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Rochade Montag, 7. April 2008
Montag. Natürlich Montag

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»Like dogs who sniff each other when meeting, chess players have a ritual at first acquaintance: they sit down to play speed chess.«

Anatoly Karpov

Noch immer in der

gemütlichen Dachgeschosswohnung

im Westend.

Was hatte sie denn jetzt schon wieder geweckt?

Der Wecker auf Katharinas Nachttisch zeigt 6:30 Uhr. Er würde erst in einer halben Stunde klingeln.

Sie war trotzdem wach. Warum also die Zeit bis zum Aufstehen nicht nutzen? Sie drehte sich um, um sich an Andreas Amendts nackten Körper zu kuscheln. Doch … Die Seite des Bettes war leer. Sie musste geträumt haben.

Schade.

Moment!

Das hatte sie geträumt?

Dass er nach ihrem nächtlichen Gespräch nicht zurück ins Gästezimmer gegangen war, sondern mit ihr ins Schlafzimmer?

Verdammte Hormone! Verdammter früher Frühling!

Fast war Katharina dankbar, dass sie in diesem Moment das Schrillen der Türklingel aus ihren Gedanken riss.

Großer Gott! Wer wollte denn so früh etwas von ihr? Katharina wälzte sich aus dem Bett und streifte den übergroßen Bademantel über, der an einem Haken an der Schlafzimmertür hing.

Faustschläge pochten dumpf gegen ihre Wohnungstür.

Ja doch!

Sie vergewisserte sich mit einem Blick in den Garderobenspiegel, dass sie halbwegs manierlich aussah, und öffnete.

Der Mann, der vor der Tür gestanden hatte, trat gleich einen Schritt auf Katharina zu, sodass er in ihrem Flur stand.

»Michael Glaser, persönlicher Referent des Innenministers«, stellte er sich zackig vor. »Ich habe Anweisung, Sie nach Wiesbaden ins Innenministerium zu bringen.«

»Warum das denn?«

»Der Innenminister bittet Sie um eine persönliche Unterredung, in der er –«

»Alles in Ordnung?« Amendt war in den Flur getreten, nur mit Boxershorts bekleidet.

»Innenminister de la Buquet möchte Frau Klein sprechen. Und Sie auch, Doktor Amendt«, antwortete Glaser hastig, den Blick gesenkt. »So bald wie möglich. Ich … Ich warte wohl besser unten im Wagen.«

***

Die schwarze Mercedes-Limousine blockierte drei Parkplätze im Hof von Katharinas Haus. Michael Glaser lehnte am Kofferraum, ungeduldig mit den Fingern auf das Blech trommelnd. Wortlos öffnete er ihnen die Tür zum Fond und schwang sich selbst auf den Beifahrersitz. Natürlich hatte der Wagen einen Chauffeur.

»Na, dann wollen wir mal«, verkündete Glaser. »Ich nehme an, Sie haben die Schlagzeilen heute Morgen noch nicht gesehen?« Er reichte Katharina eine Ausgabe der »Frankfurter Presse«.

»Warum, Jan-Ole?« Die Schlagzeile nahm fast die ganze obere Hälfte der Titelseite ein. Darunter ein Bild von Vogel: Er presste sich gerade die Pistole unter das Kinn. Man musste die Geistesgegenwart des Fotografen bewundern. Oder seine Skrupellosigkeit.

Der Chauffeur steuerte den Wagen in den Frankfurter Morgenverkehr. Die Fahrt nach Wiesbaden konnte eine Weile dauern. Amendt hatte Katharina ein oder zwei schüchterne Seitenblicke zugeworfen und starrte jetzt auf die lederbezogene Lehne des Beifahrersitzes. Katharina hätte gerne gewusst, was er geträumt hatte. Allerdings war der Dienstwagen des Innenministers sicher nicht der richtige Ort für solch ein Gespräch. Also schlug sie die Zeitung auf.

Der Artikel zu den Ereignissen des Vortags und der Nachruf auf Jan-Ole Vogel nahmen die erste Doppelseite ein. Der Ablauf war recht nüchtern wiedergegeben: die Reden, der Auftritt Vogels mit einer wörtlichen Wiedergabe seiner letzten Worte, die Beschreibung des Schusses, das Chaos danach, ein paar Stimmen von der Pressekonferenz im Polizeipräsidium.

Kein Wort über ihren Sturz. Ihr Versagen. Glück gehabt.

Sie widmete sich Vogels Nachruf. Der erste Teil gab in groben Zügen Vogels Leben wieder. Jahrgang 1963. Abitur auf einem Nobelinternat, Zivildienst in der Obdachlosenbetreuung, Jurastudium, Promotion – natürlich Prädikatsexamen und »Summa cum laude«, Arbeit als Anwalt und Justiziar in der freien Wirtschaft bei einem Unternehmen namens Lionshare BioPharm …

Katharina meinte, von dem Unternehmen schon einmal gehört zu haben. In Zusammenhang mit einem Fall? Sie kramte in ihrem Gedächtnis, doch sie kam nicht drauf.

Nach der Arbeit bei Lionshare BioPharm war Vogel in die Landespolitik eingestiegen. Staatssekretär, Landesvorsitzender und im Bundesvorstand der liberalen Partei, schließlich Minister. »Die Karriereleiter steil bergauf«, nannte das der Artikel. Irgendwo mittendrin die Heirat mit seiner Frau Christiane, einer Frauenärztin. Keine Kinder.

Vogel sei beliebt gewesen, fuhr der Artikel fort, einer der beliebtesten Politiker weit über die Landesgrenzen Hessens hinaus, gerade in der wichtigen Wählergruppe der Frauen. Viele hatten in ihm schon den nächsten Ministerpräsidenten gesehen, einige sogar den Kanzler.

Ein Politiker mit steiler Karriere hinter sich und noch größerer vor sich. Doch kein Karrierist, stellte der Artikel in einer Zwischenüberschrift fest. Keiner, der mit schmierig zur Schau gestellter Volksnähe um die Wählergunst buhlte. Keiner, der mit vorgefertigten Aussagen in Talkshows saß.

Im Gegenteil, wie der Kommentator betonte. Vogel hatte sein Mandat sehr ernst genommen und war keinem Streit aus dem Weg gegangen: Mit dem Innenminister und den Sicherheitsbehörden, wenn es um die Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten ging. Mit dem Ministerpräsidenten, dessen sturzkonservative Haltung er als verdächtig weit im schwarzbraunen Grenzgebiet verortete. Mit der eigenen Partei, deren Credo »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« ihn so anwiderte, dass er auf dem letzten Parteitag den Antrag gestellt hatte, alle Parteifunktionärsgehälter zu streichen.

