Читать книгу Damenopfer - Helmut Barz - Страница 6
Damengambit Weiterhin Sonntag, 6. April 2008.
Fühlt sich aber eher nach Montag an
Оглавление»The attack and defence emanating from this classical opening produce some of the most beautiful chess it is possible to obtain. The Queen’s Gambit possesses the merit of being the soundest of all the openings.«
Frank Marshall
Gleicher Ort.
Gleiche Zeit.
Aber zu spät.
Kein schlechter Scherz. Und auch kein Zaubertrick.
Der Knall des Schusses peitschte über den Vorplatz der Villa.
Blut und Wasser schossen Vogel aus Mund und Nase. Dann kippte er rückwärts aus Katharinas Sichtfeld. Umstandslos. Als hätte man ihm den Strom abgeschaltet.
Katharina versuchte erneut, aufzustehen, doch Schmerzen durchschossen ihre Schulter und ihren Knöchel, als hätte man weißglühende Brandeisen hineingerammt.
Schwere Schritte. Schwarze Hosenbeine wirbelten um sie herum. Die Personenschützer stürmten die improvisierte Bühne auf den Eingangsstufen der Villa.
»Ich habe einen Puls!« Laut. Kraftvoll. Souverän. Die Stimme von Andreas Amendt. »Ruft jetzt endlich jemand den verdammten Notarzt?«, setzte er im gleichen Ton hinterher.
Notarzt, Notarzt … Verdammt, wie sollte der Rettungswagen durch die ganzen Menschen durchkommen?
Katharina biss die Zähne zusammen; die Schmerzen in ihrer Schulter jagten erneut Blitze durch ihren Körper. Endlich gelang es ihr, sich aufzusetzen.
»Wir müssen ihn reinbringen!« Wieder Andreas Amendt. Das Gewirr der Beine um sie herum hatte sich gelichtet und Katharina konnte ihn endlich sehen, über Vogel gebeugt, die Hand auf die Wunde unter dem Kinn gepresst. Blut rann zwischen Amendts Fingern hindurch. Mit knappen Worten wies er sechs Personenschützer an, wie sie Vogel anheben mussten. Ein Siebter stemmte das schwere Eichenportal der Villa auf. In einer makabren Mischung aus einer Leichenprozession und einer Partie Twister bewegten sich die Männer, noch immer angeleitet von Andreas Amendt, durch die Tür, Vogels Körper zwischen sich tragend, ohne seine Haltung auch nur um einen Millimeter zu verändern.
Aber … Ach ja, der Notarzt. Katharina blickte sich um. Endlich entdeckte sie Harry. »Wir müssen die Zuschauer rauslotsen! Und den Weg für den Rettungswagen freimachen!«
Harry nickte beruhigend. Natürlich. Er wusste schon längst, was zu tun war. Zusammen mit Darian und Oswald ging er zielstrebig die Treppe hinab. Auf die Menschenmenge zu. Höflich, freundlich, hartnäckig drängten die drei die Besucher in Richtung Ausgang. Die Menge gehorchte, doch langsam, als würden sich die Menschen durch Treibsand kämpfen.
Totenbleiche Gesichter. Paare, die einander festhielten. Kinder, rasch auf den Arm genommen.
Katharina fischte ihr Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Den Beamten, der antwortete, kannte sie nicht. Aber er sie: »Wir haben die Meldung gerade bekommen, Frau Kriminaldirektorin«, vermeldete er zackig.
Dennoch wiederholte Katharina stur die Forderung nach dem Notarzt, nach mehr Beamten. Und nach allen Psychologen und Seelsorgern, die sich an einem Sonntagnachmittag auftreiben ließen.
***
»Frau Klein! Sind Sie verletzt?«
Katharina wünschte sich, es wäre wirklich eine Walküre, die da zu ihr herangesegelt kam, um sie nach Walhalla zu bringen. Doch es war Oberbürgermeisterin Walpurga Grüngoldt, die jetzt neben ihr niederkniete.
»Gestolpert«, antwortete Katharina knapp.
Mit einem Schwung, den man der matronenhaften Gestalt gar nicht zugetraut hätte, sprang Walpurga Grüngoldt wieder auf. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Nicht, dass was gebrochen ist! Ich hole Hilfe!«
Mit schweren Schritten eilte sie zur großen Eichentür, wuchtete sie auf, wollte hineingehen. In diesem Augenblick machte Arnulf Sturmer den Fehler, den Kopf hinauszustecken. Die Oberbürgermeisterin packte ihn am Ärmel und zog ihn ins Freie. »Sie! Tun Sie was! Bringen Sie Ihre Kollegin nach drinnen! Sie ist verletzt!«
Verdattert gehorchte Sturmer. Katharina konnte ihm gerade noch zurufen »Vorsicht! Schulter und Bein!«, da hatte er sie schon hochgehoben und sich über die Schulter gelegt. Walpurga Grüngoldt hielt ihnen die Tür auf.
***
Im Foyer der Karl-Kreutzer-Villa rannten Personenschützer und verstörte Politprominenz durcheinander, ohne sie zu beachten.
»Sie warten hier!«, befahl Walpurga Grüngoldt Arnulf Sturmer und verschwand in der Menge.
Katharina wollte ihren Kollegen gerade bitten, sie abzusetzen, da kehrte die Oberbürgermeisterin auch schon zurück, Jeannie am Arm hinter sich her schleifend: »Sehen Sie doch! Tun Sie was!«
***
Jeannie hatte Arnulf Sturmer und seine unfreiwillige Passagierin in ein geräumiges Behandlungszimmer im medizinischen Flügel der Villa geführt und erklärt, sie würde Andreas Amendt so schnell wie möglich schicken. Doch der sei noch beschäftigt. Mit dem Justizminister.
