandfather’s Ram«. Das Lachen des Lesers ist nur noch zum Teil das des Liebhabers der frontier-Folklore; zum erheblichen Teil ist es das des in seiner Normenannahme immer wieder Irritierten, der sich während der ganzen Lektüre fragt, ob die Geschichte nicht irgendwo doch ihren point und damit einen Orientierungspunkt besitzt.

»A True Story, Repeated Word for Word as I Heard lt«

Die 1874 für das vornehme Atlantic Monthly geschriebene Geschichte »A True Story, Repeated Word for Word as I Heard lt« (»Eine wahre Geschichte, Wort für Wort wiedererzählt, wie ich sie gehört habe«) zeigt Twain auf der Höhe seiner Meisterschaft der literarischen Umformung mündlichen Erzählens. Dabei bleibt er ganz dicht an seiner Quelle, den Lebenserinnerungen der schwarzen Köchin im Haushalt seiner Schwägerin, die als Sklavin geboren wurde, die ihren Mann und ihre sieben Kinder verlor, als die Familie bei einer Sklavenauktion verkauft wurde, und die im Bürgerkrieg ihren Jüngsten wiederfand, als sie im Haus ihres geflohenen Besitzers als Köchin für die Nordstaaten-Truppen arbeitete, denen dieser Sohn sich angeschlossen hatte. Das Pathos des Berichts wird durch das Südstaaten-Black English der Sprecherin, »Aunt Rachel«, in Grenzen gehalten, aber auch durch die Lakonik, ja Fragmentarik der Erzählung, die sich auf wenige wichtige Situationen beschränkt. Es gibt sogar Humor, wenn Rachel von ihrer Mutter und deren Stolz auf ihre Herkunft berichtet:

»She’d straighten herse’f up an’ put her fists in her hips an’ say, ›I want you to understan’ dat I wa’n’t bawn in the mash to be fool’ by trash! I’s one o’ de ole Blue Hen’s Chickens, I is!‹ ’Ca’se, you see, dat’s what folks dat’s bawn in Maryland calls deyselves, an’ dey’s proud of it.« (HB XXIII, 241)

»Sie hat sich immer aufgerichtet, die Fäuste in die Seite gestemmt und gesagt: ›Nehmt zur Kenntnis, dass ich nicht in der Maische geboren wurde und mich nicht von Lumpenpack zum Narren halten lasse! Ich bin eine von den Hühnchen der alten blauen Henne, jawohl!‹ Nämlich so nennen sich die Leute, die in Maryland geboren sind, und sie sind stolz drauf.«

Miniaturdarstellung des Rassenproblems

Aber Scherz und Ernst liegen in dieser Geschichte dicht beieinander. Als Aunt Rachel die Formel ihrer Mutter wiederholt, um ihre Küchenordnung gegenüber den feiernden Soldaten des einquartierten schwarzen Regiments zu verteidigen, wird das zum Erkennungssignal für ihren Sohn. Doch dieser Satz in seiner von Mutter und Tochter gebrauchten Form »›I want you niggers to understan’…‹« (HB XXIII, 242; »›Ihr Nigger, nehmt zur Kenntnis…‹«) leitet nicht nur das Happy End ein, sondern signalisiert auch das tiefere Scheitern der Lösung, die der Bürgerkrieg gebracht hat. Rassen- und Klassengegensätze bestehen fort, hierarchische Strukturen sind selbst von den Unterdrücktesten der Unterdrückten verinnerlicht worden und bestimmen unreflektiert ihr Denken und Handeln. Auf ihrer Oberfläche ist die Erzählung eine eindrucksvolle Miniatur jüngster amerikanischer Geschichte – dass die von Aunt Rachel knapp, aber anschaulich geschilderte Sklavenauktion erst 22 Jahre zurücklag, dass ihr Mann und ihre sechs anderen Kinder also vermutlich noch lebten, ohne dass Aussicht bestand, sie jemals wiederzufinden, musste den Nordstaatenlesern des Atlantic Monthly unter die Haut gehen. Aber noch beklemmender ist die Allgegenwart tradiert-hierarchischen Denkens. Dabei ist der Erzählrahmen von entscheidender Bedeutung:

It was summer-time, and twilight. We were sitting on the porch of the farmhouse, on the summit of the hill, and »Aunt Rachel« was sitting respectfully below our level, on the steps – for she was our servant, and colored. She was of mighty frame and stature; she was sixty years old, but her eye was undimmed and her strength unabated. She was a cheerful, hearty soul, and it was no more trouble for her to laugh than it is for a bird to sing. (XXIII, 240)

Es war Sommer, Abenddämmerung. Wir saßen auf der Veranda des Bauernhauses, oben auf dem Hügel, und »Tante Rachel« saß ehrerbietig ein Stück tiefer als wir, auf der Treppe – denn sie war unsere Magd und eine Farbige. Sie war von gewaltiger Größe und Statur; sie war sechzig Jahre alt, aber ihr Auge sah noch klar und ihre Kraft hatte nicht nachgelassen. Sie war eine fröhliche, warmherzige Person, und das Lachen fiel ihr nicht schwerer als einem Vogel das Singen.

Klischee-Hinterfragung

Situation und Atmosphäre sind stereotyp angenehm und passend für das Erzählen jener unterhaltsamen Schwarzen-Geschichten, wie sie im 19. Jahrhundert so beliebt waren. Und Aunt Rachel ist die stereotype black mammy, das schwarze Kindermädchen; sie ist in ihrer physischen Überlegenheit eine mütterliche Zufluchtsinstanz auch für die weiße Familie, der sie jedoch sozial unterlegen ist, und dies, wie es scheint, zu Recht: beweist nicht ihre Sprache die mangelnde Intellektualität und ihre unerschütterliche Heiterkeit den Mangel an emotionalem Tiefgang, an psychischer Komplexität?

Der Rahmenerzähler, »›Misto C–‹«, wie Rachel sagt (d.h. Clemens, weil »Mark Twain« zu stark durch die Assoziation mit humoristischen Texten vorbelastet war), erliegt dieser stereotypen Situation. Er zeigt, wie sehr selbst er als aufgeklärter Intellektueller noch immer dem weißen Überlegenheitsdenken verfallen ist, wenn er fragt: »›Aunt Rachel, how is it that you’ve lived sixty years and never had any trouble? … you can’t have had any trouble. I’ve never heard you sigh…‹« (HB XXIII, 240f.; »›Tante Rachel, wie kommt es, dass du sechzig Jahre alt geworden bist und nie etwas Schlimmes erlebt hast? … du kannst nichts Schlimmes erlebt haben. Ich habe dich noch nie seufzen hören …‹«,). Aunt Rachels grimmig-realistischer Bericht belehrt ihn eines Schlimmeren. Zugleich lassen ihr völliger Mangel an Sentimentalität und Wehleidigkeit sowie ihr understatement, das in der Ironie des Schlusssatzes gipfelt: »›Oh no, Misto C–, I hain’t had no trouble. An’ no joy!‹« (HB XXIII, 247; »›Oh nein, Mista C–, ich hab noch nichts Schlimmes erlebt. Und kein Glück!‹«), ihre den Zuhörern überlegene Charakterstärke ahnen. Die Geschichte ist in der Tat eine Selbstanklage des Autors (vgl. Quirk 1997, 57–62).

Überlegenheit der mündlichen Erzählerin

Überlegen ist Rachel auch als Erzählerin. Die Lakonik ihres Berichts passt zu ihrer Persönlichkeit, die weitschweifige Gefühlsschwelgerei weder für ihren eigenen emotionalen Haushalt nötig hat, noch ihren Zuhörern aufzunötigen braucht. Ihre Erzählweise ist damit aber auch so ökonomisch, wie es sich ein Short Story-Purist nur wünschen könnte. Dabei macht Rachel auch deutlich, dass selbst der Mensch, der durch seine soziale Lage um die Teilhabe an den standardsprachlichen Kommunikationsmitteln der dominanten Kultur gebracht worden ist, über Ausdrucksmittel verfügt, die dem Gegenstand angemessen sind. Mit Körpersprache und Worten verwandelt sie den Erzählort in den Schauplatz, den auction block:

Aunt Rachel had gradually risen, while she warmed to her subject, and now she towered above us, black against the stars.

