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Früher Tempoverlust Montag, 7. April 2008
Soweit ein echter Montag.

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»While forced play winds through a labyrinth of variations like Ariadne’s thread, you have to go in this direction.«

Igor Zaitsev

Justizministerium.

Vorzimmer des Ministers.

Die pompöse Flügeltür stand offen. Trotzdem klopfte Katharina höflich gegen den Türrahmen. Eine leise Frauenstimme sagte: »Herein!«

War ein Sturm durch das Vorzimmer gefegt? Die Schranktüren standen offen, Schubladen waren herausgezogen, aus der Bohrung im leergefegten Schreibtisch ragten ein paar nackte Kabel. Schreibutensilien, Notizblöcke, Tassen, leere Hefter: All das war auf dem Boden verstreut.

Die Frau, die an einem der Fenster gestanden und hinausgesehen hatte, drehte sich jetzt zu ihnen um. Sie war groß und – wie nannte man das noch? Genau! Sie war stattlich. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, der ihre üppige Figur im Zaum hielt, ihr blond gefärbtes Haar war zu einer Turmfrisur aufgeschichtet, von der Katharina geglaubt hatte, dass sie irgendwann im letzten Jahrtausend in den Giftschrank der haarstylistischen Todsünden gewandert war. Um den Hals der Frau hin an einer silbernen Kette eine Lesebrille mit kantigem Rahmen. Ihr Gesicht war jedoch verquollen, ihre Augen von Tränen gerötet.

Mit zielgerichteten Schritten ging die Frau zu ihrem Schreibtisch, setzte sich auf den Bürostuhl, dann beugte sie sich zu Boden und hob ein silbernes Schild auf, das sie vor sich hinstellte. »Anita Gmündner – Chefsekretärin« war darauf eingraviert.

»Sie wünschen?«

Michael Glaser hatte recht gehabt. Anita Gmündner war entschieden nicht der Typ einer Geliebten (außer Vogel hatte einen Bemutterungs-Fetisch gehabt – man sollte ja nichts ausschließen).

Katharina trat vor den Schreibtisch: »Katharina Klein und Andreas Amendt. Innenminister de la Buquet wollte unser Kommen ankündigen.«

Anita Gmündner deutete auf das traurig aus ihrer Schreibtischplatte ragende Kabelbündel. »Sie haben alles mitgenommen. Die Telefone. Computer. Akten. Mein Diensthandy. Sogar die Blumenvasen. Alles.«

»Wer?«, fragte Katharina.

»Die Männer vom Archiv. Sonst brauchen die immer Wochen, um auch nur eine Akte aufzugabeln.« Ohne Vorankündigung brach Anita Gmündner in Tränen aus.

Weinende Zeugen! Katharina hatte noch nie mit ihnen umgehen können. Andreas Amendt hatte jedoch bereits ein Taschentuch aus seiner Jacke gezogen und es Anita Gmündner gereicht. Sie trocknete sich die Augen, doch es half nichts. Sie weinte weiter. Amendt ging neben ihrem Stuhl in die Hocke und nahm ihre Hand.

Katharina kam sich überflüssig vor. Und …

Rasch ging sie hinaus auf den Flur und zog ihr neues Handy aus der Handtasche. Sie hatte sich von ihrem ersten Gehalt als Kriminaldirektorin ein iPhone gegönnt. Dann durchsuchte sie ihre Taschen nach der Visitenkarte von Michael Glaser. Kurz bevor sie das Innenministerium verlassen hatten, war er noch einmal herangehuscht und hatte ihr die Karte in die Hand gedrückt. Auf die Rückseite hatte er seine Handynummer geschrieben, mit dem Hinweis, auf der könne sie ihn Tag und Nacht erreichen.

Glaser hob bereits nach dem ersten Klingeln ab: »Frau Klein, was kann ich für Sie tun?«

Ja, was? »Es sieht so aus, als ob alle Unterlagen aus Vogels Büro bereits ins Archiv gebracht worden sind. Können Sie uns da Zugang verschaffen?«

»Was denn? Jetzt schon? Das Staatsarchiv ist doch sonst so schläfrig. – Ich schaue, was ich tun kann. Melde mich später bei Ihnen.«

Er wollte wohl schon auflegen, als Katharina ihn stoppte: »Schon herausgefunden, wer der Journalist war?«

»Nein«, kam die knurrende Antwort. »War wohl nicht akkreditiert. Unser Pressemäuschen kannte ihn auch nicht. Den Pförtner, der den durchgelassen hat, schnappe ich mir.«

***

»Natürlich war Jan-Ole ein guter Chef. Ich meine, er hat mir die Stelle hier verschafft, als mich niemand anderes einstellen …« Anita Gmündner drohte, wieder in Tränen auszubrechen. Amendt, der inzwischen auf einem Stuhl neben ihr saß, drückte ihre Hand fester.