Das, so eröffnete der Artikel endlich den munteren Reigen der Spekulationen über das Motiv für Vogels Selbstmord, mochte auch der Grund für seine Verzweiflung gewesen sein. Dass in diesem Land Argumente und das sachlich Richtige nicht mehr zählten. Dass man einander nicht mehr zuhörte. Dass jeder sich nur noch seiner Klientel verpflichtet fühlte. Und dem dumpf braunwabernden Sumpf des Stammtischs.

Der Artikel spekulierte weiter, dass vielleicht – hinter den Kulissen – Feinde an Vogels Stuhl gesägt hatten. Und Vogel, ganz der Schachspieler, hätte nur ein paar Züge vorausgedacht. Das Foto neben diesem Absatz zeigte ihn dann auch über ein Schachbrett gebeugt.

Zuletzt, wohl als Ausgleich für die Verschwörungstheorien, zitierte der Artikel einen Psychiater, der darauf hinwies, dass die weitaus häufigste Ursache für einen Suizid in einer psychiatrischen Erkrankung zu finden sei, oft gepaart mit einer Lebenskrise, die sich eher aus dem privaten Umfeld speiste.

Katharina ließ die Zeitung sinken. Der Slip. Die Narben. Die sexuellen Vorlieben. All das schien dem Psychiater recht zu geben. Doch als Todesermittlerin hatte sie mehr Suizide gesehen, als ihr lieb war. Oft blieben die Gründe im Dunklen, Diagnosen wurden posthum gestellt. Der Ringschluss »Der Tote hat Selbstmord begangen, also muss er psychisch krank gewesen sein, ergo war eine psychische Erkrankung die Ursache« war ihr schon immer bitter aufgestoßen. Zu einfach. Zu glatt.

»Was glauben Sie, warum er es gemacht hat? Vogel, meine ich?«, unterbrach Glaser ihre Gedanken. Er hatte sich auf dem Beifahrersitz zu Amendt und ihr umgedreht.

Katharina hatte keine Antwort für ihn. Auch Amendt sagte nur: »Das kann ich Ihnen nicht so einfach beantworten. Fest steht für mich nur, dass er es wirklich gewollt hat.«

»Was gewollt hat?«, fragte Glaser verständnislos.

»Sterben. Der präzise Schuss unters Kinn. Der Schluck Wasser vorher …«

»Warum haben Sie dann alles getan, um ihn zu retten?«

»Weil ich es musste. Ich hatte klare Lebenszeichen. Also war ich als Arzt zur Rettung verpflichtet. Aber manchmal dauert es halt nur etwas, bis der Rest des Körpers begriffen hat, dass das Hirn nicht mehr arbeitet.« Nach einem Moment des Schweigens fügte Amendt hinzu. »Außerdem hasse ich es, wenn Menschen sterben.«

»Und dann sind Sie ausgerechnet Rechtsmediziner geworden?«

»Vielleicht gefällt mir die Ironie.«

Amendts zynisch hingeworfener Satz brachte Glaser zum Schweigen. Katharina glaubte, die wahre Antwort zu kennen. Wie hatte es Paul Leydth, Amendts Zieh- und Doktorvater, formuliert? »Medizin ist nur ein höfliches Wort für den Krieg mit dem Tod. Und Andreas hat sich schon immer als Ein-Mann-Spezialeinheit an vorderster Front gesehen.« Als Gerichtsmediziner sei er im »Dauereinsatz hinter den feindlichen Linien«.

Und natürlich hatte sich Amendt auch deshalb für die Fachrichtung entschieden, um irgendwann seine eigene Vergangenheit aufzuklären. Herauszufinden, ob er wirklich Katharinas ganze Familie ermordet hatte.

Er hatte es nicht. Er und Katharina hatten den wahren Täter gefunden. Auf der Suche hatte Amendt jedoch all die Menschen verloren, die ihm etwas bedeuteten.

Katharinas Gedanken wanderten zurück zum Tag von Amendts Suizidversuch. Zu ihrem Abschied vor seiner Haustür. Was hatte Amendt da gesagt? »Ob ich nun als Neurologe daran scheiterte, unheilbar Kranken zu helfen, oder als Gerichtsmediziner den Toten … Es kommt wohl aufs Gleiche raus.« Er hatte unendlich müde geklungen. »Ehrlich gesagt will ich jetzt erst einmal schlafen. Und am liebsten nicht mehr aufwachen.«

»Schlafen und nicht mehr aufwachen.« Das war eine Suizidankündigung aus dem Lehrbuch.

»Damit Sie an mich denken. Andreas Amendt« war auf einer UV-Lampe eingraviert gewesen. Amendts Abschiedsgeschenk an sie. Sein Abschiedsbrief. Sieben Worte.

***

Im Büro

des Innenministers.

»Spielen Sie Schach?«

Katharina konnte den Frager im düsteren Halbdunkel des Büros zunächst nicht ausmachen. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, einzig eine kleine Lampe warf dämmriges Licht auf einen Tisch mit einem Schachspiel. Dahinter, im Halbdunkel, kauerte Hanfried de la Buquet. Ein uralter Mann, dachte Katharina. Sie trat an den kleinen Tisch und besah sich die Stellung auf dem Schachbrett.

»Ich sehe den Zug nicht. Ich sehe ihn einfach nicht …«, murmelte der Minister eher zu sich selbst als zu seinen Gästen. Katharina fragte sich, ob sie sich im Sessel ihm gegenüber niederlassen sollte. War dies ein Test?

De la Buquet blickte erstaunt auf, als habe er Katharina eben erst bemerkt. Seine Gestalt straffte sich, mit einem Ruck stand er auf.

»Ah, Kriminaldirektorin Klein«, sagte er energisch. »Gut, dass Sie da sind. Ich muss mit Ihnen über Ihren Bericht sprechen!« Er ging an Katharina vorbei zu seinem Schreibtisch und drückte auf einen Schalter. Licht flammte auf. Die schweren Vorhänge fuhren automatisch beiseite und ließen den Frühlingsmorgen hinein. Gleichzeitig klappten die oberen Teile der deckenhohen Fenster auf.