»Dey put chains on us an’ put us on a stan’ as high as dis po’ch – twenty foot high – an’ all de people stood aroun’, crowds an’ crowds.« (HB XXIII, 242)

Tante Rachel war langsam aufgestanden, während sie sich in ihr Thema hineinsteigerte, und nun ragte sie über uns, schwarz gegen den Sternhimmel.

»Sie legten uns in Ketten und stellten uns auf ein Podest so hoch wie diese Veranda – zwanzig Fuß hoch – und die ganzen Leute standen drum herum, Mengen und Mengen.«

Und als ihr Sohn Henry sich ihr zu erkennen gibt, dabei aber sich selbst erst vergewissern muss, ob seine Ahnung richtig ist, begibt er sich wortlos in die Position des zu seiner Mutter aufblickenden Kindes:

»I was a-stoopin’ down by de stove – jist so, same as if yo’ foot was de stove – an’ I’d opened de stove do’ wid my right han’ – so, pushin’ it back, jist as I pushes yo’ foot – an’ I’d jist got de pan o’ hot biscuits in my han’ an’ was ’bout to raise up, when I see a black face come aroun’ under mine, an’ de eyes a-lookin’ up into mine, jist as I’s a-lookin’ up clost under yo’ face now … an’ all of a sudden I knowed!« (HB XXIII, 246)

»Ich bückte mich gerade zum Herd runter – genau so, gerade als ob Ihr Fuß der Herd wär – und ich hatte die Herdtür mit der rechten Hand aufgemacht – so, und sie zurückgeschoben, gerade wie ich Ihren Fuß schieb – und ich hatte gerade die Pfanne mit heißem Gebäck in der Hand und wollt mich aufrichten, als ich ein schwarzes Gesicht sich unter meines schieben sah, und die Augen in meine hochschauen, gerade wie ich jetzt dicht unter Ihrem Gesicht hochschau … und mit einem Mal wusst ich’s!«

Rachels gestisches Spiel degradiert den Rahmenerzähler zum Requisit, zum Herd, das heißt zum Arbeitsplatz – und genau das ist er auch. Er könnte, so wird ihm vorgespielt, auch eine andere, eine elterlich-einfühlende Rolle spielen, doch dazu müsste er Rachel und ihre Bedeutung ›erkennen‹, wie sie ihren Sohn erkennt. So, wie die Dinge in den USA liegen, steht Rachel jedoch über ihm als leibhaftiges Symbol amerikanischer Rassengeschichte und -gegenwart, deren sogar von ihr selbst internalisierte Folgen sich lange nicht auslöschen lassen werden: »she towered above us, black against the stars« – des Rahmenerzählers konventionelle Bildlichkeit entlarvt die Grenzen seiner Sprache und Vorstellungskraft. Der wirkliche Twain/Clemens lässt jedoch gerade in dieser Verwendung des Wörtchens »black« die Diskrepanz zwischen konventionalisierter Oberfläche und der wirklichen Dimension des Problems des ›Schwarzen‹ in Amerika ahnen und verfährt damit wie der Titelheld von Herman Melvilles berühmter Erzählung »Benito Cereno«, der auf die Frage, was einen solchen Schatten auf sein Leben geworfen habe, vieldeutig antwortet: »The negro«.