Das allerdings hätte sie Katharina gar nicht zu sagen brauchen. Der Operationsraum lag direkt nebenan; Amendts Stimme war trotz der dicken Wände klar und deutlich zu vernehmen: »Ich brauche Klemmen! – Halten Sie die Infusion höher! – Wo bleibt der verdammte Notarzt? – Verfluchte Scheiße!«
Sturmer legte Katharina auf die Behandlungsliege und schloss die Tür. Gemeinsam schafften sie es nach einigen Bemühungen, Katharina das Jackett auszuziehen. Dann wandte sich Sturmer ihren Stiefeletten zu.
»Sie … Sie brauchen nicht –«, wollte Katharina widersprechen.
Sturmer hob nicht einmal den Kopf: »Doch! Wenn der Fuß weiter anschwillt, kriegen wir die Dinger später nur noch mit einem Schwingschleifer runter. Und das wäre doch schade um die guten Stücke.« Endlich war es ihm gelungen, den Reißverschluss der Stiefelette an Katharinas linkem Fuß zu öffnen. Jetzt streifte er behutsam den Schuh ab. Katharina biss die Zähne zusammen, als ihr Knöchel wieder Schmerzensflammen durch ihren Körper jagte, das Bein hoch bis hinter ihre Schläfen. Endlich war es geschafft. Welch eine Wohltat!
Und in letzter Sekunde: Katharina hatte vorsichtig den Kopf gehoben, bis ihre Schulter rebellierte. Aber es gelang ihr trotzdem, einen Blick auf ihren Fuß zu erhaschen. Der Knöchel war bereits mächtig angeschwollen.
Sturmer durchsuchte die Schränke, bis er fand, was er suchte. Es knackste laut, als er die kleinen, blauen Päckchen zurechtbog.
»Achtung! Kalt!« Dann presste er die Eiskompressen auf Katharinas Knöchel und fixierte sie mit einer Binde. Augenblicklich ließ der Schmerz nach.
»So, das sollte reichen, bis der Arzt kommt.« Sturmer zog sich einen fahrbaren Hocker heran und setzte sich neben Katharinas Kopf.
»Wir sind ja verdammt gut ausgestattet.« Er deutete auf die zahlreichen Geräte, die an einer Wand in Reih und Glied auf ihren Einsatz warteten. »Ultraschall. EKG. Und … – Aber«, wechselte er plötzlich das Thema. »Sollen wir uns hier nicht um Tote kümmern? Das hier … Der Raum ist doch nur für lebende Patienten.«
Die schlichte Wahrheit war, dass Katharina und Andreas Amendt die Begeisterung von öffentlichen Stellen kannten, Anforderungen von Material und Räumlichkeiten gnadenlos zusammenzustreichen. Als ihnen daher aufgetragen worden war, doch bitte Listen mit dem gewünschten Inventar einzureichen, hatten sie einfach alles aufgeschrieben, was nur im Entferntesten in ihre jeweiligen Fachgebiete fallen könnte. Doch dann hatten sich die ganzen Sponsoren gefunden. Geld und Materialspenden im Überfluss. So gab es nicht nur diesen Behandlungsraum, sondern auch einen voll ausgestatteten Operationssaal nebenan und daneben ein intensivmedizinisches sowie ein normales Krankenzimmer.
Katharina erinnerte sich, wie sie und Amendt an einem Tisch im Freien gesessen hatten. Unter afrikanischer Sonne. Lachend und feixend, einander in immer utopischer klingenden Anforderungen für die Sonderermittlungseinheit überbietend. Damals hatten sie sich noch gut verstanden. Beziehungsweise überhaupt miteinander gesprochen. War das wirklich erst drei Monate her?
»Hey, alles im Lack?« Sturmer hatte sich über Katharina gebeugt. Im Strudel ihrer Gedanken hatte sie völlig vergessen, ihm zu antworten.
»Ja, ja«, antwortete Katharina zögernd. »Wir müssen in der Sonderermittlungseinheit auch darauf vorbereitet sein, mit lebenden Patienten umzugehen.« Schlimmer hätte es auch die Pressestelle nicht formulieren können. »Deswegen sind wir auf alle Eventualitäten vorbereitet.«
Sturmer verzog sein Bulldoggengesicht zu einem freudlosen Grinsen: »Und die Sponsoren haben ja auch nur so mit Geld um sich geworfen. Hab sogar den ganzen psychologischen Testkram bekommen, den ich angefordert habe.« Mit der Eleganz eines Formel-1-Fahrers in einer zu engen Kurve wechselte Sturmer das Thema: »Stimmt das eigentlich, was man im Präsidium so flüstert? Dass du und dieser Amendt ein Paar seid?«
»Die sagen was?«
»Dass ihr ein Paar seid. Und so, wie ihr euch eben bei der Feier ostentativ ignoriert habt … Sah aus, als hättet ihr gerade eine heiße Nacht miteinander verbracht. Und keiner darf’s wissen.«
»Nein, Doktor Amendt und ich sind nur Kollegen«, sagte Katharina hastig.
»Gut.« Sturmer schien erleichtert. »Don’t be intim in the team, sag ich immer. Gibt nur Scherereien. Und dann landen die jedes Mal bei mir. Zur psychologischen Beratung. Oder jetzt bei meinem Nachfolger. Wer auch immer das arme Schwein ist. Ich bin so froh, dass ich das nicht mehr machen muss. Ich meine, ich bin genauso Bulle wie ihr. Spezialisiert auf forensische Psychologie. Und was kriege ich den ganzen Tag zu tun? Liebeskummer. Mobbing. Dienstunfähigkeitsgutachten. Zum Kotzen. – Apropos: Was denkst du, warum er es getan hat?«
»Warum wer was getan hat?«
»Na, warum dieser Minister sich umbringen wollte.«
Endlich verstand Katharina. Und schämte sich im nächsten Augenblick. Jan-Ole Vogel hatte sich vor ihren Augen in den Kopf geschossen. In aller Öffentlichkeit. Sie hatte es nicht verhindern können. Wegen dieser verdammten wackligen Stufe.