Der Innenminister setzte sich in den Sessel hinter seinem monströsen Eichenschreibtisch aus der Gründerzeit, der sich in die nüchtern-moderne Architektur des Innenministeriums ungefähr so gut einpasste wie eine tausendjährige Buche in einen japanischen Bonsaigarten.

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte er beflissen. »Bitte, bitte, setzen Sie sich. Und entschuldigen Sie, dass ich Sie vor Tau und Tag hierher zitiert habe. Das ist sonst nicht meine Art. Wirklich nicht. Aber ich fürchte, was ich mit Ihnen beiden zu besprechen habe, duldet keinen Aufschub.« Er begann, hektisch die Schubladen seines Schreibtisches aufzuziehen und zu durchwühlen. »Wo habe ich denn …? Ach, hier.«

Er warf einen Schnellhefter auf den Tisch. Katharina nahm ihn und blätterte ihn durch: der Bericht, den sie am Vortag erstellt hatten.

»Und?«, fragte sie.

»Ich bin sehr unzufrieden damit.«

»Er enthält eine genaue Dokumentation des Vorfalls wie erbeten.« Katharina ärgerte sich, dass sie so defensiv klang.

»Was vorgefallen ist, weiß ich auch so!«, blaffte der Innenminister. »Ich saß ja schließlich direkt daneben. – Das Warum will ich wissen! Warum hat Vogel sich erschossen?«

Katharina wollte etwas sagen, doch Amendt kam ihr zuvor: »Das Warum ist bei Suiziden nicht unsere Aufgabe. Angesichts der Mittel und Zeit –«

Der Innenminister hob die Hand, um Amendt zu bremsen: »Ich weiß, ich weiß. Vielleicht habe ich auch einfach nur ein Wunder erwartet. Also gut …« Er griff wieder in die Schublade und zog einen Briefumschlag hervor, aus dem er zwei kleine Karten nahm, die wie besonders hochklassige Kreditkarten aussahen. Er legte die Karten vor Katharina und Amendt auf den Schreibtisch. Sie waren schwarz, hatten ihre Namen sowie mehrere Nummern eingeprägt und trugen ihre Fotos neben dem Dienstsiegel des Innenministeriums. »Hier! Die werden Ihnen die notwendigen Türen für Ihre Aufgabe öffnen. Ich ernenne Sie beide temporär zu Speziellen Ermittlern im Dienste des Innenministeriums.« Er lachte schrill auf: »Intern sprechen wir von den SEDI-Rittern.«

Katharina sah noch einmal auf die Karte, dann zu de la Buquet. »Was für eine Aufgabe?«

»Ich werde Ihre Befugnisse zeitlich befristet ein wenig erweitern. Aber …« Er wühlte sich durch die Aktenberge auf seinem Schreibtisch und zog endlich einen weiteren Hefter hervor, den er hektisch durchblätterte. »Ach ja, hier. Aufgaben der Sonderermittlungseinheit, römisch zwei. Die Sonderermittlungseinheit ist befugt und beauftragt, Todesfälle auf das Vorliegen einer Straftat oder auf ein mögliches Gefährdungspotenzial für die Bevölkerung oder den Staatsfrieden hin zu untersuchen und auszuermitteln. – Ja, genau. Um Ihnen das im vorliegenden Fall zu erleichtern, erweitere ich temporär Ihre Befugnisse.« Mit großer Geste legte de la Buquet die Hände auf den Tisch und spreizte die Finger. »Haben Sie noch Fragen?«

»Was genau sollen wir denn tun?«, fragte Amendt.

Der Innenminister sah ihn an, als hätte Amendt ihn gebeten, das kleine Einmaleins aufzusagen. »Ich möchte natürlich, dass Sie den Tod von Jan-Ole Vogel untersuchen. Gründlich. Ursachen, Folgen, wer darin verwickelt ist. Sie berichten mir direkt. Die strafrechtliche Bewertung ist sekundär.«

Andreas Amendt räusperte sich. »Viel zu untersuchen gibt es da aus meiner Sicht nicht. Die Todesursache ist eindeutig. Und der Freitod auch. Ein Gefährdungspotenzial kann ich nicht sehen.«

»Hören Sie mir nicht zu? Warum hat er sich umgebracht? Das muss ich wissen!« De la Buquet stand auf, ging mit schnellen Schritten durch den Raum und deutete auf das Schachspiel: »Vorgestern Abend noch habe ich mit ihm Schach gespielt. Und ich bilde mir ein, ein guter Menschenkenner zu sein. Aber nichts! Ich zermartere mir schon die ganze Zeit den Kopf …« Der Innenminister schien zu schrumpfen. Er wurde wieder der alte Mann hinter dem Schachbrett. Müde. Kraftlos. Selbst sein buschiger Vollbart hing herab wie eine Fahne bei Flaute.

Andreas Amendt hatte sich erhoben und war zu de la Buquet gegangen. Er hatte die Hand auf dessen Arm gelegt und sprach jetzt leise auf ihn ein: »Sie wissen vielleicht, dass bei Suiziden … Also, nicht immer ist das zu verstehen und zu verkraften, was zum Vorschein kommt, wenn man allzu genau hinschaut. Vielleicht wäre es besser –«

Weiter kam er nicht. Ein Ruck ging durch den Innenminister und er wurde wieder zum Máximo Líder. »Genau deshalb muss ich es wissen. Und zwar nach Möglichkeit vor allen anderen. Vor allem vor den Medien!« Er ging wieder zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Dann legte er die Fingerspitzen aneinander. Nein, er presste. So fest, dass das Fleisch unter den Nägeln weiß wurde. Doch seine Stimme klang wieder ganz nach Politikprofi: »Was das Gefährdungspotenzial betrifft: Ich meine, wenn nun ein politischer Grund dahintersteckt? Sie haben ja sicher mitbekommen, dass unsere momentane Regierungskoalition nicht so fest im Sattel sitzt, wie sie sollte. Wie schnell kann so ein Skandal sich ausweiten? Und dann? Neuwahlen mit ungewissem Ausgang? Und wer weiß, wer da seine Finger im Spiel hatte. Und wer der Nächste auf seiner Abschussliste ist.«

Katharina sah zu Andreas Amendt, doch der schwieg. Also fragte sie: »Meinen Sie, jemand hat Vogel in den Selbstmord getrieben? Und wie?«