Didaktisch-satirische Erzählungen; »Goldsmith’s Friend Abroad Again«

satirische Reisebriefe – Satirische Indirektheitsverfahren; »The Curious Republic of Gondour«

Twains Dialektgeschichten verwenden die Volks- und Regionalsprache viel kompromissloser, als dies, der Lesbarkeit wegen, im Roman möglich ist. Nicht erst und nicht nur mit Huckleberry Finn verschafft er also dem Dialekt einen wichtigen Platz in der anspruchsvollen Literatur. Greift Twain in diesen Werken auf die Konventionen des mündlichen Erzählens zurück, so in einem anderen Korpus von kurzen Erzähltexten auf literarische Traditionen, nämlich die Formen des didaktisch-satirischen Erzählens, auf Fabel, Parabel, Exemplum. Schon in seinen frühen Zeitungssatiren verwendet er Formen, wie man sie eigentlich eher aus dem englischen Klassizismus gewohnt ist. »Goldsmith’s Friend Abroad Again« (»Goldsmiths Freund wieder unterwegs«, 1870 in der Zeitschrift The Galaxy erschienen) hat die Form einer Serie von Briefen, die ein Land und Leute beobachtender ausländischer Besucher nach Hause schreibt; neben Montesquieu in Lettres persanes verwendete auch Goldsmith in seinem Citizen of the World (1762) diese Methode satirischer Bloßstellung. Statt Goldsmiths Englandreisendem Lien Chi Altangi ist nun sein chinesischer Landsmann Ah Song Hi der fiktive Briefschreiber. Hi reist nach Amerika, um dort Arbeit zu finden und der Unterdrückung in seinem Land zu entgehen. Stattdessen findet er sich in San Francisco mit Ausbeutung, Rassismus und Behördenwillkür konfrontiert. Twain ist also zwar inhaltlich Realist, aber formal bedient er sich hier und anderswo einer Vielzahl von satirischen Indirektheitsverfahren, daneben der utopischen Präsentation von Gesellschaftsmodellen (z.B. in »The Curious Republic of Gondour« [»Die seltsame Republik Gondour«], 1875) und sonstiger didaktischer Vermittlungsweisen.

»The Man That Corrupted Hadleyburg«

Figur des geheimnisvollen Fremden

Am bekanntesten von diesen Texten ist wohl »The Man That Corrupted Hadleyburg« (»Der Mann, der Hadleyburg korrumpierte«, 1899) geworden. Der Titel dieser langen Erzählung ist in mehrerer Hinsicht, und mit Absicht, irreführend. Die Titelfigur, der durchreisende »mysterious big stranger« (HB X, 3; der »geheimnisvolle[], hochgewachsene[] Fremde[]«, HA II, 350), der sich von der Stadt Hadleyburg beleidigt fühlt und beschließt, sich an der gesamten Bevölkerung zu rächen, erinnert in seiner unheimlichen Fähigkeit, menschliche Motivation zu durchschauen und menschliches Verhalten zu manipulieren, an jene andere Gestalt, den »Mysterious Stranger« aus Twains letzten großen Romanfragmenten. Anders als jener betätigt er sich jedoch nicht direkt als Helfer der Menschheit; zumindest scheint er sich eine solche Funktion nicht zu wünschen, denn sein Racheplan erfüllt ihn mit »evil joy« (HB X, 2; »boshafte[m] Entzücken«, HA II, 350).

Handlung als Test

Diesem wie einer Reihe anderer Hinweise auf die möglicherweise höllische Herkunft des Fremden steht freilich entgegen, dass sein Wunsch, die ganze Stadt zu bestrafen, eher an den Gott des Alten Testaments erinnert, und andererseits, dass er zumindest in einem Fall nicht mehr als normalmenschlichen Einblick in das Herz anderer zu haben scheint. Seine wahre Natur lässt sich aus dem Text nicht eindeutig erschließen, wohl aber seine Funktion: wie einige andere ›Fremde‹ mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die in Twains Spätwerk auftauchen, testet er die moralischen Eigenschaften und Prämissen der geschlossenen Welt, in die er eindringt. Außerdem führt sein Auftreten bald dazu, an der Gültigkeit gängiger sittlicher Kriterien überhaupt zu zweifeln.

