Читать книгу Mein Lebensweg vom Saulus zum Paulus - Helmut Feldmann - Страница 10
ОглавлениеMeine Lehre und erste Begegnung mit dem Alkohol
Dann stand so langsam das Ende der Schulzeit bevor.
Auch in der Schule wurde darauf hingearbeitet. Man fragte uns, was wir nach der Schule machen wollten und wie es mit jedem Einzelnen weitergehen sollte. Wir sprachen darüber, welchen Beruf wir erlernen wollten und ob wir schon eine Lehrstelle in Aussicht hätten.
Natürlich wurde auch ich gefragt. Ich sagte dem Lehrer, dass ich ja am liebsten auch Lehrer geworden wäre, aber das leider nicht gehen würde. Schließlich hatte ich keine höhere Schule besucht und somit konnte ich auch nicht studieren. Das war nun mal die Voraussetzung, um später Lehrer werden zu können.
Deshalb würde ich jetzt gern den Beruf des Elektrikers anstreben wollen. Das wollte mein Freund Hans auch. Eine Lehrstelle hatte ich aber im Gegensatz zu meinem Freund noch nicht in Aussicht.
Doch mein Vater hatte für meine berufliche Zukunft ganz andere Vorstellungen. Inzwischen hatte er schon mal Kontakt mit dem Chef einer Autowerkstatt in Worpswede aufgenommen. Aus seiner Sicht sollte ich nämlich den Beruf des Autoschlossers erlernen und ergreifen. Heute gibt es dieses Berufsbild gar nicht mehr. Es wäre in etwa vergleichbar mit dem heutigen KFZ-Mechatroniker.
Mein Vater fuhr mit mir gegen meinen Willen nach Worpswede zu diesem Betrieb. Er hatte bereits mit dem Meister gesprochen, der auch der Chef dort war, und einen Termin mit ihm vereinbart. Ich musste diesem mein Zeugnis vorlegen.
Der Meister schaute sich das an und wollte dann von mir wissen: „Möchtest du denn gern den Beruf des Autoschlossers bei mir erlernen?“ Ich antwortete mit leiser und trauriger Stimme und gesenktem Kopf: „Nein!“ Mein Vater blickte mich erstaunt an. Damit hatte er nicht gerechnet. Der Meister hatte es begriffen, glaube ich, und er wollte jetzt weiter von mir wissen: „Willst du diesen Beruf nur bei mir nicht lernen oder möchtest du überhaupt kein Autoschlosser werden?
Vater schaute schon so merkwürdig und machte mir damit Angst. Nun konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und bekannte laut weinend: „Ich will überhaupt keine Lehre als Autoschlosser anfangen! Ich möchte doch so gern den Beruf des Elektrikers erlernen.“ Mein Vater verzog das Gesicht. Bestimmt rastete er gleich aus und es gab ein Donnerwetter! Der Chef gab mir das Zeugnis zurück und meinte: „Ja, Herr Feldmann, unter diesen Voraussetzungen hat es ja wohl keinen Sinn, dass Ihr Sohn eine Autoschlosserausbildung bei mir beginnt. Vielen Dank für Ihren Besuch und auf Wiedersehen.“
Ich schaute meinen Vater an und merkte an seinem Gesicht, dass er enttäuscht und sogar böse war. Wir verließen die Firma und gingen zurück zu unserem Parkplatz.
Dort angekommen, bekam ich erst mal vier kräftige Schläge ins Gesicht. In diesem Augenblick war mir das und die Schmerzen aber erst mal völlig egal. Hauptsache, ich musste nicht den Beruf des Autoschlossers erlernen!
Mein Freund Hans erzählte mir dann kurze Zeit später, dass er in Hüttenbusch bei der Elektrofirma Grother am 2. April 1960 eine Elektrikerlehre beginnen würde. Den Lehrvertrag hätte er schon.
Ich wurde neidisch und fragte mich, warum gerade er denn so ein Glück hatte und ich nicht.
Aber er verriet mir weiter: „Ich weiß, du willst doch auch Elektriker werden. Die Firma Grother sucht immer noch einen zweiten Lehrling zum Elektriker.“
Ich hätte ihn umarmen können. Sollte ich nun doch auch endlich einmal Glück haben?
Sofort holte ich erneut mein Zeugnis und bin zu dieser Firma gefahren, ohne nachzudenken und irgendwelche unnütze Zeit zu verschwenden.