»Was weiß ich. Erpressung. Drohung von Enthüllungen.«

»Hatte Vogel denn –?«

»Doktor Vogel, wenn ich bitten darf.« De la Buquet musterte Katharina. »Gut, Sie sind keine Politikerin. Aber ich mache das seit zwanzig Jahren. Und glauben Sie mir: Jeder hat seine Leichen im Keller. Echte oder von anderen erfundene. Die Wahrheit spielt keine Rolle. Nicht bei unseren Hetzmedien. Die schlachten uns um des Schlachtens willen. Wegen der tollen Schlagzeile.«

Katharina kaute auf ihrer Unterlippe: »Die Sonderermittlungseinheit ist eine Strafermittlungsbehörde. Und ob wir da befugt –«

»Deshalb habe ich Sie beide ja zu SEDI-Rittern ernannt. – Normalerweise hätte ich mich damit an den Verfassungsschutz gewandt, aber der … hat gerade seine eigenen Probleme.«

So konnte man das auch sehen. Der Verfassungsschutz war in letzter Zeit weniger durch Erfolge als durch interne Querelen und spektakuläres Versagen aufgefallen.

Unschlüssig drehte Katharina die Ausweiskarte in ihrer Hand, doch Amendt schob seine demonstrativ auf dem Tisch von sich fort: »Ich fürchte, ich muss Ihr Angebot ablehnen. Bei allem Respekt: Für mich fühlt sich das so an, als wollten Sie unsere Ressourcen, die einer unabhängigen Behörde, für persönliche Zwecke einsetzen.«

De la Buquet musterte ihn kalt: »Erstens war das kein Angebot, sondern eine dienstliche Anweisung. Zweitens: Können Sie ganz sicher ausschließen, dass hinter Vogels Selbstmord keine Straftat steckt? – Und wenn wir hier schon vom persönlichen Zweck reden: Gerade Sie beide sollten nicht mit Steinen schmeißen. Sie sitzen selbst im Glashaus.«

»Wie meinen Sie das?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Schon bald wird irgendjemand ganz öffentlich fragen, warum Vogel gerade Ihre Behörde als Schauplatz für seinen Suizid ausgewählt hat. – Was in der Tat eine interessante Frage ist. Auf die ich übrigens auch keine Antwort habe. Und die Sie brennend interessieren sollte. Schon aus Selbsterhaltungstrieb.«

»Dennoch …« Amendts begonnener Einwand lief ins Leere.

Der Innenminister hatte sich bereits an Katharina gewandt, die ihm wohl als die Vernünftigere von beiden erschien. »Und Sie, Kriminaldirektorin Klein? Wenn Sie Vogels Selbstmord betrachten, klingeln da nicht die ermittlerischen Alarmglocken bei Ihnen?«

Das taten sie. Leider. Der Innenminister hatte die entscheidende Frage ausgesprochen: Warum hatte Vogel ausgerechnet diese Zeit und diesen Ort ausgewählt? Vogels letzte Worte hallten in ihrem Kopf: »Aus diesem Anlass möchte ich ihnen gleich den ersten Fall übergeben.«

»Gab es denn irgendwelche Hinweise auf einen möglichen Skandal?«, fragte sie. »Gerüchte? Gemunkel? Hinter den Kulissen?«

De la Buquet lachte höhnisch auf: »Nein! Vogel war wirklich der Saubermann, für den ihn alle gehalten haben. Da war nichts. Gar nichts. Und ich hätte es wissen müssen. Es gibt nur einen, der besser informiert ist über solche Dinge als ich. Und das ist der Ministerpräsident. Und selbst der …«

Katharina wollte etwas fragen, doch sie hielt inne. Ihr Nacken kribbelte. Vielleicht ohne es zu wollen, hatte de la Buquet gerade eine Frage beantwortet, die sie sich schon immer gestellt hatte. Robert Hans Becker, der amtierende Ministerpräsident, war ein Technokrat mit der Ausstrahlung eines Furunkels am Hintern. Katharina hatte sich immer gefragt, wie er zu seinem Posten gekommen war. Nun hatte sie eine Ahnung, wie.

Wenn der Ministerpräsident besser über alles und jeden im Bilde war als der Innenminister, dann musste er über ein weitgespanntes Informationsnetz verfügen. Vermutlich saß auch er gerade in seinem Büro und führte ein ähnliches Gespräch wie de la Buquet mit ihr. Wen würde er wohl beauftragen?

»Hat Becker … Ministerpräsident Becker denn einen Verdacht?«, fragte sie. »Oder lässt er selbst Nachforschungen anstellen?«

Der Innenminister nickte gönnerhaft. »Ich sehe, Sie verstehen das Problem. – Und nein, Becker hat keinen Verdacht. Zumindest keinen, den er mit mir geteilt hätte.«

Okay, wo also anfangen? Am besten mit dem Klassiker: »Hatte Vogel Feinde? Außer Ihnen, meine ich?«

De la Buquet zuckte zusammen. Doch in der nächsten Sekunde hatte er sich schon wieder gefasst. Er öffnete eine Schublade, fischte ein fingerdickes broschiertes Buch heraus und warf es vor Katharina auf den Schreibtisch. »Suchen Sie sich jemanden aus.«

Bei dem Buch handelte es sich um das Telefon- und Adressverzeichnis der hessischen Landesregierung und des Landtags.

»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Katharina.

De la Buquet lachte freudlos auf. »Ich wünschte, es wäre einer. – Jan-Ole … Superstars haben viele Neider.«

»Auch in der eigenen Partei?«

»Kennen Sie nicht die Steigerung von Feind? Feind, Todfeind, Parteifreund?«

Katharina stieß frustriert die Luft aus. Politik war ein Spiel, das ihr nicht lag. War sie überhaupt kompetent für diese Aufgabe? Gab es da nicht …?

»Sie zweifeln?«, fragte der Innenminister.

»Ich frage mich nur, ob wir wirklich die Richtigen sind. Ich meine, ich kenne mich in der Politik überhaupt nicht aus. Wäre es nicht besser, jemanden zu beauftragen, der –?« Weiter kam sie nicht.

»Meinen guten Freund Berndt meinen Sie?«

Berndt Hölsung. Katharinas Todfeind im Polizeipräsidium.

Aber ja. Hölsung wäre genau der Richtige. Der geborene Politiker. Golfpartner von de la Buquet. Er musste sich doch mit all dem hier auskennen.