Nein, wegen ihrer Unachtsamkeit. Sie hätte nicht stolpern dürfen!
Dann wäre sie rechtzeitig am Rednerpult gewesen, um Vogel die Waffe aus der Hand schlagen.
»Also?«, fragte Sturmer erneut. »Irgendeine Idee?«
Katharina wollte mit den Schultern zucken, doch schon der Ansatz der Bewegung tat so weh, dass sie Luft durch die Zähne einziehen musste. »Nein. Keine Ahnung. Ist das nicht eher dein Metier?«
»Man steckt halt nicht drin. Suizide sind meistens ziemlich vertrackt. Schulden. Eheprobleme. Oder einfach nur gekränkter Narzissmus. Das zeigt ja auch das Wie.«
»Wieso das Wie?«
»Na ja, sich in aller Öffentlichkeit die Knarre an den Kopf zu setzen. ›Jetzt seht her, was ihr davon habt.‹ Spricht nicht gerade für besondere emotionale Reife.«
***
Eine Stunde später.
Endlich wurde die Tür des Behandlungszimmers aufgestoßen. Hereingestürmt kam Andreas Amendt. Er würdigte Katharina keines Blickes. Stattdessen riss er zornig Schubladen auf und schob sie mit einem Knall wieder zu: »Natürlich. Auch hier. Es ist zum Kotzen.«
»Was?«, fragte Katharina mürrisch.
»Keine Kleininstrumente. Keine Skalpelle, Klammern, Scheren … Supertoller OP, aber kein Besteck! Tolles Omen, wenn einem gleich der erste Patient auf dem Tisch verreckt, weil man kein Material zum Arbeiten hat.«
»Ist Vogel tot?«
Amendt blieb stehen und holte tief Luft. »Ja. Ist er. Der Notarzt hat es gerade bestätigt und ist sofort wieder abgerauscht. Die Leiche haben sie uns natürlich dagelassen. Klasse. Jetzt darf ich mich auch noch um den Abtransport bemühen.«
»Das hier ist doch ein rechtsmedizinisches Institut?«, mischte sich Sturmer ein. »Dann liegt er hier doch genau richtig.«
»Ja, ist aber …« Amendt stockte. Dann endlich schien er Katharina wahrzunehmen. Er stöhnte theatralisch auf. »Katharina, na klar! Du musst natürlich wieder in Schwierigkeiten geraten. Kannst du dir das nicht endlich mal abgewöhnen?«
Seine Worte waren die Funken, die Katharinas angestaute Wut zur Explosion brachten. Ruckartig setzte sie sich auf: »Sie duzen mich nicht! Sie nennen mich nicht Katharina! Am besten reden Sie nur mit mir, wenn Sie gefragt werden! – Und ziehen Sie sich erst mal was anderes an, bevor Sie an mir herumdoktern. Ich will nicht auch noch Blut auf meinen Anzug kriegen.«
Erschrocken sah Andreas Amendt an sich herab. Offenbar fiel ihm erst jetzt auf, dass Brust und Ärmel seines Hemdes blutgetränkt waren. Dann eilte er aus dem Raum.
Katharina ließ sich zurücksinken. Das hatte verdammt gutgetan.
Sturmer hob die Mundwinkel zu einem Grinsen. »Ist wohl doch was dran am Präsidiums-Flurfunk. Ex-Freund?«
»So was Ähnliches, ja.« Katharina war nicht in der Stimmung, jemandem ihre komplizierte Beziehung zu Andreas Amendt zu erklären.
***
Zehn Minuten später kehrte Amendt zurück ins Behandlungszimmer. Er trug jetzt blaue OP-Kleidung. Auch seine Hände hatte er geschrubbt. Er trat an die Untersuchungsliege. »Ich weiß, ich soll nicht reden, aber trotzdem muss ich fragen, wo es weh tut.«
»Knöchel und rechte Schulter«, antwortete Katharina kurzangebunden.
Amendt nahm sich zunächst den Knöchel vor. Behutsam betastete er ihn, drehte den Fuß vorsichtig hin und her. »Tut das weh?«
Katharina bejahte, die Zähne zusammengebissen. Amendt legte den Fuß langsam wieder zurück und wandte sich der Schulter zu, die er gleichfalls vorsichtig untersuchte.
Dann richtete er sich auf. »Wir müssen sie runterbringen«, wandte er sich an Sturmer.
»Runter?« Katharina lief ein Schauer über den Rücken. Unten waren die Obduktionsräume.
»Zum Röntgen. Kann sein, dass da was gebrochen ist. Unsere Geräte sind besser als alles, was die Uniklinik so zu bieten hat. Außerdem nehme ich mal an, dass Sie die nächsten Stunden nicht unbedingt in der Notaufnahme verbringen wollen, oder?«
***
Amendt betrachtete Katharinas Röntgenbilder auf dem großen Plasmaschirm im Behandlungszimmer. »Gebrochen ist nichts. Auch keine Sehne gerissen. Der Fuß ist nur verstaucht. PECH!«
»Pech?«, fragte Katharina verärgert.