Auch der Meister Jan Grother, so hieß der Chef, schaute sich das Dokument intensiv an und meinte, ich wäre ja ziemlich klein. Mir rutschte bei dieser Bemerkung das Herz in die Hose. Jetzt bloß nicht nervös werden. Oje, hoffentlich gibt das keine Absage! Gespannt schaute ich Herrn Grother an.
Doch die dann folgende Aussage von Herrn Grother überraschte und erleichterte mich: „Ich gebe dir die Lehrstelle! Aber zuerst muss ich das mit deinen Eltern besprechen. Sie müssen ja dann auch den Lehrvertrag unterschreiben.“
Ich hatte da zwar Bedenken, ob meine Eltern das tun würden, aber erst einmal freute ich mich wie ein kleiner König, dass ich angenommen worden war und mein künftiger Chef mir einen Lehrvertrag angeboten hatte. Im Anschluss fuhr ich dann direkt nach Hause,
Ich konnte kaum den Abend erwarten und sprach dann mit meinen Eltern darüber. Ich erzählte von meinem Besuch beim Elektromeister Jan Grother, dem Gespräch mit ihm und dem Ergebnis.
Alles, was sich dort zugetragen hatte, berichtete ich ihnen – allerdings mit einem mulmigen, unguten Gefühl dabei, in der Angst, auf Unverständnis und Ablehnung zu stoßen. Doch zu meinem großen Erstaunen freuten sich meine Eltern gemeinsam mit mir darüber. Ohne Diskussion waren sie sofort damit einverstanden, dass ich nun den Beruf des Elektrikers erlernen würde. Vielleicht hatte mein Vater vorher schon mit meiner Mutter darüber gesprochen, vielleicht hatten sie auch etwas begriffen. Überglücklich ging ich ins Bett und legte mich schlafen.
Am Nachmittag des nächsten Tages gingen meine Mutter, mein Vater und ich gemeinsam zu Fuß zu Herrn Grother. Der Weg dorthin war nicht sehr weit und so kamen wir schnell bei ihm an. Meine Eltern führten ein ausführliches Gespräch mit dem Chef und unterschrieben dann nach kurzer Zeit bereits den Vertrag. Leicht beschwingt spazierten wir zurück nach Hause. Alle waren froh, dass ich nun endgültig eine Arbeitsstelle gefunden hatte.
Das war Ende März 1960 und ich war inzwischen 13 Jahre jung. Am 24. Mai würde ich 14 Jahre werden.
Meine Lehre als Elektriker begann ich am 1. April 1960 beim Elektromeister Johann Grother.
Damals gab es noch die 6-Tage Arbeitswoche. Die kannte ich zwar schon aus der Schule, denn auch die mussten wir ebenfalls am Samstag besuchen, aber nun waren meine Arbeitszeiten deutlich länger. In der Woche begann die Arbeitszeit um 8 Uhr morgens, und erst um 17 Uhr durften wir Feierabend machen. Zusätzlich arbeiteten wir jeden Samstag von 8 Uhr bis 13 Uhr.
Selbstverständlich fanden sich mein Freund Hans und ich am ersten Arbeitstag, den 1. April, ich weiß noch, es war ein Freitag, pünktlich um 8 Uhr bei der Firma Grother ein.
Von unserem Chef, Herrn Grother, wurden wir kurz begrüßt und dann dem Gesellen vorgestellt, der sich später weiter ums uns kümmern sollte.
Zunächst mussten wir Materialien wie beispielsweise jede Menge an Kabeln, Unterputz- und Abzweigdosen aus dem Lager holen und in den bereitstehenden Firmenwagen, einen Kombi, einladen. Mit dem Wagen ging es dann zu meiner ersten Baustelle. Es handelte sich um einen Neubau in Neu St. Jürgen. Der Meister war wohl schon vorher dagewesen, denn er hatte bereits alle Positionen an den Wänden angezeichnet, an denen wir die Löcher für die Schalter, Steck- und Abzweigdosen ausstemmen sollten. Das war für mich eine neue, völlig ungewohnte Arbeit, die ich bisher noch nie gemacht hatte. Für mich war das nicht einfach und sehr anstrengend. Mit Hammer und Meißel hatte ich bisher keine Erfahrung, aber ich bemühte mich redlich, die an mich gestellte Aufgabe und Herausforderung zu bewältigen.
