Читать книгу Damenopfer - Helmut Barz - Страница 7
Beratungspartie Der Uhrzeit nach Montag,
aber gefühlt noch immer Sonntag, 6. April 2008
Оглавление»Life is a kind of Chess, with struggle, competition, good and ill events.«
Benjamin Franklin
Im Niemalsland.
Knallen. Ein Blitz.
Katharina riss die Augen auf.
Doch sie blickte nur in das knisternde Kaminfeuer im Wohnzimmer ihrer Eltern. Einer der brennenden Holzscheite war wohl noch nicht ganz durchgetrocknet gewesen. Das Wasser im Inneren hatte sich erhitzt und das Scheit aufplatzen lassen. Als Kind hatte sie diese kleinen Feuerwerke geliebt.
Ihre Schwester Susanne saß auf ihrem Lieblingssessel, kichernd, mit einem Finger gedankenverloren mit der neonblauen Strähne spielend, die sie sich in ihr schwarzes Haar gefärbt hatte. Ihre Form der Anarchie.
Ihre Eltern saßen auf dem Sofa, wie immer. Ihr Vater gut gelaunt, der rote Bart sauber gestutzt. Ihre Mutter, ganz strenge Professorin, ihn tadelnd ansehend.
Erst jetzt bemerkte Katharina, dass sich noch mehr Menschen im Wohnzimmer befanden. Im Sessel neben ihr saß Thomas. Ihr langjähriger Partner bei der Polizei. Gut sah er aus. Wie üblich aus dem Ei gepellt mit seinem auf Maß gefertigten Anzug.
Moment! Thomas war tot. Er war während der Geiselnahme erschossen worden, bei der Katharina den Sohn der Oberbürgermeisterin gerettet hatte. Auch die anderen Menschen im Raum: Alle waren sie tot. Professor Paul Leydth, Andreas Amendts Zieh- und Doktorvater, ganz der gemütliche Großvater mit seinem weißen Bart und der Strickweste unter dem Jackett. Angelica Leydth, seine Frau. Katharina hatte selbst mit angesehen, wie sie gestorben waren. Damals. Als Katharina und Andreas Amendt geglaubt hatten, endlich den Mord an Katharinas Familie aufgeklärt zu haben.
Tripp stand bei ihnen. Der leicht autistische Anwalt der Leydths versteckte sich halb hinter dem Rücken des Professors.
Neben ihnen, selig-vergnügt lächelnd, Absalom Schmitz, natürlich im Anzug mit bunter Fliege, das weiße Haar sturmzerzaust. Der Anwalt von Katharinas Vater. Sein Testamentsvollstrecker.
Dort, vor dem Panoramafenster, stand eine unscheinbare Gestalt. Deckname Koala. Sein richtiger Name … Ach ja, richtig. Hartmut Müller. Katharina meinte, den Geruch der von ihm so geliebten Eukalyptuspastillen bis zu ihrem Platz riechen zu können. Seine Rolle hatte sie nie so ganz verstanden. Bevor er sie aufklären konnte, war er erschossen worden. Mit Katharinas Dienstwaffe. Von der Frau, die neben ihm stand und mit der er sich offenbar blendend unterhielt. Eine Profikillerin mit dem Codenamen S/M. Schneewittchen wäre der passendere Deckname gewesen: die Haut weiß wie Schnee, die Lippen rot wie Blut, die langen Haare schwarz wie Ebenholz.
Marianne Aschhoff saß am Esstisch. Sie schüttelte ihre lange rote Mähne, während sie lachte. Andreas Amendts mütterliche Freundin war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. S/M hatte auch sie erschossen.
Und dann all die anderen, die im Raum standen oder saßen: Jeder einzelne war tot. War dies das Jenseits? Und wieso sah es so aus wie das Wohnzimmer im Haus ihrer Eltern?
Der Tod stand den Anwesenden gut: Erholt sahen sie aus. Glänzend gelaunt. Und alle hielten sie Sektgläser in den Händen. Niemand trank. Alle schienen zu warten. Nur auf was?
Und was machte sie selbst überhaupt hier? Sie war nicht tot. Oder? Hatte sie etwas verpasst? Katharina erinnerte sich nur, dass sie gestürzt war. Warum? Ach ja. Der Justizminister hatte sich vor ihren Augen erschossen.