»Er meint Pause – Eis – Compression – Hochlegen«, erklärte Sturmer, bevor Amendt antworten konnte. »Das solltest du eigentlich wissen. Ist Bestandteil unserer Ersthelferausbildung.«
Amendt rief das nächste Bild auf. »Und die Schulter … Setzen Sie sich mal auf.«
Gemeinsam richteten er und Sturmer Katharina auf.
Amendt legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid.«
»Jetzt wollen Sie darüber reden? Ausgerechnet jetzt?«
»Nein. Das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Das!«
Beherztes Zupacken.
Knacken.
Der weißglühende Schmerz trieb Katharina die Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie sich übergeben.
Dann war es vorbei.
Amendt lehnte sich an die Liege, seine Hand wieder locker in den Kittel geschoben, als hätten sie nur gemütlich geplaudert. »Ich hätte Sie ja vorgewarnt, aber dann hätte es richtig wehgetan.«
Richtig wehgetan? Katharina rieb sich die Schulter.
»Das Schultergelenk war disloziert – verrenkt«, dozierte Amendt. »Nichts Dramatisches. Aber trotzdem bitte ein paar Tage nur behutsam belasten. Kein Sport und nicht schießen.«
»Ich kann auch mit links schießen.«
»Das überrascht mich nicht. – Ich gebe Ihnen gleich noch zwei Spritzen gegen die Schwellung. Das heißt, wenn …« Gespannt zog er eine weitere Schublade auf. »Na, Spritzen und Kanülen haben wir zumindest in ausreichender Menge.«
Er öffnete einen Medikamentenschrank, nahm zwei Ampullen heraus und füllte zwei Spritzen, die er dann in ihre Schulter und ihren Knöchel injizierte. Zufrieden warf er Spritzen und Tupfer in einen Behälter für medizinischen Abfall. »So, das war’s.«
Er ging noch einmal zum Medikamentenschrank und nahm zwei Packungen heraus. Die eine öffnete er, riss zwei Tabletten vom Blisterpack ab und stellte die Packung zurück in den Schrank. »Die Pillen in der Packung heute und morgen zu den Mahlzeiten nehmen. Sind gegen die Schwellung und reduzieren die Reizung. Die hier«, er deutete auf die beiden einzelnen Tabletten, »die sind gegen Schmerzen. Also nur nach Bedarf. Achtung, die machen ziemlich müde.«
Katharina schob beides in ihre Handtasche. »Und jetzt?«
Wie zur Antwort wurde die Tür des Behandlungszimmers aufgerissen.
Máximo Líder Hanfried de la Buquet stapfte herein. Er fixierte Amendt und Katharina. »Wir erwarten Ihren Bericht über diesen Vorfall bis morgen früh«, bellte er im Pluralis Majestatis. Dann machte der Innenminister auf dem Absatz kehrt. Seine Bodyguards hatten wenigstens den Anstand, die Tür hinter sich zu schließen.
Katharina gewann als Erste die Fassung wieder und schwang die Beine über die Kante des Behandlungstisches. »Na, dann wollen wir mal.«
Sie wollte vom Tisch klettern, doch Amendt verstellte ihr den Weg: »Sie gehen besser nach Hause. Um den Bericht kann ich mich kümmern.«
»Ich gehe nirgendwo hin«, sagte Katharina giftig.
Amendt hob entwaffnend die Hände: »Schon gut, schon gut.« Dann wandte er sich an Sturmer: »Sie! Sie sind doch Polizeipsychologe, oder?«
»Richtig.«
»Falsch. Heute sind Sie Krankenpfleger.«
***
Zum ersten Mal im Rittersaal.
Sturmer hatte Katharina auf einem hochbeinigen Rollhocker durch die nun fast völlig verwaiste Karl-Kreutzer-Villa geschoben. In den Raum, der Rittersaal genannt wurde. Großer Eichentisch, hochlehnige Stühle, an den Wänden mehrere große Plasmabildschirme anstelle der eigentlich angemesseneren Ahnengalerie.
Der Tisch bot Platz für 25 Personen, daher wirkte die kleine Runde etwas verloren: Katharina, Amendt, Sturmer, die Hörnchen, Jeannie, Oswald, Harry und Darian, der Nachwuchspolizist.
»Der Innenminister …«, begannen Katharina und Amendt gleichzeitig, nur um dann innezuhalten und dem anderen den Vortritt zu lassen. Nach mehrmaligem Hin und Her nölte Oswald schließlich genervt: »Was ist jetzt mit dem Innenminister?«
»Er erwartet unseren Bericht über den Vorfall bis morgen früh«, erklärte Katharina.
»Schon klar«, sagte Oswald. »Wer macht was?«
Bevor Katharina Aufgaben verteilen konnte, meldete sich Harry zu Wort: »Ich schlage vor, Darian und ich befragen die Zeugen, soweit sie vernehmungsfähig sind. Die Seelsorger sind draußen noch am Beruhigen.«
»Jeannie und ich«, übernahm Oswald, »sprechen am besten mal mit den ganzen Medienfritzen, ob die uns Kopien ihrer Bilder und Filme überlassen.«
»Dazu brauchen wir einen Gerichtsbeschluss«, widersprach Katharina.
»Lass uns das mal machen.« Oswald hob beruhigend die Hände. »Wenn Jeannie und ich unseren gemeinsamen Charme spielen lassen und die sich außerdem eine gute Story davon versprechen …«
»Gut. Und ihr …«, wollte Katharina sich an die Hörnchen wenden.
»Wir sichern den Tatort …« – »… und die Spuren.« Die Hörnchen hatten die Eigenart, alles, was sie sagten, unter sich aufzuteilen.