Schnell taten mir bei dieser ungewohnten Arbeit die Hände weh. Aber ich ließ nicht nach. „Leider hat der blöde Meißel nur eine sehr kleine Oberfläche“, dachte ich. Offenbar viel zu klein! Denn nicht immer traf ich diese Oberfläche mit dem Hammer. Einige Male schlug ich daran vorbei. Kein Problem? Oh doch, wenn man bedenkt, dass ich den Meißel ja mit der anderen Hand festhalten musste. Weil ich aber recht gut zielen, doch nicht so gut treffen konnte, schlug ich anfangs manches Mal daneben, doch leider nicht weit genug daneben, um meine Hand nicht zu treffen. Statt des Meißels bekam meine Hand den Treffer ab. Das machte dem Meißel zwar nichts aus, aber meiner Hand schon. Inzwischen tat die mir sehr weh, und ich hoffte, sie würde am nächsten Tag nicht allzu schlimm aussehen und noch als solche zu erkennen sein.
Aber je länger ich stemmte, um so geschickter wurde ich. Die Trefferquote erhöhte sich und meine Hand war mir dankbar, dass ich nicht dauernd auf sie einschlug. Irgendwann hatte ich den Bogen raus und es passierte mir nur noch ganz selten etwas, so wie bei jedem anderen Handwerker auch.
Zum Feierabend kam der Meister und hat sich unser Werk angesehen, auf das wir schon ziemlich stolz waren. Er hatte alles genau unter die Lupe genommen – nur nicht meine schlimme Hand. Die interessierte ihn nicht, und ich mochte ihn auch nicht darauf ansprechen. Statt mir für meine Verletzungen der Hand ein wenig Trost auszusprechen, meinte er, dass wir zu wenig geschafft hätten und dass das zukünftig besser werden müsste. Damit hatten wir nicht gerechnet und waren ein wenig enttäuscht.
Am nächsten Morgen schmerzte mir nicht nur meine Hand, sondern mein gesamter rechter Arm tat mir von oben bis unten weh. Es war nicht sehr angenehm gewesen, aber ich musste ja trotzdem am nächsten Tag, einem Samstag, wieder los zur Arbeit.
An diesem Morgen fuhr der Geselle Herbert uns mit dem Auto zu derselben Baustelle wie gestern. Er blieb ebenfalls vor Ort und arbeitete dort zusammen mit uns. Nachdem er eine Schalterdose eingegipst hatte, beauftragte er uns damit, was wir heute machen sollten und zeigte uns, wie es ging. Mein Freund und Kollege Hans hatte zuerst noch einige Dosenlöcher ausgestemmt und ich durfte dann schon die ersten Dosen eingipsen. Das war für mich wieder eine neue Erfahrung, die mir richtig Spaß gemacht hat. Für die Pausen hatte jeder von uns Plastikdosen dabei, die mit belegten Brotscheiben gefüllt waren. Die hatten wir uns zum Frühstück und in der Mittagspause gemeinsam zu dritt gut schmecken lassen. Von der schweren und ungewohnten Arbeit hatten wir einen erstaunlich großen Appetit entwickelt.
Nach der Pause führte der Geselle zu meinem Erstaunen aber keine weiteren Elektroarbeiten mehr durch. Stattdessen installierte er draußen die Dachrinnen. Ich war neugierig, was er da genau machte und habe ihn angesprochen. Willig hatte er mir die Arbeitsvorgänge gezeigt und ausführlich erklärt. Ich fand das sehr spannend und habe ihm gut zugehört. Der Geselle Herbert war überhaupt sehr nett und freundlich, aber er machte natürlich auch immer wieder seine kleinen Späßchen mit uns. Sie waren nie wirklich richtig bösartig, aber er hatte immer die Lacher auf seiner Seite und wir schauten schon manches Mal ziemlich blöde drein. Trotzdem trugen wir ihm das nicht nach, weil er es eigentlich immer gut mit uns meinte. Vor allen Dingen ging er stets auf unsere Fragen ein. Hans und ich haben so wirklich viel von ihm gelernt, auch in den folgenden Monaten. Wir waren froh, solch einen guten Ausbilder gehabt zu haben, von dem wir viel lernen konnten.
Meist waren Hans und ich vom Chef gemeinsam für eine Baustelle eingeteilt worden. Aber es kam auch hin und wieder schon mal vor, dass wir in und an unterschiedlichen Objekten arbeiten sollten.