Er schien in der trauten Runde zu fehlen. Doch dann entdeckte sie ihn, auch wenn es schwer war, ihn zu erkennen. Er stand allein in der Nähe der Tür. Sein Gesicht war halb hinter einem Witwenschleier verborgen. Er trug ein bodenlanges schwarzes Kleid. In der Hand hielt er seinen kleinen Aluminium-Aktenkoffer.
»Ich bitte um Verzeihung für die Verspätung!«
Die Anwesenden verstummten, als sie die Stimme hörten. Die Wohnzimmertür war aufgeschwungen und Andreas Amendt trat ein.
Gut sah auch er aus. Erholt. Die Haut leicht gebräunt. Der graue Anzug mit farblich abgestimmtem Hemd, Krawatte und Einstecktuch stand ihm ausgezeichnet. Seine linke Hand hatte er leger in der Hosentasche verborgen.
Doch … Sein Haar war grau geworden. Nicht, dass das schlecht aussah, im Gegenteil; es gab seinem jugendlichen Gesicht distinguierte Reife.
Amendt hob seine Hand, um die Anwesenden um Ruhe zu bitten – als wären sie nicht schon längst mucksmäuschenstill gewesen. Gebannt an seinen Lippen hängend.
»Der Tod«, begann er, »die letzte Grenze. Der ultimative Feind. Wir haben ihn aus unserem Leben ausgesperrt, ziehen hohe Mauern um unsere Friedhöfe, verbannen sie, wo es geht, hinaus aufs Land. Aus den Augen, aus dem Sinn. Doch Tatsache ist und bleibt: Wir alle sterben – früher oder später, wie Sie bereits wissen.«
Einige der Anwesenden lachten.
Amendt fuhr fort: »Der Tod gewinnt immer, das müssen wir machtlos anerkennen. Das ist der natürliche Lauf der Dinge. – Und was ist so schlimm daran? Das ist die Natur. Die uns vorbestimmte Daseinsform. Nicht das Ende. Sondern das Ziel.«
»Hört, hört!«, murmelte einer der Anwesenden.
»Und ich freue mich, dass Sie alle erschienen sind, mich in Ihrem Kreis willkommen zu heißen. Mich – sozusagen – beim Zieleinlauf zu begrüßen.«
Höflicher Applaus antwortete ihm. Was für eine Gespensterparty …?
Amendt wandte sich an Jan-Ole Vogel: »Kirsten?«, fragte er höflich. Wie kam er denn auf »Kirsten«?
Vogel öffnete elegant den Aktenkoffer und hielt ihn Amendt hin. Der nahm eine Pistole heraus. Klein. Bissig.
»Nun aber, ohne weiteren Aufschub …« Er setzte sich die Pistole ans Kinn.
»Nein! Andreas!« Katharina wollte aufspringen. Doch ihre Beine fühlten sich an, als würden sie frisch gegossenem Beton feststecken. Als würde das weiche Polster des Sessels sie festhalten.
»Andreas! Nicht!«
Sie kämpfte. Doch je mehr sie sich abmühte, desto fester, klebriger wurde der Griff des Sessels, desto stärker saugte das Polster sie ein. Endlich gelang es ihr, sich loszureißen.
Zu spät. Amendt hatte abgedrückt. Er lächelte, während Blut aus seiner Nase schoss. Sie musste zu ihm hin, sie musste …
Starke Arme packten sie. Umschlangen sie. Zogen sie in tiefe Schwärze.
***
In einer gemütlichen Dachgeschosswohnung
im Frankfurter Westend.
Nein. Keine Schwärze.
Ein rotes Glühen durchdrang die Dunkelheit um sie herum. Der Wecker auf ihrem Nachttisch. Er zeigte 1:32 Uhr.
Ihr Schlafzimmer. Gottseidank.
Doch die Arme hielten sie noch immer umschlungen. Sie versuchte, sich umzudrehen, um zu sehen, wer sie da im Arm hielt.
»Ganz ruhig. Nur ein Albtraum«, flüsterte Andreas Amendt.
Mit einem Ruck machte Katharina sich los.
Genau! Ein Albtraum!
Sie war nicht im Jenseits gewesen. Sie war nicht tot.
Amendt auch nicht. Dafür saß er neben ihr im Bett. Sein Oberkörper war nackt. Wie kam er –?
Egal! Nur fort von hier! Sie schwang die Beine über die Bettkante.
»Vorsicht mit dem Fuß«, warnte Amendt sie.