Unklar ist schließlich auch, ob der Fremde Hadleyburg wirklich korrumpiert. Dass jeder der führenden Bürger des Städtchens in seine Falle tappt und durch eine von dem Fremden suggerierte Falschaussage versucht, in den Besitz eines angeblich mit Gold gefüllten Sackes zu kommen, markiert nicht wirklich den Moralverlust dieser angeblich so ehrlichen Stadt, sondern macht nur offenkundig, wie selbstsüchtig ihre Bürger schon immer gewesen sind. Der Leser, der eine der damals populären moralischen Zeitschriftengeschichten erwartet, sieht sehr bald die Stereotypen des Genres wie auch seine Moralvorstellungen in Frage gestellt.

Allegorische Ebene

Die Erzählung hat offenkundig allegorische Züge. Der Anfang, »lt was many years ago« (HB X, 1; »Es ist viele Jahre her«, HA II, 1), erinnert an traditionelle lehrhafte Geschichten, und ähnlich wirkt auch die darauf folgende Beschreibung Hadleyburgs als einer Stadt, die so stolz auf ihren Ruf der Ehrlichkeit war, dass ihre Bürger gezielt vor Versuchungen bewahrt wurden. Auch die ersten Dialoge der Figuren wirken gekünstelt und stilisiert. Namen wie »Goodson« für den einzigen wirklich guten Bürger von Hadleyburg oder »Halliday« für den fröhlichen Taugenichts des Ortes gehören in die gleiche Tradition der moralischen Beispielgeschichte. Aber ebenso wie bei dem Fremden führt eine allegorische Lesart sogleich in Schwierigkeiten, wenn die Figuren zu nahe an traditionellen Vorbildern aus Religion und Mythologie angesiedelt werden und wenn die allegorische Ebene als die einzige aufgefasst wird. Wenn Goodson eine Christusfigur ist, dann eine, die durch die Welt Hadleyburgs geprägt scheint: aggressiv und voller Verachtung für ihre philisterhaften Mitbürger. Wenn der Fremde ein Teufel ist, so einer, der die Hadleyburger nicht nur vor aller Welt bloßstellt, sondern der ihnen durch ihren öffentlichen Sündenfall auch die Chance zu einer neuen, bescheideneren Selbstsicht öffnet.

Determinismus – What Is Man? – »Moral Sense«

Wäre demnach dieser Sündenfall ein glücklicher, eine felix culpa, weil der (Selbst-)Erkenntnisgewinn ein reiferes und daher verantwortungsvolleres Leben ermöglicht? Man kann das so sehen, wenn man als den Gewinn der Hadleyburger jene Einsichten bezeichnet, die der Position des späten Twain selbst entsprechen. In der Tat wirkt die Geschichte großenteils wie eine fiktionale Umsetzung der deterministischen Gedanken, wie sie Twain in seiner Spätphase entwickelte und vor allem in seinem philosophischen Dialog What Is Man? (1906 erschienen, aber schon Ende der 1890er Jahre begonnen) veröffentlichte. Der Mensch ist demnach eine Maschine, deren Funktionieren von Umwelt und Erziehung, noch stärker von den Erbanlagen, gelegentlich aber auch von schicksalhaften Zufällen bestimmt wird. Motivierend im Einzelfall ist das Verlangen nach Selbstbestätigung und nach Bestätigung durch die Mitmenschen. Ebensowenig wie das Tier verfügt der Mensch über einen freien Willen; er ist jedoch noch schlechter dran, weil er den »Moral Sense« besitzt, der ihm sagt, welche von zwei Entscheidungsmöglichkeiten die gute und welches die böse ist, ohne dass er die Freiheit der Entscheidung hätte. In einem aus der Endfassung von What Is Man? entfernten Abschnitt wird der »Moral Sense« sogar als der Grund dafür dargestellt, dass wir Unrecht tun können (vgl. Baender, »Introduction«, XIX, 1–34; Jones 1957).