Der Innenminister schüttelte energisch den Kopf: »Berndt. Tja. Sicher ein tüchtiger Beamter. Gut vernetzt. Wird seinen Weg nach oben machen. – Aber, ganz ehrlich, auch mir ist schon aufgefallen, dass seine Ermittlungsergebnisse eher durchschnittlich sind.«

So konnte man das auch nennen.

»Außerdem will ich gerade keinen Politiker«, fuhr de la Buquet fort. »Keinen, der das Spiel mitspielt. – Warten Sie …« Er durchwühlte wieder einen Aktenberg auf seinem Schreibtisch und schlug schließlich einen Hefter auf. »Die Beamtin Katharina Klein ist, und darüber dürfen ihre Ermittlungserfolge nicht hinwegtäuschen, ein überaus problematischer Fall, deren Tauglichkeit gerade für den höheren Polizeidienst aus gutem Grund hinterfragt wird«, las er vor. »Sie weigert sich, sich unterzuordnen, ignoriert Dienstvorschriften und direkte Weisungen ihrer Vorgesetzten, integriert sich nur schwer ins Team und überschreitet bei ihrer Arbeit auch schon einmal die Grenzen der Legalität. Jenseits dessen, dass sie damit kontinuierlich die ordentliche Strafverfolgung der ihr anvertrauten Fälle gefährdet, stellt sie zudem eine Bedrohung für den Betriebsfrieden dar. Sie geht in Konfliktfällen nicht ausgleichsorientiert oder deeskalierend vor.«

Katharina fühlte ihre Wangen aufglühen. Sie kannte diesen Text: ein nicht eben schmeichelhafter Eintrag in ihrer Personalakte. Sie holte Luft, um sich zu verteidigen, doch der Innenminister kam ihr zuvor: »Genau so jemanden brauche ich. Der sich um Spielregeln nicht kümmert. Für den nur das Ergebnis zählt. Der nicht Zeit und Ressourcen mit falsch verstandener Diplomatie verplempert. Der kein Problem damit hat, sich notfalls auch Feinde zu machen. Der die Eier hat, diesen Saustall, den wir Landespolitik nennen, auszukärchern und das ganze Kroppzeug in die Gosse zu schwemmen. Und Sie, Frau Kriminaldirektorin Klein, sind dieser Mensch! Das sind Sie doch? Deshalb nennt man Sie doch die Killer Queen, nicht wahr? Oder hat die Beförderung Sie etwa weichgespült?«

Katharina blieb der Mund offen stehen. Andreas Amendt bebte unter einem mühsam unterdrückten Lachen. Und noch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr der Innenminister fort: »Allerdings wäre ich dankbar, wenn Sie bei der Arbeit ausnahmsweise darauf verzichten, gleich ganze Ministerien niederzubrennen. Zumindest nicht ohne Vorwarnung.« Er gluckste plötzlich auf. »Doch wenn Sie das schon müssen: Fangen Sie bitte beim Innenministerium an. Dieser Bunker schlägt mir aufs Gemüt, und ich will endlich einen angemessenen Amtssitz.«

De la Buquet ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Lachte. Und lachte. Und lachte. Sein Lachen wurde immer höher und schriller. Tränen rannen ihm über die Wangen, er rang nach Luft, doch er lachte noch immer.

Oh Gott, er ist hysterisch, dachte Katharina. Eigentlich müsste man …

Andreas Amendt hatte wohl den gleichen Gedanken, zögerte allerdings nicht, ihn in die Tat umzusetzen: Er gab de la Buquet zwei schallende Ohrfeigen.

Eine dritte Ohrfeige brachte endlich das gewünschte Resultat. Aus tränenden Augen starrte der Innenminister Andreas Amendt an. Doch der fühlte nur routiniert den Puls und zog eine kleine Stabtaschenlampe hervor, mit der er de la Buquet in die Augen leuchtete.

»Bitte verzeihen Sie die drastische Maßnahme«, sagte Amendt schließlich ohne einen Funken der Entschuldigung im Ton. »Aber Sie hatten, was man im Volksmund einen hysterischen Lachanfall nennt. – Sagen Sie, Sie wurden doch nach dem Vorfall gestern medizinisch betreut, oder?«

Der Innenminister nickte artig.

»Haben Sie irgendwelche Medikamente erhalten? Zur Stabilisierung des Kreislaufs? Psychopharmaka?«

De la Buquet zögerte zunächst, doch unter Amendts streng-mitfühlendem Blick nickte er schließlich erneut.

»Und welche Medikamente?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie sahen die Medikamente denn aus?«

»Pillen. Klein und weiß. Hilft das?«

Amendt stieß ärgerlich die Luft aus. »Warten Sie, ich schreibe Ihnen etwas Besseres auf.«

Während er zurück um den Schreibtisch ging, zog er einen Rezeptblock und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke. Er legte den Block auf den Tisch, während er die linke Hand wieder in seiner Jackentasche verbarg. Lässig an die Tischkante gelehnt schrieb er. Dann riss er das Rezept vom Block und legte es vor den Innenminister. De la Buquet nahm das Blatt, warf einen kurzen Blick darauf und wollte es wegstecken. Doch dann stockte er und las das Rezept noch einmal. »Soll das Ihr Ernst sein, Doktor Amendt? Fünf Kilometer Dauerlauf pro Tag? Mit dem Fahrrad zur Arbeit?«

Katharina wollte losprusten vor Lachen, doch dann sah sie, dass Amendt vollkommen ernst blieb.