Ach ja, richtig. Sie hatte sich den Knöchel verstaucht. Vorsichtig setzte sie beide Füße auf den Boden, belastete sie abwechselnd. Der verletzte Knöchel schmerzte noch. Aber nur wenig. Ein gutes Zeichen.
Amendt war eben ein guter Arzt. Der Gedanke ließ sie beinahe hysterisch losprusten. Sie stand auf, prüfte, ob ihre Beine sie auch wirklich trugen. Dann humpelte sie, so schnell sie konnte, aus dem Schlafzimmer.
Wohin jetzt?
Ins Bad. Das konnte sie abschließen. Außerdem spürte sie Druck auf der Blase und der Geschmack nach schlechtem Schlaf und Albtraum war kaum auszuhalten.
Tür zu. Abschließen. Durchatmen. Klo. Gründlich Zähne putzen.
Sie tränkte einen Waschlappen mit heißem Wasser und wischte sich Gesicht und Arme ab. Verdammt. So sehr sie sich anstrengte, sie konnte sich nicht erinnern, wie Amendt in ihr Bett gekommen war.
Gestern noch Streit. Missachtung. Beinahe Todfeinde. Und dann?
Wie war sie überhaupt nach Hause gekommen?
Also, ganz von Anfang.
Woran konnte sie sich noch erinnern?
Amendt, Sturmer und sie hatte die Leichenschau gemacht. So weit, so gut.
Dann hatten sich alle im Foyer getroffen. Genau. Harry und sein junger Kollege – Wie hieß er noch? Ach ja. Darian. – hatten tatsächlich ein paar Zeugen gefunden, die aussagefähig waren.
Die Hörnchen hatten sich die improvisierte Bühne vor der Sonderermittlungseinheit vorgenommen, aber außer den Spuren des Suizids nichts Außergewöhnliches entdeckt.
Jeannie hatte mit geübten Fingern den Bericht in ihren Computer getippt und an das Innenministerium gemailt.
Amendt hatte Katharina die ärztliche Anweisung gegeben, endlich nach Hause zu fahren und den Fuß hochzulegen.
Arnulf Sturmer hatte sich mürrisch eingemischt: »Ich finde, einer von uns sollte Frau Klein begleiten, denken Sie nicht, Doktor Amendt?«
»Das ist vielleicht keine schlechte Idee«, hatte Andreas Amendt zugestimmt.
»Und ich finde, das sollten Sie sein, Doktor Amendt. Sie und Frau Klein haben Gesprächsbedarf.«
Amendt und Katharina wollten protestieren, doch Sturmer hatte sich schon an Jeannie gewandt. »Könntest du wohl ein Taxi für Katharina und Herrn Doktor Amendt bestellen?«, hatte er gefragt. Mit viel Honig in der Stimme.
Auch Jeanny hatte keine Widerrede geduldet. Katharina und Amendt hatten sich ihrem Schicksal ergeben.
Sich demonstrativ anschweigend waren sie zu Katharinas Wohnung gefahren. Amendt hatte ihr die Treppe hochgeholfen. Und dann?
Was war dann passiert?
Katharina trocknete sich das Gesicht ab und band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie verließ das Bad, ging in die Küche, trat an die Spüle und trank ein Glas Wasser. Inzwischen konnte sie praktisch schmerzfrei auftreten. Ein Glück. Es wäre sehr ärgerlich gewesen, wenn sie ihren ersten offiziellen Diensttag humpelnd hätte verbringen müssen.
Auf dem Trockenständer neben der Spüle stand Geschirr. Ach ja, richtig. Amendt hatte gemeint, Katharina solle erst etwas essen, bevor sie eine der Schmerztabletten nahm. Er hatte sie ins Wohnzimmer auf die Couch verbannt und sich dann der schier unlösbaren Aufgabe gewidmet, aus den spärlichen Lebensmittelbeständen in ihrer Küche eine essbare Mahlzeit zuzubereiten.
Sie hatten im Wohnzimmer gegessen. Katharina auf der Couch, Amendt in einem Sessel. Schweigend. Und dann?
So sehr sie sich ihr Hirn zermarterte, sie wusste es nicht. Katharina ließ sich auf einen Stuhl sinken. Auf dem großen eichenen Küchentisch lagen noch immer die zahlreichen Zettel mit den vorgefertigten Antworten, die die Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit im Frankfurter Polizeipräsidium für sie zusammengestellt hatte. Für das Telefoninterview vom Vortag.
