Читать книгу Damenopfer - Helmut Barz - Страница 4
»Zehntausend unerkannte Morde!«
ОглавлениеDas entrüstet-dräuende Tremolo der Moderatorin bringt die Lautsprechermembrane zum Erbeben. »Diese Schlagzeile schockierte Deutschland vor einigen Monaten. Schuld sind, darin sind sich die Experten einig, mangelhaft ausgebildete, schlampig arbeitende Ärzte, unerfahrene Ermittler und an den Rand der Arbeitsunfähigkeit zusammengesparte rechtsmedizinische Institute. – Willkommen bei ›Hessen live‹, dem Morgenmagazin auf Radio Hessen mit Mona …«
»… und Lisa!«, piepst eine jüngere Stimme unangemessen fröhlich. »Es ist jetzt sieben Uhr und sechs Minuten. – Der Volksmund sagt: Wenn auf dem Grab jedes Ermordeten eine Kerze brennen würde, wären unsere Friedhöfe nachts taghell erleuchtet. Ist das wirklich so? Und wie will das Land Hessen diesem Missstand begegnen?«
»Über diese Fragen wollen wir mit unseren ersten Gästen heute Morgen sprechen«, übernimmt wieder die erste Moderatorin das Wort, ihr Tremolo so drohend, als wolle sie besagten Gästen Daumenschrauben anlegen. »Telefonisch zugeschaltet ist dazu die kriminalistische Leiterin der neu gegründeten Sonderermittlungseinheit eins Frankfurt am Main, Kriminaldirektorin Katharina Klein. – Frau Klein, guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
»Und auf der anderen Leitung begrüße ich Doktor Andreas Amendt«, piepst die jüngere Moderatorin. »Chefarzt des Institutes für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin.«
»Guten Morgen. – Wenn ich Sie gleich einmal korrigieren darf –«
»Herr Doktor Amendt, verzeihen Sie, dass ich Sie unterbreche«, aus dem Piepsen wird ein begeistertes Tschilpen, »Aber ›okkulte Pathologie‹: Das bedeutet doch nicht, dass Sie sich mit Teufelsaustreibungen befassen, oder?«
»Nur in Ausnahmefällen«, nimmt der Angesprochene souverän den Ball auf. »Okkult heißt verborgen, und eine Aufgabe des Institutes wird es sein –«
Die erste Moderatorin stoppt ihn robust: »Herr Doktor Amendt, zehntausend Morde: Ist diese Zahl überhaupt realistisch? Und wenn ja, wie werden Sie in Ihrem Institut in Zukunft dieses Thema adressieren?«
»Nun, wie ich gerade schon ausführen wollte …« Der Interviewte zögert, als erwarte er eine erneute Unterbrechung. »Diese Zahl ist natürlich viel zu hoch gegriffen. Wir sprechen von zehntausend Todesfällen, bei denen eine eigentlich indizierte Obduktion nicht vorgenommen wurde. Darunter finden sich schätzungsweise tausendzweihundert bis tausendfünfhundert Tötungsdelikte. Bei etwa zweitausenddreihundert erkannten vollendeten oder versuchten Tötungsdelikten im Jahr 2007 also eine Dunkelziffer von sechzig Prozent. Was sicher immer noch zu hoch ist.«
»Aber –«, beginnt das Moderatorentremolo, doch die jüngere Stimme ist schneller: »Und die restlichen neuntausend?«
»Bei diesen Fällen geht es vor allem darum, die eventuell unter etwas oberflächlichen Bedingungen festgestellte Todesursache zu verifizieren, also nicht nur Tötungsdelikte auszuschließen, sondern auch ansteckende Erkrankungen oder Vergiftungen, etwa durch Umwelteinflüsse.«
Mit Macht reißt das Tremolo das Wort wieder an sich: »Gerade im Rahmen der eingangs zitierten Schlagzeile las man ja immer wieder von Fällen, bei denen der Hausarzt auf Herzanfall erkannte und erst der Bestatter das Messer im Rücken des Toten entdeckte. Herr Doktor Amendt, gibt es solche Fälle wirklich? Und wenn ja: Wie wird Ihr Institut sie in Zukunft verhindern?«
»Ja, solche Fälle kommen vor, leider. Allerdings auch nicht allzu häufig, das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass die Qualität der sogenannten äußeren Leichenschau, die bei jedem Verstorbenen vorgenommen wird, sehr stark schwankt. Das liegt zum einen an einer nicht immer gewissenhaften Ausführung: So wird zum Beispiel aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen oder weil man es mit einer sogenannten Ekelleiche zu tun hat, die bereits stark verwest ist, auf das vollständige Entkleiden verzichtet. Aber ebenso problematisch ist die mangelnde Ausbildung von Ärzten. Fortbildungen in der Leichenschau werden sicher einen Schwerpunkt unserer Tätigkeit bilden.«
»Herzlichen Dank, Herr Doktor Amendt.« Die Enttäuschung des Tremolos über diese so souveräne wie nichtssagende Antwort ist deutlich zu hören. »Frau Klein! Die deutsche Kriminalpolizei rühmt sich einer Mordaufklärungsquote von über fünfundneunzig Prozent. Ist das angesichts der von Doktor Amendt erwähnten großen Dunkelziffer gerechtfertigt?«
Kurzes Zögern, dann: »Wir können nur ermitteln, wenn wir zumindest einen Anfangsverdacht haben. Jeden Todesfall unter die Lupe zu nehmen, dazu fehlen uns die Kapazitäten, und das wäre auch sicher nicht im Sinne der Bevölkerung.«
»Aber hat nicht gerade die Bevölkerung ein Recht –?«
»Dingdong«, fällt ihr die Interviewpartnerin sarkastisch ins Wort. »Guten Tag, wir sind von der Kriminalpolizei, haben Sie zufällig Ihren Großvater umgebracht?«
»Ich verstehe«, erwidert das Tremolo säuerlich.