»Körperliche Ertüchtigung ist aus medizinischer Sicht eines der potentesten Heilmittel, das wir kennen«, dozierte er wie vor einer Klasse lernunwilliger Medizinstudenten. »Neben der Erhöhung des Grundumsatzes, der Stärkung der Muskulatur, der Verbesserung von Stoffwechsel und Immunsystem sowie der Förderung der Durchblutung sind die bei verstärkter körperlicher Bewegung ausgeschütteten Botenstoffe das wirksamste Psychopharmakon, das wir kennen. Sie helfen gegen Depression, steigern die Antriebskräfte und unterstützen uns dabei, Stress abzubauen.« Sein Ton wurde versöhnlicher. »Ich laufe zwischen zehn und fünfzehn Kilometern am Tag. Und ich möchte das nicht mehr missen. – Das Dritte, was ich Ihnen aufgeschrieben habe«, fuhr Amendt fort, »ist aber genauso wichtig.«

»Zehn Stunden Gesprächstherapie«, las der Innenminister halblaut vor, um dann ärgerlich zu fragen: »Halten Sie mich etwa für gestört?«

»Nein, natürlich nicht. Zumindest nicht für gestörter als den Durchschnitt der Menschheit. Aber Sie waren Zeuge, als sich ein Mensch erschossen hat. Zudem ein Mensch, den Sie näher kannten. Ich halte es daher für eine gute Idee, die posttraumatische Belastung gleich von Anfang an in den Griff zu kriegen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Namen von Therapeuten nennen, die –«

»Nicht nötig«, winkte de la Buquet ab, während er das Rezept in die Innentasche seines Jacketts schob. »Wir sind hier etwas empfindlich, was die Auswahl von Ärzten und so weiter angeht. Sie wissen schon, die Presse. Deshalb müssen wir so etwas diskret angehen. Aber ich werde Ihren Rat beherzigen.«

Amendt zögerte kurz, dann fragte er: »Zu wem würden Sie gehen? Oder einer Ihrer Kollegen?«

»Ich sagte doch gerade, dass –«

Amendt hob die Hände, um den Innenminister zu bremsen. »Ich frage nicht Ihretwegen. Sondern wegen Doktor Vogel.«

»Warum das denn?«

»Niemand begeht grundlos Suizid. Die häufigste Ursache sind psychische Probleme, etwa eine Depression. Vielleicht hat Doktor Vogel deswegen Hilfe gesucht. Also: Haben Sie eine Vermutung, bei wem?«

Der Innenminister zögerte und starrte auf seinen Schreibtisch. Endlich sah er auf: »Nein. Leider nicht. Wie ich schon sagte: Es ist nicht so einfach für uns, Hilfe zu – Oder doch, Moment, Vogels Frau ist Ärztin.«

»Eventuell hat sich auch seine Sekretärin darum gekümmert«, mischte sich Michael Glaser ein. Katharina erschrak. Sie hatte ihn fast völlig vergessen. »Die paar Male, die ich mit Vogel zu tun hatte, hatte ich den Eindruck, dass sie und Vogel ein sehr vertrautes Verhältnis haben.«

»Seine Geliebte?«, fragte Katharina.

Glaser lachte, stellte dann aber wohl fest, dass seine Reaktion unangemessen war, und fuhr ernst fort: »Nein. Seine Sekretärin ist … nun, Sie werden sehen.«

»Gut. Vielleicht fangen wir genau dort an. In Vogels Büro«, sagte Katharina sachlich. »Können Sie uns den Weg zeigen, Herr Glaser?«

Der Innenminister war aufgestanden: »Nicht so vorschnell. Erst sprechen wir mit den Medien. Ich war so frei, eine kleine Pressekonferenz anzusetzen.«

»Aber ich dachte, Sie wollten die Sache diskret –?«

De la Buquet winkte ab: »So etwas bleibt nicht geheim. Spätestens dann nicht, wenn Sie irgendwo auftauchen und Fragen stellen. Da sind wir lieber ehrlich und informieren die Medien vorab.«

»Aber –«

»Noch sind die Medien auf Ihrer Seite, Frau Klein. So sollte es auch bleiben. Sonst haben Sie ganz schnell die gesamte Bluthundmeute auf dem Hals.« Der Innenminister kam um den Schreibtisch herum: »Gehen wir.« Dann hielt er inne. »Nein, Moment, eines noch.« Er ging wieder zurück hinter den Schreibtisch, öffnete eine Schublade und nahm einen Holzkasten heraus, den er vor Katharina auf die Tischplatte stellte. »Als SEDI-Ritter sind Sie befugt, eine Waffe zu führen.« De la Buquet schob den Holzkasten auffordernd zu Katharina hin. »Die hier gehört ohnehin Ihnen, wenn ich recht informiert bin.«

Katharina klappte den Kasten auf. Auf schwarzem Samt gebettet lag darin ihre Stockert & Rohrbacher Modell 1. Die handgefertigte Pistole war ein Prototyp, den ihr ihr Patenonkel zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Die Waffe war beschlagnahmt worden, als Katharina bei ihrem letzten Fall kurzfristig unter Mordverdacht festgenommen worden war.

»Nehmen Sie«, sagte der Innenminister. »Ihre Waffenbesitzkarte und Ihr neuer Waffenschein stecken im Deckel.«

Unschlüssig klappte Katharina den Kasten zu und schob ihn in ihre Handtasche: »Brauche ich denn als Sonderermittlerin –«

»SEDI-Ritter. Sagen Sie es ruhig.«

»Brauche ich denn als SEDI-Ritterin eine Schusswaffe?«

De la Buquet grinste bitter: »Wundern würde es mich nicht.«

***

Pressesaal

des Innenministeriums.

Fernsehkameras und Fotografen beobachteten jeden Schritt, während der Innenminister mit steinerner Miene zum Podest mit dem Tisch darauf am Kopfende des holzgetäfelten Saales marschierte, Katharina und Amendt im Schlepptau.

Endlich hatten sie den Tisch erreicht, auf dem bereits ein Wald von Mikrofonen aufgebaut war. Amendt und Katharina nahmen rechts und links von de la Buquet Platz. Katharina bemühte sich, staatstragend auszusehen. Hoffentlich wirkte das nicht, als hätte sie eine schwere Magenverstimmung.

Nachdem der Saal zur Ruhe gekommen war, verlas der Innenminister eine Presseerklärung, die ihm seine Sekretärin auf dem Weg in die Hand gedrückt hatte. Er hatte eine Hand fest auf den Tisch gepresst; Katharina konnte die Vibrationen seines Zitterns spüren. Doch sein Ton war so gelangweilt-sachlich, als verkünde er lediglich, dass das Innenministerium den Toilettenpapierlieferanten gewechselt habe.

Unwillkürlich fühlte sich Katharina an den Vortag erinnert. Und wieder kribbelte der Jagdinstinkt in ihrem Nacken. Vermutlich nur eine Nachwirkung von Vogels Selbstmord, trotzdem ließ sie den Blick über die Journalisten schweifen. Die meisten von ihnen hatten den Kopf über ihre Notizblöcke gesenkt oder beschäftigten sich mit ihren Aufnahmegeräten. Zwei Kameramänner gähnten synchron, um dann wieder ihre Objektive zu justieren.