Sie erinnerte sich noch, wie sie am Ende des Interviews aufgelegt hatte. Wie ihr Herz plötzlich bis zum Hals geschlagen hatte. Ihre Hände hatten gezittert. Frustriert hatte sie sie auf die Platte ihres Küchentischs gepresst, doch es hatte nichts genützt. Stattdessen hatten erst ihre Arme das Zittern übernommen, dann ihre Schultern, schließlich der Rest ihres Körpers, als hätte sie der Schüttelfrost gepackt. Selbst ihre Zähne hatten geklappert.
In den letzten drei Monaten hatte man sie mit Messern und Giftschlangen attackiert, mit Schusswaffen aller Art bedroht. Einmal hatte sie sogar wiederbelebt werden müssen. Doch nie hatte sie solche Panik empfunden wie nach diesem Radiointerview.
Fuck! Katharina schlug mit der Faust so hart auf die Tischplatte, dass das Telefon vor ihr in die Höhe sprang.
So ein alberner Anlass. Ein Radiointerview! Sie wollte lachen, doch alles, was sie zustande brachte, war eine erstickte Mischung aus Grunzen und Schnauben.
Nicht das Radio hatte sie am Morgen aus der Fassung gebracht. Sondern der zweite Interviewpartner: Dr. Andreas Amendt.
Nur eine anonyme Stimme am Telefon war er gewesen. Souverän hatte er geklungen. Erholt. Entspannt.
Ganz anders als in ihrem letzten Gespräch. Vor mehr als zwei Monaten. Seine Stimme ein tonloses Krächzen. »Warum haben Sie mich nicht sterben lassen?«
Er hatte versucht, sich umzubringen. Katharina hatte ihn in letzter Sekunde gefunden. Ihn am Leben erhalten.
Und das war der Dank gewesen: ein gekrächzter Vorwurf.
Gleich darauf hatte er sich wütend weggedreht und sich demonstrativ die Decke über den Kopf gezogen.
Und danach? Fast drei Monate Schweigen. Gegenseitiges Ignorieren. Aus dem Weg gehen.
Bis auf einen kurzen Moment. Katharina hatte allen Mut zusammengenommen. War in die Uni-Klinik gefahren. In die psychiatrische Abteilung. Der freundliche Oberarzt hatte sie in den Garten geschickt. Dort hatte Amendt auf einer Parkbank gesessen. Katharina hatte sich neben ihn gesetzt. Er hatte sie nicht mal angeschaut. Sie hatte den Mut verloren und sich nicht getraut, zu fragen, wie es ihm ging. Nicht mal das hatte sie über die Lippen gebracht.
Doch dann war der Tag gekommen, an dem sie sich nicht mehr ausweichen konnten. Der Eröffnungstag der Sonderermittlungseinheit. Vogels Suizid. Die Leichenschau.
Plötzlich sah Katharina Amendt wieder vor sich. Wie er ihr vorwurfsvoll seine Hand hinstreckte, die verkrampften Finger zur Klaue erstarrt. Weil sie zu spät gekommen war. Er musste sie wirklich hassen.
Und trotzdem hatte er sie gefickt? Oder vielleicht gerade deswegen? Hass-Sex? Jedem anderen Mann hätte sie das zugetraut. Aber Amendt, der in seinem Leben nur mit einer einzigen Frau geschlafen hatte?
Oder hatten sie sich versöhnt?
Katharina erinnerte sich an den Moment damals, nach der Beerdigung von Marianne Aschhoff. Vor Amendts Haus. Er hatte sie geküsst. Seine Lippen hatten die ihren nur leicht berührt. Aber der Kuss hatte einen Stromschlag durch ihren Körper gejagt.
»Alles in Ordnung? – Auuuu!«
Mit einer einzigen, fließenden Bewegung war Katharina aufgesprungen und hatte dem Eindringling mit der Fußkante in den Bauch getreten. Im nächsten Augenblick hatte sie ihm die Beine weggekickt, er lag auf dem Bauch, sie saß auf seinem Rücken, seine Arme fest im Griff.
Dann erst erkannte sie den mutmaßlichen Angreifer. Amendt. Natürlich. Rasch ließ sie ihn los, sprang auf und streckte ihm dann entschuldigend die Hand hin, um ihm aufzuhelfen.
Er nahm die Hand nicht. Leicht und federnd stand er auf und zog sich das T-Shirt gerade. Wenigstens war sein Oberkörper nicht mehr nackt.