»Aber übertreibt es nicht mit euren Spielzeugen.« Katharina wusste, dass die Hörnchen dank der Sponsoren über ein gewaltiges Arsenal an Hilfsmitteln verfügten und nur darauf brannten, alles auszuprobieren. »Das ist nur ein Bericht. Keine kriminaltechnische Leistungsschau.«
»Nicht mal …« – »… einen 3D-Scan?«
»Na gut. Aber nur einen.«
***
Leichenschau
exakt nach Vorschrift.
Die Leiche von Justizminister Vogel lag noch immer auf dem Tisch im OP. Das Jackett war beiseitegeschoben, das Hemd aufgerissen. Rund um den Tisch verstreut lagen blutige Bandagen, aufgerissene Packungen, Spritzen, Infusionsflaschen … Die Spuren einer fehlgeschlagenen Notfallrettung.
Amendt drückte Sturmer einen großen Fotoapparat in die Hand. »Können Sie damit umgehen?«
Sturmer drehte die Kamera in den Händen: »Eine Canon Mark V. Klar. Gutes Teil. Was soll ich damit tun?«
»Wir müssen das hier fotografisch dokumentieren. Ich sage Ihnen, was und wie.«
»Warum machen Sie das nicht selbst?«, fragte Katharina.
Sie war bloß neugierig gewesen, doch Amendt wirbelte zu ihr herum und streckte ihr seine linke Hand hin, die er bis dahin in seiner Kitteltasche verborgen hatte. »Deshalb!«
Die Raubtierklaue eines Filmmonsters! Im permanenten Krampf gekrümmte Finger. Der Daumen unnatürlich zur Handfläche gebogen.
»Ein kleines Andenken an meinen Trip ins Jenseits.«
»Aber –«
»Tja, so was passiert, wenn das Hirn zu lange ohne Sauerstoff ist.«
»Sie geben mir die Schuld –?«
»Schwamm drüber. Wir haben Wichtigeres zu tun!« Abrupt drehte Amendt sich zu Sturmer um. »Dann wollen wir mal.« Seine Stimme war wieder ganz ruhig, sachlich.
Katharina vollkommen ignorierend, sie nur ein paar Mal beiseiteschiebend, wenn sie auf ihrem Rollhocker im Weg war, scheuchte er Sturmer um den Tisch und wies ihn an, was er fotografieren sollte. Jedes Mal ließ er sich das Bild auf dem Display der Digitalkamera zeigen.
Endlich war er zufrieden. »Na, dann bringen wir ihn mal runter in die Autopsie.«
Sturmer half ihm, Handschuhe überzustreifen. Dann luden sie den Körper von Vogel auf eine Rollbahre und schoben ihn aus dem OP. Die Schwingtür pendelte zwei Mal hin und her, dann kam sie mit einem leisen Quietschen zur Ruhe. Sie hatten Katharina allein zurückgelassen.
Schuld? Natürlich war es ihre Schuld gewesen, dass Amendt versucht hatte, sich umzubringen.
Sie hätte die Andeutungen verstehen müssen. Seinen Suizidversuch von Anfang an verhindern. Doch sie war zu spät gekommen. Amendt wäre um ein Haar gestorben. Und jetzt war seine Hand verkrüppelt.
Egal, sie musste runter in die Autopsie. Vorsichtig ließ sie sich von ihrem Hocker herab. Ihr Fuß schmerzte noch immer, wenn sie ihn aufsetzte, und ihr Arm, den Amendt in eine Schlinge verbannt hatte, war auch keine große Hilfe. Auf den Rollhocker gestützt, gelang es ihr, sich Schritt für Schritt zur Tür vorzuarbeiten.
Doch gerade, als sie nach dem großen Metallgriff fassen wollte, um die Tür aufzuschieben, wurde sie fast umgestoßen. Sturmer kam hereingestürmt. Tadelnd musterte er sie. »Aber, aber! Zurück auf deinen Hocker. Ich bring dich runter.«
***
Es war ein Gerücht, dass Tote immer friedlich aussahen. Vogels Kopf war zur Seite gerollt, seine Augen standen offen, ebenso sein Mund. Wangen und Kinn waren mit getrocknetem Blut verschmiert. Eine Breughel’sche Höllenfratze wie die, die Katharinas Vater ihr einmal in einem Buch mit Detailvergrößerungen aus den Höllenvisionen des Malers gezeigt hatte.
Hölle? In der Hölle ist Vogel schon gewesen, dachte Katharina. Warum sonst dieser drastische Schritt? Vielleicht würden sie mehr erfahren bei der Untersuchung der Leiche und von Vogels Habseligkeiten. Vielleicht gab es einen Abschiedsbrief. Das würde die Sache leichter machen. Für die Angehörigen. Hatte Vogel Kinder? Katharina wusste nur, dass er verheiratet war.
Und jetzt? Wenn Amendt nach Protokoll vorging, würde er zunächst einmal die Taschen des Toten ausleeren und ihn dann entkleiden. Moment! Wo steckte …?
»Wo ist denn der Amendt?«
»Keine Ahnung.« Sturmer zuckte missmutig mit den Schultern und schob die Hände tiefer in die Hosentaschen. »Wir haben die Leiche auf den Tisch gelegt, dann hat er ein paar Schubladen aufgezogen, gemurmelt ›Natürlich! Auch hier!‹ und ist abgerauscht, ohne ein Wort zu sagen. Kleine Diva, der Gute, oder? – Und die Sache mit der Hand vorhin? Darf ich fragen, was –?«
»Lange Geschichte«, schnitt ihm Katharina das Wort ab.