In der ersten Reihe saß ein grauhaariger Mann mit einem aufgeschlagenen Hefter auf dem Schoß. Er schrieb nicht mit, sondern blickte zu … Andreas Amendt. Der Blick war schwer zu deuten. Neugierde vielleicht?

Der Innenminister hatte die Presseerklärung ganz vorgelesen; jetzt bat er um Fragen.

Er hätte nicht lang bitten müssen. Zunächst prasselten die Fragen völlig ungeordnet auf sie ein, sodass sie nur die Hälfte verstanden und auch keine Zeit fanden, zu antworten. Mit einer herrischen Geste bat de la Buquet um Ruhe: »Einer nach dem anderen, bitte.«

Gehorsam schossen jetzt die Hände in die Höhe, der Innenminister deutete ins Publikum. Die nächste Viertelstunde verbrachten Katharina und de la Buquet damit, auf die Fragen mit immer neuen Varianten von »Kein Kommentar« zu antworten: »Warum hat Vogel sich umgebracht?« – »Wir stehen noch am Anfang der Ermittlungen.« – »Haben Sie schon Mutmaßungen zum Motiv?« – »Wir bitten um Verständnis, dass wir keine Spekulationen äußern wollen.« – »War Vogel in eine Straftat verwickelt?« – »Dazu haben wir keine Erkenntnisse.« – »Vermuten Sie eine parteipolitische Intrige?« – »Wir können zu diesem Zeitpunkt keine Angaben machen, versichern Ihnen aber, dass wir mit breitem Ansatz ermitteln werden.« Und so weiter. Und so fort.

Endlich ebbte der Strom der Fragen ab. Noch einmal blickte der Innenminister in die Runde: »Gut. Dann wollen wir die Konferenz an dieser Stelle beenden und Frau Klein und Professor Doktor Amendt ihre Arbeit tun lassen –«

Der grauhaarige Journalist mit dem Hefter auf dem Schoß unterbrach ihn. »Ich hätte da noch ein paar Fragen an Herrn Doktor Amendt.«

Offenbar ein Wissenschaftsjournalist. Langatmig erkundigte er sich nach Amendts Werdegang (Medizinstudium in Frankfurt, Facharztausbildung zum Neurologen gleichfalls in Frankfurt, zum Gerichtsmediziner in Freiburg), nach seiner Dissertation (irgendwas mit sieben Fremdwörtern im Titel, die Katharina sich nicht merken konnte) und Habilitationsschrift (»Darstellung und Dokumentation okkulter subkutaner Einblutungen« – freundlicherweise fragte niemand nach einem satanistischen Bezug). Dann wandte sich der Journalist den Ereignissen des Vortags zu. Geduldig beantwortete Amendt die Frage nach der vorläufigen Todesursache: »Schweres Hirntrauma nach einer Schussverletzung«, mehr könne und dürfe er an dieser Stelle nicht sagen.

»Sind solche Verletzungen in der Regel tödlich?«

»Es kommt darauf an«, war Amendts ausweichende Antwort. »Auf den Schusswinkel zum Beispiel.«

»Aber Schüsse mit unter dem Kinn aufgesetzter Pistole gelten als tödlich, richtig?«

»Auch in diesem Fall kann die Kugel am Knochen oder an den Zähnen abprallen.«

»War das bei Herrn Doktor Vogel der Fall?«

»Nein. Dann hätten wir eine sehr auffällige Austrittswunde vorliegen.«

»Die Verletzung war also aller Wahrscheinlichkeit nach sofort tödlich?«

»Nach medizinischem Ermessen ja. Aber Wunder geschehen immer wieder.«

»Haben Sie solch ein Wunder schon einmal erlebt?« Der scharfe Ton des Journalisten machte Katharina hellhörig. War er doch kein Wissenschaftsjournalist? Wenn nicht, worauf wollte er mit seinen Fragen hinaus?

»Nur in der Fachliteratur davon gelesen«, antwortete Amendt.

»Sie mussten also davon ausgehen, dass Vogel bereits tot war. Und doch haben Sie versucht, sein Leben zu retten.«

»Ich hatte eindeutige Lebenszeichen. Puls, Atmung. Und für eine genauere Untersuchung hatte ich weder Zeit noch Mittel. Ich war also verpflichtet zu helfen. – Und wie ich schon sagte: Wunder geschehen immer wieder.«

»Hatten Sie vielleicht auch persönliche Gründe, sich über das Maß hinaus zu engagieren?«

»Wie meinen Sie das?«

»Offenkundig wollte Doktor Vogel freiwillig aus dem Leben scheiden. Und er war immer ein Vorkämpfer für den freien Patientenwillen. Vielleicht hätten Sie –«

»Das ist Unsinn«, unterbrach ihn Amendt ungehalten. »Sie wissen es vielleicht nicht, aber hätte ich nicht geholfen, hätte ich mich strafbar gemacht. Ohne eine schriftliche Patientenverfügung –«

»Oder einen klaren Ausdruck des Patientenwillens«, schnitt ihm der Journalist das Wort ab. »Und Vogel hat ja seinen freien Willen klar zum Ausdruck gebracht, als er sich die Kugel in den Kopf geschossen hat, oder sehen Sie das anders?«

Amendt antwortete sachlich und ohne zu zögern: »Nun, freier Wille in Zusammenhang mit einem Suizid ist so eine Sache, die momentan in der Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert wird. Gerade bei einer zugrundeliegenden psychischen Erkrankung ist es schwer, von freiem Willen zu reden.«

»War Doktor Vogel psychisch erkrankt?«

»Ich weiß es nicht und selbst, wenn ich es wüsste, dürfte ich Ihnen darüber keine Auskunft geben«, fertigte Amendt den Journalisten ab. »Gerade, weil ich keine weiteren Informationen hatte, war ich zum Eingreifen verpflichtet.«

De la Buquet nutzte die kurze Pause, die danach entstand: »Das ist doch ein gutes Schlusswort. Wenn es keine weiteren Fragen mehr gibt …«

Der grauhaarige Journalist hob erneut die Hand: »Ich war mit meinen Fragen noch nicht am Ende.« Da auch die anderen Reporter sich jetzt neugierig vorbeugten, erteilte der Innenminister ihm erneut das Wort.