Ein paar Sekunden standen sie sich gegenüber.
Was nun?
»Kaffee?«, fragte Katharina übereifrig das Erste, was ihr in den Sinn kam.
Amendt blinzelte verwirrt. Dann sagte er: »Es ist zwar mitten in der Nacht. Aber warum nicht?«
Froh, etwas zu tun zu haben, spurtete Katharina zur Kaffeemaschine, schaltete sie ein, stellte zwei Tassen darunter, düste zum Kühlschrank, holte die Milch, füllte den kleinen Stahltopf des Milchaufschäumers, sauste zurück zum Kühlschrank, stellte die Milch wieder hinein und eilte zurück zur Kaffeemaschine.
Nun komm schon, trieb sie die ehrwürdig-stählerne Profimaschine – ein Geschenk ihres Patenonkels – im Geiste an. Endlich sprudelte der Kaffee in die Tassen und der Dampfauslass hatte genug Druck, um die Milch aufzuschäumen.
Sie häufte auf jede Tasse einen Berg Milchschaum, nahm die Tassen und stellte sie einladend auf den Küchentisch.
»Danke«, sagte Andreas Amendt. »Und ich sehe, Sie können Ihren Fuß wieder belasten. – Wie geht es der Schulter?«
Vorsichtig drehte Katharina den Arm im Gelenk, ließ die Schulter kreisen. Nichts. »Auch gut.«
»Hervorragend.« Amendt setzte sich endlich auf den Stuhl, vor dem Katharina seine Kaffeetasse abgestellt hatte.
Ein Schluck Kaffee. Schweigen.
Noch ein Schluck Kaffee. Schweigen.
Noch ein Schluck … Was jetzt?
»Haben wir …? Haben wir letzte Nacht eigentlich ein Kondom benutzt?« Und das ist die erste Frage, die dir einfällt, Katharina?
Amendt blinzelte wieder. »Nein. Wozu?«
Wozu? Hatte er wirklich »Wozu?« gefragt? Sie hatten … ohne Verhütung? Großer Gott! Bei ihrem Glück hatte sie sicher gerade ihre fruchtbaren Tage. Schnell! Was jetzt? Pille danach. Genau! Sie hatte eine. Irgendwo im Bad. Katharina sprang auf.
Amendt prustete los. Umstandslos. Lachte. Lachte lauter. Sein Gesicht lief rot an. Katharina wusste nicht, ob sie jetzt ihrer Panik nachgeben, gekränkt sein oder ihm eine Ohrfeige verpassen sollte, um seinen Lachanfall zu stoppen, bevor er sich ins Hysterische steigerte.
Sie hatte schon die Hand gehoben, als Amendt aufhörte zu lachen. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Wir hatten keinen Sex!«, stieß er atemlos hervor.
Katharina ließ die Hand sinken. Kein Sex! Das war doch eine gute Nachricht, oder nicht? Nicht ungewollt schwanger von dem Mann, der sie hasste. Warum mischte sich dann Enttäuschung in ihr Gefühlswirrwarr?
Sie setzte sich wieder und nahm einen Schluck Kaffee.
Amendt lehnte sich vor, musterte sie kritisch: »Haben Sie wirklich geglaubt, ich hätte mit Ihnen geschlafen?«
Ja, ja, sie hatte schon verstanden, dass er den Gedanken an Sex mit ihr nur komisch fand. Musste er noch weiter darauf herumreiten?
Er schüttelte missbilligend den Kopf: »Frau Klein, das wäre eine glatte Vergewaltigung gewesen.«
Was warf er ihr denn jetzt vor? Sexuelle Belästigung?
Er legte seine Hand auf ihren Unterarm. »Erinnern Sie sich nicht? – Das habe ich befürchtet.«
»Erinnern an was?« Katharina wischte Amendts Hand ärgerlich beiseite und schämte sich zugleich, dass ihre Stimme so giftig klang.