»Okay, okay.« Nachdenklich wandte sich Sturmer dem Toten zu. »In meiner Streifenzeit habe ich ja einige Tote gesehen, auch Selbstmörder, aber so … gewöhnungsbedürftig. – Was war deine erste Leiche? Meine war ein Verkehrsunfall.«
Sturmer wollte wohl zu einem Monolog über seine erste berufliche Begegnung mit dem Tod ansetzen, als die Tür zum Autopsiesaal aufgestoßen wurde. Andreas Amendt kam hereinmarschiert, auf dem Arm eine rosafarbene, viereckige Plastikschüssel, auf der er wiederum einen antik aussehenden Holzkasten balancierte.
»Man höre und staune, die Küche ist vollständig ausgestattet.« Er stellte Schüssel und Kasten auf einen kleinen, rollbaren Stahltisch.
Mit einer Hand begann er, die Schüssel auszupacken und seine Fundstücke säuberlich auf den Tisch zu legen: eine Geflügelschere, Küchenmesser in unterschiedlichen Größen, ein paar normale Scheren, einen Kuchengreifer und zuletzt eine Packung Strohhalme.
Dann klappte er den Holzkasten auf. Blitzende Klingen, Instrumente mit Perlmuttgriffen. »Karl Kreutzers Pathologie-Besteck. Autopsie wie in der guten alten Zeit. Das Ding stand in einer Vitrine in der Bibliothek. – Dann wollen wir mal.«
Amendt drückte Sturmer zwei Paar Handschuhe in die Hand und bedeutete ihm wortlos, erst selbst welche überzustreifen und ihm dann zu helfen.
Er rieb die Hände gegeneinander, damit die Handschuhe an die richtige Stelle rutschten, und massierte mit dem Daumen die Innenfläche seiner linken Hand. Dann trat er an den großen Plasmabildschirm und schaltete ihn an. Mit ein paar Berührungen rief er das Formular für eine »äußere Leichenschau« auf. Er streifte sich ein Headset über, dessen Sender er unter seinem Kittel an den Hosenbund klippte.
»Diktatsystem«, erklärte er. »Funktioniert ziemlich gut.«
»Na ja«, murrte Sturmer. »Wollten die im Präsidium auch mal einführen. Bei mir hat es immer ›Dienstunfähigkeit‹ als ›Dienstuntätigkeit‹ verstanden. Oder das System war einfach sehr ironiebegabt.«
Amendt ignorierte ihn. Er diktierte die Eckdaten zu Vogel. Alter. Geschlecht. Größe. Ort, Datum und Uhrzeit des Todes. Dann tippte er in das Feld »Bericht«. Gleichzeitig poppte daneben der Umriss eines Körpers auf. »Das System fertigt sogar automatisch Skizzen an und fügt die Bilder von der Kamera ein.« Er deutete auf einen großen Fotoapparat, der an einem Schwenkarm über dem Autopsietisch befestigt war.
Schließlich trat er an den Stahltisch. »Ergebnisse der Taschenuntersuchung«, diktierte er. Dann fasste er der Reihe nach in die Jackett- und Hemdtaschen Vogels, zum Schluss in die Hosentaschen. »Nichts. Kein Tascheninhalt.«
»Was? Jeder hat doch irgendetwas in den Taschen. Brieftaschen, Schlüssel, Taschentuch, Kleingeld …«, sagte Katharina.
»Und diese undefinierbaren grauweißen Knäuel«, ergänzte Sturmer, »die vielleicht mal ein Papiertaschentuch, ein Notizzettel oder ein Geldschein gewesen sind.«
Auch Amendt trat einen Schritt zurück und überlegte. Dann atmete er durch. »Protokoll der Entkleidung der Leiche«, setzte er sein Diktat fort.
Er wies Sturmer an, Vogel behutsam auszuziehen und die einzelnen Kleidungsstücke in Plastikbeutel zu verpacken. »Krawatte, grau. Jackett, grau. Hemd, hellgrau«, diktierte er der Reihe nach. »Stiefelette, schwarz, rechts. Stiefelette, schwarz, links …«
Katharina massierte sich das Gesicht. Sie hatte fast vergessen, wie langweilig Leichenschauen im Grunde waren. Endlos viele bürokratische Schritte mit wenig Erkenntnisgewinn. Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen.
»Strümpfe, schwarz, Gürtel, schwarz, Hose, hellgrau, Unterwäsche … – Holla, was ist das denn?«
Während Sturmer noch damit beschäftigt war, die Hose vorsichtig von Vogels Beinen zu streifen, hatte Amendt innegehalten. Er deutete auf den Schritt des Leichnams. Katharina stieß sich mit dem gesunden Bein ab, um sich an den Tisch zu rollen.
Der Anblick war tatsächlich … unerwartet. Vogel trug einen schwarzen, spitzenbesetzten, bestickten Seidentanga. Einen Damenslip?
Bis auf … Das kleine Stoffdreieck im Schritt des Slips war weit genug, um Vogels Penis aufzunehmen.
Amendt zog die Kamera zu sich heran und schoss ein paar Fotos.
»Fürs Poesiealbum der Perversionen?« Sturmer hatte inzwischen die Hose verpackt und war gleichfalls an den Tisch getreten.
»Nein«, erklärte Katharina, während Amendt noch fotografierte. »Die erste Abweichung vom Erwarteten.«
Unwillens, die Belehrung einfach so stehen zu lassen, knurrte Sturmer: »Wenn man mal davon absieht, dass er sich vor Publikum eine Kugel in den Kopf geschossen hat. – Soso, unser Justizminister war also eine Transe.«
»Oder das war ein sexuelles Rollenspiel. Den Partner Unterwäsche des anderen Geschlechts tragen zu lassen«, dozierte Amendt. Dann bemerkte er, dass ihn Katharina und Sturmer verwundert anstarrten. Seine Wangen bekamen rote Flecken. »Hab ich mal in einer Pathologie der Sexualität gelesen«, ergänzte er viel zu hastig.