Der Journalist setzte sich etwas aufrechter hin: »Herr Doktor Amendt, kann es nicht auch sein, dass Sie aufgrund persönlicher Erfahrungen voreingenommen sind?«

Katharina sah, dass Amendt schluckte. Der Journalist erklärte selbstzufrieden: »Mir liegen Dokumente vor, aus denen hervorgeht, dass die Eröffnung des Institutes, dem Sie vorstehen, verschoben werden musste, da Sie krankgeschrieben waren. Sie waren in einer psychiatrischen Klinik, ist das richtig?«

»Nein«, sagte Amendt eisig. »Es waren zwei Kliniken. Zunächst die psychiatrische Abteilung des Universitätsklinikums Frankfurt, in die ich nach einem gescheiterten Suizidversuch eingewiesen wurde. Danach die Privatklinik Doktor Beilhartz in Königsstein, wo ich mich freiwillig wegen einer Tablettenabhängigkeit habe behandeln lassen.«

Die Journalisten begannen emsig, auf ihren Notizblöcken zu kritzeln, andere überprüften hektisch ihre Aufnahmegeräte; die Kameramänner, die nun nicht mehr gähnten, justierten ihre Linsen auf Amendt.

Der grauhaarige Journalist warf einen Blick in den Schnellhefter. »Tablettenabhängigkeit und ein Suizidversuch … Gemessen an diesen Tatsachen: Fühlen Sie sich einer so verantwortungsvollen Aufgabe wie der Leitung eines eigenen Institutes gewachsen?«

Amendt blieb ruhig: »Zwei unabhängige Gutachter haben meine Diensttauglichkeit bestätigt. Andernfalls hätte ich den Posten wohl kaum antreten dürfen.«

»Ist es dennoch möglich, dass Sie als Überlebender eines Suizidversuchs in der Causa Vogel nicht ganz unvoreingenommen sind?«

Amendt wollte antworten, doch der Innenminister kam ihm zuvor: »Doktor Amendt genießt in dieser Angelegenheit mein vollstes Vertrauen. Ich bin mir sicher, dass nicht nur seine medizinische Expertise, sondern auch seine persönlichen Erfahrungen ihm wertvolle Einsichten ermöglichen. Und ich denke, wir sollten die Pressekonferenz an dieser Stelle wirklich beenden.«

»Einen Augenblick«, der Journalist war aufgestanden, »Herr Doktor Amendt, stimmt es gleichfalls, dass –«

Amendt ließ ihn nicht ausreden: »Stimmt was? Dass meine Mutter schizophren war und meinen Vater im Wahn umgebracht hat? Und sich selbst? Ja, das stimmt gleichfalls. Damals war ich zwölf. Und nein, ich bin nicht selbst schizophren. Ich bin mir sicher, dass Ihre Unterlagen das ebenfalls belegen.«

Der Journalist wirkte, anders als seine Kollegen, nicht sonderlich überrascht, sondern verärgert, dass Amendt ihm die Pointe gestohlen hatte. »Aber –«, wollte er fortfahren.

Doch Amendt hatte endgültig die Geduld mit ihm verloren. Er lehnte sich vor, damit die Mikrofone ihn auch klar und deutlich aufzeichneten: »Und, um hier gleich reinen Tisch zu machen: Ja, ich bin 1991 als Verdächtiger für die Morde an meiner Verlobten – der Schwester von Frau Kriminaldirektorin Klein übrigens – und ihren Eltern festgenommen worden. Die Anklage wurde mangels Beweisen fallengelassen.«

Der Innenminister stand so kraftvoll auf, dass sein Stuhl umkippte. »Die Konferenz ist beendet.«

Er packte Katharina und Andreas Amendt am Arm und zog sie zu einer kleinen Seitentür hinter dem Tisch, das Fragenbombardement aus dem Publikum ignorierend. Michael Glaser hatte die Tür bereits geöffnet und de la Buquet stieß sie hindurch in ein Treppenhaus. Hastig manövrierte er sie die Treppe hinauf und durch zahlreiche Gänge, bis sie endlich wieder im Büro des Innenministers angelangt waren. Er drängte Katharina und Amendt hinein und schloss energisch die Doppeltür.

Dann wirbelte er zu Andreas Amendt herum und stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust: »Sind Sie vollkommen übergeschnappt?«

Amendt wischte den Finger beiseite wie eine lästige Fliege: »Nein. Ein abstinenter Tablettenabhängiger. Ehrlichkeit ist eine gute Idee für mich.«

»Ehrlichkeit ist eine gute Idee für Sie?«, tobte de la Buquet los. »Und für uns? Für Ihre Ermittlungen? Das steht doch morgen alles in der Presse! Wie stehe ich dann da?«

»Das hätte morgen ohnehin in der Presse gestanden. Haben Sie den Journalisten nicht gesehen? Der wusste genau, was er da in den Händen hielt. Er hat nur darauf gewartet, seine Karten auszuspielen. – Besser, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.«

»Aber –«

»Kein Aber.« Noch nie hatte Katharina Amendt so schneidend gehört. »All diese Informationen waren vertraulich. In diesem Umfang aktenkundig sind sie nur hier. Im Innenministerium. Sie sollten vielleicht einmal herausfinden, wer dieser Journalist war und wer ihm die Akten zugespielt hat.«

»Sie meinen …?« Der Innenminister war blass geworden.

»Ja. Sie haben einen Maulwurf im Ministerium.«

Im nächsten Moment hatte sich de la Buquet gefasst. »Michael?«

Doch Glaser, den Willen seines Chefs vorausahnend, war bereits durch die Bürotür geschlüpft. De la Buquet sah ihm nach: »Der Glaser wird sich da schon drum kümmern. Ehemaliger Verfassungsschützer. Dann persönlicher Referent des Ministerpräsidenten. Ich hatte Glück, dass er mehr an innerer Sicherheit interessiert ist als an der Bundesgartenschau. Deshalb konnte ich ihn abwerben.« Langsam wanderte er zu dem kleinen Tisch mit dem Schachbrett hinüber und setzte sich in den Sessel. Wurde wieder zum uralten Mann. »Und keiner von Ihnen beiden spielt Schach? Ich sehe den verdammten Zug einfach nicht.«

»Vielleicht sollten wir besser überlegen, was unser nächster Zug ist«, begann Katharina vorsichtig.

»Na, was wohl?«, sagte Amendt ungeduldig. »Wir finden raus, warum Vogel sich umgebracht hat. So schnell wie möglich. Offenbar will das jemand verhindern.«

***

Damenopfer

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