Katharina entdeckte eine umgefallene Trittleiter. Sie stellte sie vor den Schreibtisch und setzte sich auf die oberste Stufe.

»Jan-Ole? Sie waren per Du?«, fragte sie zaghaft.

»Ja. Er hat es mir angeboten. Seine … seine Büroperle hat er mich immer genannt.« Anita Gmündner schluchzte erneut.

Rasch fragte Katharina, um sie abzulenken: »Was war Ihre Aufgabe hier?«

Anita Gmündner sah sie verwundert an, dann sagte sie stolz: »Ich war seine Chefsekretärin. Ich habe alles für ihn gemacht. Schreibarbeiten. Seinen Kalender geführt. Telefonate für ihn vermittelt. Termine vereinbart.«

»Auch Arzttermine?«, fragte Andreas Amendt.

Anita Gmündner antwortete verständnislos: »Nein. Das … das muss er wohl selbst gemacht haben. Oder seine Frau. Die ist doch Ärztin.«

»Hatte Vogel –?«, begann Katharina.

»Doktor Vogel, bitte«, korrigierte Anita Gmündner sie streng.

»Hatte Doktor Vogel Feinde?«

Aus Anita Gmündners Kehle drang ein grunzender Laut zwischen Schluchzen und Auflachen. »Hunderte. Wir haben sogar Morddrohungen bekommen.«

»Haben Sie die aufgehoben?«

»Nein, die haben wir immer gleich an den Staatsschutz weitergeleitet. Das ist Vorschrift.« Na Klasse, der Staatsschutz war mindestens ebenso geheimniskrämerisch wie die Geheimdienste.

»Aber Jan-Ole hat die Drohungen nie ganz ernst genommen«, fuhr Anita Gmündner fort. »Hat immer gesagt, wenn dich jemand bedroht, machst du irgendetwas richtig.«

»Und wie sah es aus mit Widersachern in seiner Umgebung? Andere Politiker vielleicht?«

Anita Gmündner lächelte melancholisch: »Ja. Vor allem die aus seiner eigenen Partei.«

»Irgendjemand, der gegen ihn intrigiert hat?«

»Versucht haben es alle. Aber Jan-Ole … Am schlimmsten sind … waren Becker und de la Buquet.«

»Der Ministerpräsident und der Innenminister?«

»Genau. Ich meine, de la Buquet und Jan-Ole waren ja schon in der Öffentlichkeit über Kreuz. Aber die Briefe, die sie sich geschrieben haben? ›Jan-Ole‹, habe ich oft gesagt, wenn er mir wieder einen diktiert hat, ›das schreiben wir so nicht. Sonst muss ich dir den Mund mit Seife auswaschen‹.«

»Und worüber haben die beiden gestritten?«

»Ach, über alles. Drogenlegalisierung. Grundrechte. Polizeikompetenzen. Vor allem aber über das Frankfurter Bahnhofsviertel.«

Katharina erinnerte sich, dass de la Buquet im letzten Jahr vor der Presse verkündet hatte, er wolle am liebsten das gesamte Viertel durchkärchern und den ganzen Abschaum in die Gosse schwemmen lassen. Vogel hatte ihn daraufhin den »Henkersknecht der Banken und Immobilienspekulanten« genannt.

»Das hat Jan-Ole ganz besonders am Herzen gelegen«, redete Anita Gmündner weiter. »Die Armut. Die Obdachlosigkeit. Die wollte er bekämpfen. Den Menschen wieder Hoffnung geben. Das war seine Lebensmission.«

Das hatte auch in dem Nachruf gestanden. In jedem Fall würde Katharina noch einmal mit dem Innenminister sprechen müssen. Andererseits: Wenn er seine Finger im Spiel hatte, warum hatte er dann gerade sie mit dieser Ermittlung beauftragt? Ihr fiel eine Bemerkung von de la Buquet wieder ein.