So war ich nach Bornreihe zu einem Anbau abkommandiert worden. Hier waren drei Zimmer an einem vorhandenen Haus hinzugekommen. Dort musste ich mit dem Fahrrad hinfahren. Der Meister kam mit dem Auto nach und brachte das gesamte Material und eine Trittleiter hinterher. Er wies mich ein, was ich zu machen hatte und skizzierte an den blanken Wänden mit einem Stift seine komplette Planung. Drei Tage war ich auf dieser Baustelle beschäftigt mit Stemmen, Dosen eingipsen und Kabel verlegen. Allein zu arbeiten, das hat mir überhaupt nicht gefallen. Aber es ging ja nicht anders und diese Erfahrung musste ich eben auch mal machen.
Ansonsten machte mir die Arbeit aber großen Spaß und ich tat sie wirklich gern.
Irgendwann wurden Hans und ich zu einer Geburtstagsfeier unserer ehemaligen Schulfreundin Helma eingeladen. Sie wusste, dass wir im Posaunenchor spielten und fragte uns, ob wir auf der Party mit unseren Trompeten ein wenig aufspielen könnten. Wir stimmten beide zu und freuten uns auf die Feier.
An dem besagten Tag tauchten wir frühzeitig mit unseren Trompetenkästen bei Helma auf. Helma stellte uns dort ihren Bruder vor, den wir bis dahin noch nicht gekannt hatten. Das Besondere an ihm war, dass er Akkordeon spielen konnte. Wir probten ein wenig zusammen, bis es musikalisch einigermaßen zwischen uns harmonierte.
Wir spielten dann auf der Party etwa drei Stunden lang Schlager, natürlich immer wieder mit Pausen dazwischen. Die vielen Gäste hatten großen Spaß dabei und sie tanzten fleißig dazu. Das hat uns dreien große Freude bereitet und es war ein herrliches Gefühl, so im Mittelpunkt zu stehen.
Weil es so gut klappte, und sich das auch so langsam bei den anderen herumsprach, spielten wir im Laufe der Zeit danach öfter mal bei Feierlichkeiten auf. Manchmal bekamen wir dafür sogar ein wenig Geld, das uns zusätzlich motivierte.
Helmut Feldmann spielt mit der Trompete zum Tanz auf
Denn als Lehrling verdiente ich zwar jetzt im zweiten Lehrjahr bereits 50 DM im Monat, musste davon allerdings 20 DM als Kostgeld zuhause meinen Eltern abgeben. Als Jugendlicher war man sowieso immer knapp bei Kasse.
Wieder einmal sollten wir auf einem Bauernhof zum Geburtstag aufspielen. Klaus, der Bauernsohn, der bestimmt schon über 20 Jahre alt war, wollte seinen Ehrentag groß feiern. Ich wusste gar nicht so genau, sein wievielter Geburtstag es überhaupt war.
Die Schwester von Klaus, eine schlanke und sehr hübsche junge Frau, fand ich sehr nett und anziehend. Sie hieß Gertrud und mochte mich wohl auch. Die Stimmung war sehr gut, und in den Spielpausen kam sie öfter zu mir und nahm mich in den Arm. Sie fragte mich, ob ich eine Freundin hätte, was ich ehrlicherweise verneinte.
Nachdem wir etwa 2 Stunden Musik gemacht hatten, saßen wir alle zusammen und tranken etwas.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich mein erstes Bier getrunken hatte. Was daraus noch werden und sich später entwickeln sollte, damit hätte ich nie gerechnet. Auf das erste Bier folgte ein zweites und ich spürte so langsam schon die Wirkung des Alkohols. Ich war leicht beschwipst. Gertrud saß direkt neben mir und trank ebenfalls mit uns Bier. Darüber war ich ein wenig verwundert, denn ich hatte vorher noch nie irgendwo gesehen, dass eine Frau auch Bier trank. Unsere Unterhaltung wurde immer lauter und lustiger. Nach kurzer Zeit meinte sie, sie müsse mal an die frische Luft. Sie fragte mich, ob ich sie ein Stückchen auf ihrem Spaziergang begleiten wollte. Ich fühlte mich geschmeichelt, gerade von ihr dazu ausgesucht worden zu sein und ging natürlich gern mit. Aber das war alles offensichtlich nur ein Vorwand, ein Trick gewesen.