»Frau Klein ist übrigens eine sehr verdiente Kriminalbeamtin mit einer Aufklärungsquote von hundert Prozent.« Die jüngere Moderatorin platzt fast vor Stolz ob ihres Fachwissens.
Dankbar, über eines ihrer Lieblingsthemen sprechen zu können, greift das Tremolo das Stichwort auf: »Mit dreiunddreißig ist Katharina Klein die jüngste Kriminaldirektorin in Hessen und zudem eine der wenigen Frauen im höheren Polizeidienst. – Frau Klein, wie beurteilen Sie die Situation von Frauen bei der Polizei? Wären Sie für die konsequente Durchsetzung einer Frauenquote? Und was werden Sie zur Förderung von Frauen in Ihrer Sonderermittlungseinheit tun?«
Kurzes Papiergeraschel, dann die abgelesene Antwort: »Wir werden natürlich auch in der Sonderermittlungseinheit die Richtlinien der hessischen Landesregierung zur Förderung und Gleichstellung der Frau umsetzen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen ja, dass diese Maßnahmen greifen.«
»Mehr nicht?« Das Tremolo vergisst vor lauter Enttäuschung sogar das Betroffenheitsbeben.
»Natürlich bin ich für eine Quote«, kommt die knurrende Antwort. »Ich werde mich bemühen, zu einhundert Prozent qualifizierte Mitarbeiter einzustellen. Das Geschlecht sollte dabei zweitrangig sein.«
»Natürlich.« Im bittersüßen Tonfall des Tremolos kann man den Ball geradezu ins Aus rollen hören. »Aber da wir gerade davon sprechen: Sie sind als Halbjapanerin jemand, den das Innenministerium ein ›gelungenes Beispiel für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund‹ nennt –«
»Meine Mutter war Koreanerin«, wird sie schroff zurechtgewiesen, »und außerdem Professorin an der Frankfurter Universität. Ich bin in Frankfurt geboren und aufgewachsen. Ich glaube nicht, dass ich besonders integriert werden musste.«
»Natürlich. Verzeihung. Aber stimmen Sie nicht trotzdem der Politik von Innenminister Hanfried de la Buquet zu, der hinsichtlich der hohen Kriminalitätsrate von Menschen mit Migrationshintergrund gerade im Bereich Gewalt gegen Frauen mehr Beamte mit Migrationshintergrund einstellen will?«
»Das ist sicher eine sinnvolle Maßnahme. Allerdings ist meine Erfahrung auch, dass Gewalttäter aus allen Bevölkerungsschichten stammen. Alles andere ist Panikmache und billige Hetze.«
»Das ist schon fast ein schönes Schlusswort«, übernimmt die jüngere Moderatorin. »Jetzt fehlt nur noch der Hinweis, dass das ›Institut für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin‹ sowie die Sonderermittlungseinheit heute mit einem Festakt eröffnet werden – und zwar um dreizehn Uhr in der Karl-Kreutzer-Villa am Schaumainkai 71. Danach sind die Räumlichkeiten im Rahmen eines Tags der offenen Tür für die Öffentlichkeit zugänglich. Außerdem wird es ein umfangreiches themenbezogenes Rahmenprogramm geben. – Herr Doktor Amendt, das bedeutet aber nicht, dass Sie nachher noch eine Leiche aufschneiden, oder?« In der Stimme der Moderatorin mischen sich Abscheu und morbide Neugier.
»Nein, natürlich nicht. Wir werden eher allgemeine Einblicke in unsere Arbeit geben. Und die Einheit von Frau Klein … – Aber das erzählt sie am besten selbst.«
»Was? – Ach ja, wir werden an einem kleinen Beispiel zeigen, wie die Kriminaltechnik einen Tatort absichert und untersucht, welche Fragen wir uns stellen und so weiter.«
»Gut, dann sehen wir uns heute um dreizehn Uhr am Schaumainkai 71«, verkündet die jüngere Moderatorin vergnügt. »Herzlichen Dank an unsere telefonischen Gäste: Kriminaldirektorin Katharina Klein und Doktor Andreas Amendt. – Und jetzt U2 mit ›Sunday, Bloody Sunday‹.«
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