Problematische Ethik

In »The Man That Corrupted Hadleyburg« wird gezeigt, dass auch die strikteste Erziehung zur Ehrlichkeit der angeborenen Fehlbarkeit des Menschen unterliegen muss, wenn ein größerer Selbstvorteil in unehrlichem Handeln liegt, und dass folglich abstrakte ethische Lehren sinnlos oder sogar gefährlich, weil einschläfernd sind. Die Mittelpunktsfiguren der Geschichte, das alte Ehepaar Richards, sind triste Neuzeit-Versionen von Philemon und Baucis, die gegenüber den von dem Fremden gestellten Aufgaben nur versagen können. Aus (wegen ihrer Armut durchaus verständlichem) Eigennutz versuchen auch sie, an den ihnen nicht zustehenden Reichtum zu gelangen, und aus Furcht vor der öffentlichen Meinung lassen sie Unrecht geschehen und schweigen auch dann noch, als sie irrtümlich in den Ruf geraten, die einzigen Rechtschaffenen unter den führenden Bürgern der Stadt zu sein. Von ihrem Gewissen als Instrument des »Moral Sense« gepeinigt, gehen sie physisch und psychisch zugrunde. Sie sind in vielfältiger Weise Opfer und damit Sympathieträger, und dennoch so schwach, dass sich der Leser nur schwer mit ihnen identifizieren kann. Zwar vermögen sie mit ihrem Sterbebettbekenntnis ihr Gewissen zu befreien, doch Richards’ Wunsch, »›that I may die a man, and not a dog‹« (HB X, 68; »›damit ich wie ein Mann sterbe und nicht wie ein Hund‹«, HA II, 405), birgt bittere Ironie, denn laut Twain kann ein Hund kein Unrecht tun. Für Richards bleibt in dieser Welt ohne erkennbare Transzendenz im christlichen Sinn bei seinem letzten Akt nur die Befriedigung desjenigen Teils seiner Selbstsucht, der noch befriedigt werden kann.

»Poor Richard« – Protestantische Arbeitsethik – Zeitsatire

Die armen Richards sind moderne Parodien jenes »Poor Richard«, in dessen Mund Benjamin Franklin 150 Jahre zuvor allerlei Ratschläge für den Weg zum Erfolg gelegt hatte. In der Tat wirkt Hadleyburg mit seiner Verbindung von theoretischer Frömmigkeit und dem Streben nach weltlichem Reichtum, und mit seiner Reduktion von Moral auf den guten geschäftlichen Ruf wie eine Illustration protestantischer Arbeitsethik, wie sie Max Weber in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus zur Grundlage der amerikanischen Gesellschaftsentwicklung erklärt hat. Damit ist aber zugleich eine andere Textebene angesprochen: die der Zeitsatire. Denn die Handlung der Geschichte spielt nicht wirklich »long ago«, sondern, wie der Hinweis auf die sensationshungrigen AP-Korrespondenten zeigt, in der jüngsten Vergangenheit, im »Gilded Age«, wie die amerikanischen Gründerjahre nach dem Bürgerkrieg, dem Titel von Twains erstem Roman folgend, genannt werden – nicht umsonst enthält der Sack keine Münzen, sondern nur vergoldete Bleischeiben. Twain zeigt, wohin es mit »Poor Richard« unter dem Geist des Kapitalismus gekommen ist: Richards ist arm und Kassierer an jener Bank, deren Besitzer Pinkerton allen Gewinn für sich selbst entnimmt; nur durch Betrug könnte er noch reich werden.