Wer’s glaubt, wird selig, schoss es Katharina durch den Kopf. Dann erinnerte sie sich, dass Amendt in seinem Leben nur mit einer Frau geschlafen hatte. Ihrer Schwester Susanne. Seiner Verlobten. Hatten sie solche Spielchen gespielt? Katharina sah Susannes verschmitztes Lächeln vor sich. Zuzutrauen war es ihr.
Amendt und Sturmer zögerten, Vogel den Slip abzustreifen. Als ob sie sich mit irgendetwas anstecken könnten. Also bat Katharina um eine Schere und durchschnitt die beiden Haltebändchen. Sorgfältig faltete sie den Slip, um ihn in einen Plastikbeutel zu stecken.
Doch dann zögerte sie. Durch die Ausbeulung durch den Penis war die Stickerei im Schritt zuerst nicht zu erkennen gewesen: eine Schachfigur. Die Dame, um exakt zu sein. Wer stickte sich denn so was in den Schritt?
Sturmer dachte offenbar das Gleiche: »Die mächtigste Figur auf dem Brett. Gleichzeitig weiblich. Freud hätte seine Freude daran. Ich sag ja, eine Transe.«
Das ist natürlich eine einfache Erklärung, dachte Katharina und wollte den Slip zu den anderen Kleidungsstücken legen. Eine kleine geheime sexuelle Vorliebe, vielleicht ein Erpressungsversuch, Angst vor dem drohenden Skandal. War das der Grund für Vogels Selbstmord?
Doch andererseits: kein Tascheninhalt, die Kleidung elegant, aber nichtssagend. Vogels Suizid war geplant und gut vorbereitet gewesen. Und dann trug er einen Slip, der ihn bloßstellte?
Sie betrachtete das Höschen noch einmal genauer. Wenigstens war ihr Fachwissen in Sachen weiblicher Unterwäsche einmal kriminalistisch nützlich. Sie erkannte die von Hand gesetzten Nähte, die leichten Unregelmäßigkeiten in der Stickerei, die gleichfalls auf Handarbeit schließen ließen. Hatte Vogel sich den Slip anfertigen lassen? Nur für diesen Anlass? Sicherheitshalber legte sie den Plastikbeutel mit dem Slip etwas abseits.
Amendt hatte unterdessen den Leichnam abgeduscht, Blut und Dreck weggespült. Dann hatte er Sturmer das Paket Strohhalme in die Hand gedrückt und ihn angewiesen, zwei davon möglichst gerade ineinanderzustecken.
Mit der Kamera am Schwenkarm fotografierte Amendt die Wunde an Vogels Hals, während er diktierte: »Augenscheinlich ist die Eintrittswunde am Hals, deren Durchmesser an der breitesten Stelle«, Amendt maß mit einem Lineal, »sieben Zentimeter beträgt. Die Wunde ist nach Form und Größe konsistent mit einer Schusseintrittswunde. Die sternförmigen Ausrisse sowie der klar abgegrenzte Schmauchring lassen auf einen aufgesetzten Schuss schließen. Der Einschusswinkel beträgt …«
Er nahm Sturmer die ineinandergeschobenen Strohhalme aus der Hand und schob sie vorsichtig in die Wunde. Dann zog er einen gleichfalls an einem Schwenkarm befestigten Winkelmesser herab und hielt ihn neben den Hals des Toten.
»… 47 Grad zur Körperachse«, fuhr er fort zu diktieren. Er zog den Strohhalmverbund vorsichtig aus der Wunde und maß die Wundtiefe: »Der Schusskanal ist einundzwanzig Zentimeter lang und nachverfolgbar bis zur Schädeldecke. Nach Lage des Einschusskanals hat das Geschoss das Stammhirn und den Okzipitallappen penetriert. Weitere Hirnschädigungen sind nicht auszuschließen, doch die beschriebenen Verletzungen sind bereits ausreichend todesursächlich.« Er warf die Strohhalme in einen Behälter für medizinischen Abfall. Dann betastete er Vogels Hinterkopf. »Eine punktuell begrenzte Schädelfraktur mit Ausstülpung nach außen ist leicht ertastbar. Eine Austrittswunde ist nicht festzustellen. Das Projektil befindet sich noch im Schädel.«
Amendt tastete den Rest des Schädels ab, zuletzt unter dem Kinn. Er hielt überrascht inne und sah zu Katharina auf: »Haben Sie zufällig eine Pinzette? Oder eine kleine Zange?«
Pinzette? Zange? Nein. Oder …? Doch. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem kleinen Leatherman, den sie dem Werkzeugset in ihrer Handtasche hinzugefügt hatte. Sie klappte die Zange auf und reichte sie Amendt. Er führte die Backen der Zange vorsichtig in die Wunde ein. Ein paar Sekunden später zog er sie wieder heraus und diktierte: »Das Projektil konnte aus dem Weichgewebe am Hals des Verstorbenen geborgen werden, ohne den Schädel zu öffnen.«
Glückstreffer, dachte Katharina. Das Geschoss musste im Schädel ein paar Mal abgeprallt sein und hatte zufällig durch die Einschussstelle wieder hinausgefunden. Amendt reichte ihr das Geschoss auf einer Untertasse.
Katharina rollte sich zu einem Waschbecken und wusch die Kugel vorsichtig ab. Das Geschoss war schwer deformiert, aber sie erkannte es sofort. Vollblei. Flachköpfig und ohne Spitze. Ein sogenanntes Wadcutter-Geschoss. Sportmunition.
Sie berichtete Amendt davon.