»Und doch hat Vogel … Doktor Vogel mit Innenminister de la Buquet Schach gespielt. Noch am Samstag.«

»Ja, das machte Jan-Ole manchmal. Umarme deine Feinde, hat er immer gesagt. Nichts ärgert sie mehr.«

»Und der Ministerpräsident?«, fragte Andreas Amendt. Richtig. Anita Gmündner hatte ja noch einen weiteren Feind benannt.

»Der hat Jan-Ole gehasst. Es war ja kein Geheimnis, dass Jan-Ole beliebter war. Gehört ja auch nicht viel dazu. Am Freitag, da ist Becker einfach hier reingestürmt. Direkt durch in Jan-Oles Büro. Die beiden haben sich angeschrien.«

»Wissen Sie, weshalb?«

»Nein. Die Doppeltür war zu. Ich habe nur die Stimmen gehört. Und Jan-Ole musste danach sofort weg. Hat mir nicht mehr erzählt, um was es ging. – Aber Becker hat eine Vase nach ihm geschmissen und –«

In diesem Augenblick wurden sie von einem jungen Mann unterbrochen, der einen großen Pappkarton hereinschleppte und auf den Schreibtisch stellte. »Lieferung für Anita Gmündner«, sagte er gelangweilt und hielt sein Klemmbrett über den Schreibtisch. Geistesabwesend unterschrieb die Chefsekretärin. Der junge Mann schlurfte aus dem Raum.

Mechanisch öffnete Anita Gmündner den Karton. Er war mit farbigen DIN-A4-Umschlägen gefüllt. Rot, gelb, blau, grün. Obenauf lagen ein kleines Päckchen sowie ein weißer Briefumschlag, auf dem mit geschwungener Handschrift geschrieben stand: »Anita – persönlich«. Sie öffnete den Umschlag und zog einen Brief heraus.

Plötzlich ändert sich ihr Ton: »Ich glaube, Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie streng. Dann ging sie zum Fenster, um den Brief zu lesen. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Katharina wollte etwas sagen, doch Amendt legte ihr die Hand auf den Arm. Leise gingen sie nach draußen. Behutsam schloss Amendt die Tür.

***

Chaos

im Staatsarchiv.

Überall standen Kisten, Kartons, ja selbst Plastiktüten mit Akten. Menschen eilten durch die verstopften Gänge, um noch mehr Akten anzuliefern. Es dauerte zehn Minuten, bis sie endlich einen gestressten Archivar gefunden und gestellt hatten.

»Quartalsabschluss«, hatte er geknurrt. »Ein Kilometer neue Akten, dafür sind zwei Kilometer verjährt und müssen nach ›für die Geschichte des Landes erheblich‹ und ›überflüssig‹ sortiert werden.«

Und nein, die Sendung mit den Akten aus Vogels Büro sei ihm noch nicht untergekommen. Auch im Computer sei sie noch nicht als ›angeliefert‹ verzeichnet. Aber das konnte auch in der Hektik untergegangen sein. Wenn sie denn die Akten unbedingt brauchten, müssten sie ein Archivanforderungs- und Nachforschungsformular ausfüllen und abwarten. Das könne aber ein bis zwei Monate dauern. Sie könnten ihrem Dienstherrn gerne dafür danken, dass er das Budget des Staatsarchivs so großzügig zusammengekürzt hatte, dass selbst die Alltagsaufgaben kaum noch zu bewältigen waren.

***

Vor dem Wohnhaus

eines Ministers.

»Scheint niemand da zu sein.«

Frustriert drückte Katharina noch einmal die Klingel in der gemauerten Säule, die das schmiedeeiserne Gartentor hielt.

Zwischen den anderen Villen des Viertels nahm sich der Bungalow der Vogels auf den ersten Blick bescheiden aus. Doch Katharina erkannte die klaren Linien, den Glas- und Natursteinbaustil sofort als die Handschrift eines italienischen Stararchitekten. Ihr Vater hatte vor seiner Karriere als Kunsthändler Kunst- und Architekturgeschichte studiert. Oft hatte er mit Katharina und ihrer Schwester Susanne Ausflüge unternommen und ihnen die unterschiedlichen architektonischen Schulen erklärt. Dieser Architekt war sein besonderer Favorit gewesen; er hatte immer davon geträumt, sich eines Tages von ihm eine Galerie nach Maß bauen zu lassen.