»Na ja, gestern Abend. Wir haben gegessen. Sie haben Ihre Medikamente genommen. Dann habe ich Sie gefragt, ob Sie Schmerzen haben. Sie hatten. Also habe ich vorgeschlagen, dass Sie sicherheitshalber noch eine der Schmerztabletten nehmen. – Ich hätte es wissen müssen. Tut mir leid.«
»Was hätten Sie wissen müssen?«
»Dass Sie nur selten Schmerzmittel nehmen. Und dass eine ganze Tablette zu viel war. Sie waren auf einmal ganz benommen. Also habe ich Sie lieber ins Bett gesteckt.«
»Und Sie? Wie sind Sie in mein Bett gekommen? Mehr oder minder nackt?«
»Ich … Ich habe im Gästezimmer geschlafen und bin davon aufgewacht, dass Sie geschrien haben. Da bin ich zu Ihnen gekommen. Wusste ja nicht, ob das vielleicht Schmerzensschreie waren. Nicht, dass Sie sich bei dem Sturz noch eine andere Verletzung zugezogen haben. Aber es war nur ein Albtraum.«
Richtig. Nur ein Albtraum. Katharina starrte auf das braun-verklebte Milchschaumgebirge in ihrer Tasse, um nicht Amendt anschauen zu müssen.
»Haben Ihre Träume auch noch nicht aufgehört?«, fragte Amendt leise.
Überrascht blickte Katharina auf. Darüber hatte sie nie nachgedacht. Amendt musste bestimmt oft von ihrer Schwester geträumt haben. Von der Mordnacht.
Sie verneinte stumm.
»Meine auch nicht.« Amendts Stimme war noch immer leise. »Ihr Traum vorhin … Sie haben meinen Namen gerufen. Haben Sie wieder mich als Täter gesehen?«
Was? Ach ja, sie hatte Amendt einmal davon erzählt, dass ihr üblicher Albtraum sie in das Wohnzimmer ihrer Familie versetzte. In die Mordnacht. Dass sie hilflos mit ansehen musste, wie eine Gestalt durch das große Panoramafenster eindrang und sie alle erschoss. Ja. Sie hatte Amendt einmal als Täter gesehen. Aber das war lange her. Und sie wusste ja, dass er es nicht war.
»Nein, ich …«, begann sie. Und mit einem Mal sprudelte der Traum aus ihr hervor. Sie konnte nicht anders.
***
Amendt hatte geduldig zugehört. Als sie endlich geendet hatte, sagte er nur: »Nein. Ich würde mich nicht erschießen. Nicht öffentlich.«
Verdammt! Amendt war doch nicht noch immer …? Musste er zurück in die Klinik? Was sollte sie …?
»Bereuen Sie noch immer, dass ich Sie nicht habe sterben lassen?«, fragte sie schließlich und biss sich gleich darauf auf die Zunge.
»Nein. Nicht wirklich.« Amendts Ton wurde sachlich. »Aber es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich die Ereignisse des Tages damals wirklich vollständig aufgearbeitet habe. Sagt zumindest Kirsten.« Er nahm einen Schluck Kaffee. Dann setzte er die Tasse energisch ab. »Frau Klein, hören Sie … Ich werde gehen.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht?«
»Nein, ich meine, ich werde die Sonderermittlungseinheit verlassen. Ich finde einen guten Nachfolger. Und dann …« Er sprach nicht weiter.
»Aber …«, setzte Katharina an, doch dann fiel ihr kein Gegenargument ein.
»Es ist besser so. Für uns beide.«
»Dann lassen Sie mich gehen«, sagte Katharina rasch. »Ich habe ein paar Angebote und –«
»Und es ist auch besser für mich. Ich weiß nicht, ob ich diesen Job auf Dauer ertragen kann. Und dann …« Amendt massierte nachdenklich seine verkrümmte Hand, doch sie wollte sich nicht geradebiegen lassen.
»Wissen Sie schon … wissen Sie schon wohin?« Katharina ärgerte sich, dass ihr keine bessere Frage einfiel.
»Ich …« Er zögerte. »Ich habe ein Angebot vom Groote Schuur Hospital in Kapstadt. Research Fellow und Dozent für Neuropathologie.«
»Das … das klingt doch gut.« Das Groote Schuur Hospital galt als eines der besten Krankenhäuser der Welt.
»Vor allem weit weg. Weit weg von allem.« Er massierte wieder seine Hand, dann ließ er sie auf seinen Oberschenkel fallen: »Wissen Sie, Frau Klein, lassen Sie uns das wann anders besprechen. Ich glaube, es ist besser, wir kriegen noch ein paar Stunden Schlaf. Irgendwie habe ich das Gefühl … Ich kann es nicht genau benennen. Aber ich denke, wir stecken in noch größeren Schwierigkeiten als sonst.«
***