Er diktierte ihre Erkenntnisse direkt in den Bericht. Dann drückte er auf den Schalter am Kabel des Headsets: »Na, der hat’s aber wirklich gewollt.«
»Was gewollt?«
»Sterben. Die richtige Art zu schießen, der Schluck Wasser, maximal verformende Munition …«
»Wozu dient denn der Schluck Wasser?«, fragte Sturmer. »Ich meine, ich habe schon davon gehört, aber …«
»Zweierlei«, erklärte Andreas Amendt. »Zum einen muss das Geschoss so durch noch eine Schicht durch, die einen anderen Widerstand bietet als die übrige Umgebung. Das bremst das Geschoss und lässt es taumeln. Der Schaden wird dadurch größer. Gleichzeitig verteilt das Wasser die Druckwelle und führt zu einer weiteren Deformation des Gehirns und seiner Blutgefäße. Ein zusätzliches Hirntrauma, wenn Sie so wollen. – Vogel war vermutlich schon hirntot, bevor er auf dem Boden aufgeschlagen ist.«
Katharina hatte die Kugel verpackt, während Amendt die bei den Rettungsmaßnahmen zugefügten Verletzungen dokumentierte: gebrochene Rippen und Druckstellen von der Reanimation. Leichte Hautreizung von den Paddles des Defibrillators, zwei Einstichstellen im Brustkorb von den Epinephrin-Spritzen.
Dann suchte er Vogels Körper sorgfältig nach weiteren Spuren und Verletzungen ab. Bei den Oberschenkeln hielt er inne. »Sehen Sie das?«, fragte er Sturmer.
»Holla, ein Ritzer war er auch.«
Katharina rollte sich wieder an den Tisch. Ihre Augen mussten sich erst an das gleißende Licht der OP-Lampen gewöhnen, dann sah auch sie die feinen weißen Linien auf der gebräunten Haut. Sie kannte solche Narben. Hatte sie schon zu oft bei ihren Ermittlungen gesehen.
»SVV?«, fragte sie. Selbstverletzendes Verhalten?
»Sehe ich auch so.« Amendt schaltete das Headset wieder an.
»Auf der linken und rechten Innenseite des Oberschenkels rechtwinklig zur Beinachse verlaufende, dünne Narben«, diktierte er. »Nach Form und Länge ist von einer Selbstzufügung mittels eines scharfen Werkzeugs auszugehen. Die Narben sind jedoch gut verheilt und mehrere Jahre alt.« Er wandte sich an Sturmer: »Dann wollen wir mal schauen, was wir auf der anderen Seite finden. Helfen Sie mir, ihn umzudrehen.«
Sturmer tat, wie ihm geheißen.
Sorgfältig, Zentimeter um Zentimeter, beginnend beim Haaransatz suchte Amendt den Körper ab. Als er die Pobacken auseinanderzog, hielt er eine Sekunde inne. Dann diktierte er weiter: »Haut und Schleimhaut um die Afteröffnung gerötet und gereizt. Spuren analog zu einem Klysma oder analer Stimulation innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden. Narbengewebe um die Afteröffnung lässt auf regelmäßige Penetration schließen.«
»Transe und schwul«, stellte Sturmer fest.
Katharina widersprach: »Nein, er war verheiratet.«
Sturmer stieß verächtlich die Luft aus: »Alibi-Braut.«
»Ach, es gibt auch Heteromänner, die auf so was stehen.«
»Und wie …?«, fragte Sturmer mit einer Mischung aus Ekel und Neugierde.
»Mit einem Strap-on. Einem Dildo zum Umschnallen.« Katharina sah Sturmer an, dass er nur so darauf brannte, zu fragen, woher sie das wusste. Der Psychologe war also doch zu schockieren. Sie fasste zusammen: »Gestern hat er Analverkehr gehabt. Und heute schießt er sich eine Kugel in den Kopf.«
»Vielleicht wollte er noch mal Spaß haben«, schlug Sturmer vor.
Amendt räusperte sich: »Die Narben auf den Oberschenkeln sind ein klassisches Symptom für jugendliche Depression oder eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Kann sein, dass ihn seine Jugend wieder eingeholt hat. Ein Rückfall.«
»Wollen wir das wirklich so in den Bericht schreiben?«, fragte Katharina.
Amendt zögerte, dann schüttelte er energisch den Kopf. »Nein. Das wäre alles reine Spekulation. Und wir sollen ja nur die Vorgänge von heute dokumentieren. Fürs Motiv sind wir diesmal ja Gottseidank nicht zuständig.«
Er speicherte den Bericht ab, legte eine Kopie an und redigierte sie, bis sie nur noch die Beschreibung der tödlichen Verletzung enthielt.
Endlich schaltete Amendt den Monitor ab. Gemeinsam mit Sturmer hob er den Leichnam Vogels auf eine Bahre und schob sie in eines der stählernen Kühlfächer, die an einer Seite des Autopsieraums auf ihre Gäste warteten. Bevor er die Klappe hinter dem Leichnam schloss, hielt Amendt noch einmal inne. »Dem schwarzen Schwarm des Todes zum Opfer gefallen«, murmelte er leise.
»Was hat er damit gemeint?«, fragte Katharina, die auf ihrem Hocker hinter den beiden Männern her gerollt war.
»Was hat wer mit was gemeint?«
»Na, mit ›der schwarze Schwarm des Todes‹. Das hat Vogel in seiner Rede gesagt. Und er hat Sie danach gefragt. Auf dem Rundgang mit den ganzen Sponsoren.«
Amendt holte Luft, als wollte er zu einem längeren Vortrag ansetzen. Doch dann ließ er die Schultern sinken. »Ach, nichts. Ein medizinisches Ammenmärchen.«
***