Architektenvilla, großzügig bemessenes Grundstück in der besten Lage von Wiesbaden … Eine Dienstvilla? Oder gehörte sie Vogel persönlich? Wenn ja, so notierte sich Katharina in Gedanken, sollte sie unbedingt herausfinden, wie Vogel sich die Immobilie leisten konnte. War er vielleicht verschuldet gewesen?

Das große Tor im mannshohen Gartenzaun hatte keine Klinke. Katharina schaute sich auf der Straße um. Keine Passanten. Nur ein parkendes Auto am Straßenrand, in dem zwei Männer saßen. Ein Schild hinter der Windschutzscheibe wies sie als »Presse« aus. Paparazzi vermutlich. Egal!

»Machen Sie mal eine Räuberleiter!«, befahl sie Andreas Amendt.

Gehorsam hielt er ihr die rechte Hand hin, die linke blieb in seiner Jackentasche. Na, hoffentlich überschätzte er seine Kräfte nicht. Katharina setzte einen Fuß auf die Hand, fasste in das Gitter und zog sich nach oben.

Wow! Krafttraining hatte offenbar auch zu Amendts Therapie gehört. Er schob sie in die Höhe, bis sie sich über das Gitter des Tores schwingen konnte. Katharina ließ sich fallen und landete etwas unsanft auf dem Kiesweg. Ihr Knöchel schmerzte. Richtig, den hatte sie sich ja verstaucht. Vorsichtig trat sie auf. Es tat zwar etwas weh, aber es war auszuhalten.

Amendt stand noch auf der anderen Seite des Tores und machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Vielleicht wollte er Wache stehen? Trotzdem fasste sie an die Klinke an der Innenseite des Tors. Es war nicht abgeschlossen. Seltsam. Ein Justizminister sollte doch eigentlich mehr um seine Sicherheit besorgt sein, oder?

Amendt trat hindurch und schloss das Tor hinter sich. Sie wanderten die kiesbestreute Auffahrt hinauf zum Haus und klingelten an der Tür. Keine Reaktion. Nicht beim zweiten und beim dritten Klingeln und auch nicht, als sie klopften und gegen die Tür hämmerten.

Niemand zu Hause. Oder?

Sicherheitshalber ging Katharina einmal um das Haus herum und spähte durch die Fenster. Nichts Besonderes zu sehen. Nur ein sehr aufgeräumtes und mit geschmackvoller Schlichtheit eingerichtetes Haus. Alle Fenster waren verschlossen.

»Sollen wir?«, fragte Andreas Amendt, als sie wieder an der Eingangstür angekommen war. Er hielt ein kleines Etui hoch. Sein Set mit Dietrichen. Amendt konnte gut damit umgehen, wie Katharina herausgefunden hatte, als sie auf der Suche nach dem Mörder ihrer Familie gewesen waren.

Für einen Moment war Katharina versucht, Amendts Vorschlag nachzugeben. Doch dann blickte sie noch einmal durch das Kassettenfenster und sah das kleine rote Licht an einem unscheinbaren weißen Kasten gegenüber der Tür. »Besser nicht. Die Alarmanlage ist scharf. Und eine Festnahme wegen Einbruchs ist nicht gerade ein guter Start für unsere Ermittlungen.«

»Wir könnten Gefahr im Verzug geltend machen. Suizid ist ansteckend, wie man so schön sagt.«

Das stimmte. Katharina hatte selbst schon erlebt, wie Angehörige ihrem geliebten Menschen folgen wollten. Andererseits …

»Die Alarmanlage wäre doch ausgeschaltet, wenn jemand im Haus wäre, oder?«

»Die Vogel ist ausgeflogen, meinen Sie?« Wenigstens hatte Amendt seinen schrägen Sinn für Humor nicht ganz verloren.

***

Das schwere Gartentor zum Haus der Vogels war ins Schloss gefallen. Ratlos standen Amendt und Katharina auf dem Bürgersteig. Was nun?

Schnelle Schritte klackerten hinter ihnen auf dem Bürgersteig.

»Frau Klein! Doktor Amendt! Warten Sie! Bitte!«

Das klang eher flehend als nach einem Befehl. Eine junge Frau kam so schlagartig vor ihnen zum Stehen, dass sie stolperte. Amendt fing sie an den Schultern auf.

Einen Augenblick sah es so aus, als wolle sich die Frau vor lauter Dankbarkeit an Amendts Brust sinken lassen. Auf ihren Wangen glühten kleine hektische Flecken. Na dann viel Glück, Kleine, dachte Katharina. Viel Spaß mit Amendt. Gleichzeitig ärgerte sie der Stich von Eifersucht in ihrem Bauch.