Auch von der Masse der Bevölkerung ist wenig zu erwarten, denn die Kleinbürger, die in der Aufklärung bringenden Stadtversammlung zu Wort kommen, haben vor allem den Wunsch, in den Kreis der Führenden aufzusteigen. Dass es sich bei diesen Kleinbürgern um Angehörige der traditionellen Handwerksberufe handelt, bei den Spitzen der Stadtoligarchie jedoch um Bankiers und Industrielle, spiegelt ein Stück amerikanischer Geschichte. Wenn der Aufklärungsszene dennoch besonderes Gewicht zukommt – und dies wird dadurch bestätigt, dass sie fast die Hälfte der Gesamtlänge des Textes einnimmt – so deshalb, weil hier die breite Bevölkerung ihr Potential an common sense beweist, die Szene zeitweise zur Gottesdienstparodie umwandelt und die Scheinheiligkeit der Honoratioren satirischem Gelächter preisgibt: ein kathartischer Höhepunkt der Erzählung.

Die amerikanische Kleinstadt

Insgesamt kann jedoch weder auf der philosophisch-allegorischen, noch auf der zeitsatirischen Ebene von einem positiven Ausgang gesprochen werden. Trotz seiner Einsicht ist das Individuum nicht in der Lage, aus freiem Willen das Gute zu tun – noch mit seinen Sterbeworten richtet Richards neues Unheil an, indem er den Gemeindegeistlichen inkriminiert. Aber auch die Gesellschaft ist allenfalls realitätsbewusster, nicht besser geworden. Pinkerton konkurriert mit dem Patentmedizin-Hersteller Harkness um einen Parlamentssitz, den beide dazu benutzen wollen, die Trasse einer geplanten Eisenbahn so legen zu lassen, dass sie über ihren eigenen, zu Spekulationszwecken gekauften Boden führt. Obwohl beide von dem Fremden als Lügner entlarvt werden, findet die Wahl statt und Harkness gewinnt – durch betrügerische Wählerbeeinflussung. Die Schlusswendung, Hadleyburg »is an honest town once more« (HB X, 69; »ist wieder eine redliche Stadt«, HA II, 406), macht in bitterer Ironie das Städtchen zum Repräsentanten für die amerikanische Kleinstadt schlechthin, und diese galt noch im frühen 20. Jahrhundert, etwa bei Sinclair Lewis (in Main Street) und Thornton Wilder (in Our Town), als Basiseinheit der amerikanischen Gesellschaft insgesamt. Der Mythos vom American Adam, vom sittlichen Neubeginn in der Neuen Welt, hat sich für Twain in das Bild des zerstörten Paradieses Amerika verwandelt.

Arbeitsweise, Strukturzüge

Nicht nur für Twains Altersphilosophie, auch für seine Arbeitsweise ist »The Man That Corrupted Hadleyburg« repräsentativ. Die Geschichte belegt seine Neigung, von dramatisch konzipierten Szenen und von besonders interessanten Figuren auszugehen und die passende Handlung erst hinzuzusuchen. In typischer Weise setzt er sich in diesem Text auch über Gattungsgrenzen und damit verbundene Kommunikationserwartungen hinweg und mischt Konventionen der traditionellen symbolischen oder allegorischen moralischen Geschichte mit den realistischen Strategien modernen Erzählens. Der distanziert-künstliche Stil der Exposition bleibt daher nicht erhalten, sondern weicht in großen Teilen der Erzählung der Wiedergabe zeitgenössischer Umgangssprache. Nicht nur Stilmischung, sondern drastische Stilbrüche erscheinen in der Aufklärungsszene, wo Twain gelegentlich auf seine humoristische Vergangenheit zurückgreift: »… when the Rev. Mr. Burgess rose … he could hear his microbes gnaw, the place was so still« (HB X, 32; »… als Ehrwürden Burgess aufstand …, konnte er [seine] Mikroben knabbern hören, so still war es«, HA II, 376). Wenn hier in einer für Twain nicht untypischen Weise die ästhetische Einheit verletzt wird, so deshalb, weil der Autor an dieser Stelle in das reinigende Gelächter seiner Figuren einstimmt, weil er sich hier seine eigene Empörung von der Seele schreibt. Häufig benutzt er seine Figuren als Sprecher; in »The Man That Corrupted Hadleyburg« macht er den geheimnisvollen Fremden sogar zum Werkzeug des Satirikers, das solche Reaktionen auszulösen vermag.

Mark Twain

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