Endlich trat die junge Frau einen Schritt zurück: »Ich … ich bin Lisa. Lisa Riedtmann. Ich habe Sie gestern Morgen für das Radio interviewt. Und ich war auch gerade auf der Pressekonferenz. Außerdem schreibe ich für ›Mademoiselle‹ und –«

Katharina bemühte sich, ihr höflichstes Lächeln aufzusetzen: »Leider können wir Ihnen zum Stand der Ermittlung keine weiteren Auskünfte geben.«

»Ja, ja, schon klar.« Offensichtlich aus dem Konzept gebracht, stotterte die junge Frau. »Ich … ich wollte nur fragen: Ist das alles wirklich wahr? Was heute gesagt worden ist? Über Sie, Doktor Amendt?«, wandte sie sich wieder an das Objekt ihrer Begierde.

»Ja.« Amendt Stimme war eisig.

Die Augen der Reporterin wurden größer. »Aber das ist ja furchtbar! Sie haben mehr als anderthalb Jahrzehnte damit gelebt, für den Mord an Ihrer Verlobten verdächtigt zu werden? Und Sie wussten nicht einmal selbst, ob Sie es gewesen sind?«

Katharina trat zwischen Amendt und die Reporterin: »Er war es nicht. Das haben wir bewiesen.« Oh Gott, sie war zu voreilig. Sie sprach zu einer Medienvertreterin, verdammt. Dabei hatte sie sich doch verpflichten müssen, über die Ermittlungen zum Mord an ihrer Familie Stillschweigen zu bewahren.

Doch Lisa Riedtmann nickte nur: »Ja, ja, natürlich. Das stand auch so in den Unterlagen.«

»Welche Unterlagen?«

»Na ja, dieser Kollege, der die ganzen Fragen gestellt hat, der hatte irgendwelche Dokumente. Und nach der PK –«

»Nach der was?«

»Der Pressekonferenz. Also, da haben wir alle eine Mail bekommen. Mit diesen Unterlagen zu Doktor Amendt. Warten Sie, ich …« Sie wollte in ihre Umhängetasche greifen, um ein kleines Notebook hervorzuziehen, verhedderte sich an den Henkeln, ließ die Tasche beinahe fallen, stolperte vor Schreck wieder – auch diesmal war Amendt ganz Kavalier –, stellte die Tasche schließlich auf den Boden und zog das Notebook mit beiden Händen heraus. Sie klappte es auf und tippte auf eine Taste: »Hier!«

Katharina nahm der Reporterin kurzerhand den Rechner ab und scrollte durch das Dokument. Medizinische Unterlagen und Gutachten, Auszüge aus ihrer Ermittlungsakte … Unglaublich.

»Können Sie mir die E-Mail weiterleiten?«

Lisa Riedtmann zog beflissen ihr iPhone aus der Jacke. Das gleiche Modell wie Katharinas, nur steckte es in einer violetten, mit Strasssternchen verzierten Schutzhülle. Katharina gab ihr ihre private E-Mail-Adresse. Wer wusste, wer ihren Dienst-Account mitlas. Zufrieden drückte die Reporterin auf Senden. Katharina holte ihr eigenes iPhone hervor und sah in den Posteingang. Die E-Mail war wohlbehalten eingetroffen. Die ursprüngliche Absenderadresse gehörte zu einem Provider, der Wert auf Anonymität legte und an dem sich selbst das FBI die Zähne ausgebissen hatte.

»Wissen Sie, von wem das kam?«

»Nein, keine Ahnung. Auch die Kollegen haben es nicht gewusst. Hat eine riesige Debatte gegeben, ob sie dieses Material verwenden sollen.«

»Und der Journalist, der mich befragt hat?«, mischte sich Andreas Amendt ein.

»Das war ganz merkwürdig«, sagte die Reporterin. »Natürlich wollten alle mit dem sprechen. Woher er die Infos hat und so. Aber der war einfach verschwunden. Angeblich kam er vom Spiegel, aber …«

»Aber?«, bohrte Katharina nach.

»Na ja, mein Schatz … also, mein Freund … mein Lebensgefährte … nein, mein Verlobter …« Versonnen sah sie auf den Ring an ihrer linken Hand. »Sorry, bin noch nicht dran gewöhnt. Er hat mich erst letzte Woche gefragt und –«

»Herzlichen Glückwunsch«, unterbrach Amendt sie ungehalten. »Was ist mit Ihrem Verlobten?«

»Ach so, ja, also, der ist Schlussredakteur beim Spiegel. Und er hat die PK im Fernsehen gesehen. Ich habe ihn gleich danach angerufen. Und er meinte, den hat er noch nie gesehen. Glauben Sie«, ihre Stimme wurde zum verschwörerischen Flüstern, »er arbeitet vielleicht für den Focus?«

Nach einem Moment des Schweigens sagte die Reporterin plötzlich: »So, ich muss dann mal weiter.« Sie nahm Katharina ihr Notebook wieder ab und schob es zurück in die Umhängetasche. »Aber, eins noch …«, begann sie wie ein sechzehnjähriges Schulmädchen, das ihren Lieblingsstar um ein Autogramm bitten will. »Doktor Amendt? Darf ich … also … über all das … darf ich darüber schreiben?«

Amendt lächelte. Lisa Riedtmann errötete.

»Natürlich«, sagte er. »Wir haben Pressefreiheit.«

Verlegen wollte sich die Reporterin umdrehen, doch Amendts Frage hielt sie zurück. »Sagen Sie, was wissen Sie über Jan-Ole Vogel? Sie haben doch bestimmt gute Informationen.«

Seine Stimme klang so schmeichelnd, dass Katharina beinahe erschrak.

Lisa Riedtmann erstrahlte im hellsten Reporterstolz: »Also, bisher weiß ich nicht viel. Vita und so weiter. Ich wollte ja immer gerne eine Homestory über ihn machen, aber … so schwer, an ihn heranzukommen. Sein Presseagent blockt immer alles ab. Dieser Ulf Marbert.« Unwillkürlich schüttelte sie sich. »Ganz unangenehmer Typ. Hat aber alle Politiker unter Vertrag.« In ihren Augen leuchtete ein kriminalistischer Geistesblitz auf. »Den sollten Sie mal unter die Lupe nehmen.«

Ulf Marbert. Der Kommunikationsberater mit dem Teflonlächeln. Katharina sah ihn vor sich, wie er mit seinem Kind auf dem Schoß dagesessen hatte. Auf der Eröffnungsfeier. Sie notierte sich in Gedanken, dass sie tatsächlich mit ihm sprechen sollte, auch wenn sie sich nicht viel davon versprach. Marbert war ein Meister in nichtssagender Beredsamkeit.

»Und seine Frau?«, fragte Amendt weiter.

»Monica Marbert? Die Eisprinzessin?«

»Nein, ich meinte eigentlich Frau Vogel«, korrigierte Amendt sich.

»Ach, die ist so wunderschön. Die Haut, die sie hat, und das mit Mitte vierzig? Und dann diese langen roten Haare.«

»Wissen Sie, wo sie steckt?«

»Nein. Ich hatte gehofft, sie wäre zu Hause. Wir, also das Team von ›Mademoiselle‹, waren große Fans ihres Mannes, da wollte ich ihr wenigstens mein Beileid aussprechen.«

Und für eine kleine Homestory recherchieren. Katharina sprach den Gedanken nicht aus.

»Gab es denn keine Gerüchte über Jan-Ole Vogel? Ich meine, es wird doch gerade bei Prominenten immer etwas gemunkelt«, fragte Amendt weiterhin freundlich lächelnd.

»Ich berichte doch nicht über Gerüchte«, erwiderte die Reporterin empört. Amendt hatte wohl den Bogen überspannt. »Obwohl …« Oder doch nicht? »Na ja, das ist aber wirklich nur ein Gerücht. Und ich glaube das nicht.«

»Nämlich?«

»Angeblich«, schamvoll senkte Lisa Riedtmann die Stimme, »angeblich soll Vogel gerne Frauenkleider getragen haben. Aber nein!« Ihre Stimme wurde wieder fester. »Nein. Das glaube ich nicht.«

Oh süße Unschuld, dachte Katharina.

»Und dann war da noch diese Sache«, fuhr Lisa Riedtmann fort. »Eine Kollegin, die den Vogel nicht mag, hat behauptet, dass sie mal gesehen hat, wie er auf einer Party mit einer kurzhaarigen Blondine rumgeknutscht hat.«

»Und?«

»Seine Frau hat doch lange rote Haare.«

***

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