Wir waren kaum aus der Tür und ein paar Schritte gelaufen, packte sie mich und zog mich in die nebenan stehende Scheune. Darin war es sehr dunkel. Nur etwas Licht fiel von draußen durch die Lücken in den Bretterverschlag. Man konnte nur schemenhaft Umrisse erkennen. Vorn standen die Maschinen und im hinteren Bereich lag das Stroh. Gertrud umarmte mich und küsste mich intensiv auf den Mund. Dabei öffnete sie ihn leicht und ich konnte ihre Zunge spüren. Ich empfand das als sehr angenehm und erwiderte Ihre heißen Küsse. Sie fasste sich unter ihr wunderschönes buntes Kleid und entledigte sich vor meinen Augen ihres Slips. Dann fasste sie meine Hand und zog mich ins Heu. Es kam zu meinem ersten Sex in meinem Leben, und es war herrlich, einfach unbeschreiblich. Irgendwann explodierte ich in ihr. Ich hatte meinen ersten Orgasmus erlebt, den ich bis heute niemals vergessen habe. Überglücklich wusste ich nun, dass ich in dieser Scheune endlich zu einem richtigen Mann geworden war. Gertrud war ein tolles Mädchen, sehr sexy und ich war stolz, mit einer so schönen Frau mein erstes Mal erlebt haben zu dürfen.
Das habe ich danach noch dreimal wiederholen können. Später erfuhr ich, dass sie 28 Jahre alt war und somit fast doppelt so alt wie ich.
Bei unserem letzten Treffen meinte Gertrud zu mir, dass unsere Rendezvous nun ein Ende haben müssten. Wir würden uns nicht mehr sehen können, denn sie hätte schon seit längerer Zeit einen festen Freund und der käme jetzt nach einer längeren Reise wieder zurück. Das müsste ich doch verstehen.
Sie flehte mich an, niemanden etwas von unserer Beziehung zu erzählen – besonders ihrem Freund gegenüber natürlich nicht. Traurig und enttäuscht gab ich ihr das gewünschte Versprechen. Ich habe später auch niemals mit jemanden darüber gesprochen. In diesem Buch erwähne ich das zum ersten Mal.
Diese extrem schöne Erfahrung weckte in mir den Wunsch, mir eine feste Freundin zu suchen. Einfach war das nicht, denn die meisten Bauerntöchter in der Umgebung waren bereits von ihren Eltern anderen jungen Männern versprochen worden. Das war früher so üblich, heute versteht das kein Mensch mehr.
Mein Freund und Kollege Hans, der ein Jahr älter als ich war, hatte seit kurzem auch eine feste Freundin. Karin stammte aus Neu Sankt Jürgen und war eine Bauerntochter.
Ich wollte von Hans wissen, ob er es sich denn vorstellen könnte, in einen Bauernhof einzuheiraten, Bauer zu werden und einen eigenen Betrieb zu führen. Das könnte er sich sehr gut vorstellen, war seine Antwort. Aber das wäre zum jetzigen Zeitpunkt alles noch viel zu früh, um sich darüber Gedanken zu machen.
Von ihm habe ich dann auch erfahren, dass Karin eine beste Freundin hatte. Ich schlug vor, ob wir uns nicht alle einmal zusammen treffen könnten. Wir vereinbarten einen Termin dafür. Hans wollte das mit den beiden Mädchen abklären. Er hatte dann ein gemeinsames Treffen am Bahnhof von Neu Sankt Jürgen für den kommenden Sonntagnachmittag arrangiert.
Karin wollte an diesem Tag ihre Freundin mitbringen. Ihr Name war Elke.
Einen Tag vorher, am Samstag, spielte ich noch mit dem FC Hüttenbusch in einem Heimspiel gegen den Fußballklub von Bornreihe. Wir hatten diesmal richtig Glück dabei und gewannen – eigentlich völlig unverdient – das Match mit 1:0.
Unser Vereinslokal befand sich in einem separaten Saal in der hiesigen Bahnhofsgaststätte. Obwohl erst einige von uns 15 bis 16 Jahre alt waren, tranken wir alle schon Bier.
In geselliger Runde bei guter Stimmung, schließlich hatten wir ja gewonnen, entstand (mal wieder) die Idee, aus einem Glasstiefel zu trinken. Das war damals so üblich. Alle kannten das Reglement für dieses Trinkspiel, an das man sich dabei zu halten hatte.
Es gab einen einzigen Stiefel für die ganze Gruppe. Der sogenannte Stiefel, ein stiefelförmiges Glas, in das 2 Liter Bier passten, wurde bis obenhin mit Bier gefüllt, was schon an sich etwas Zeit in Anspruch nahm, bis es wirklich richtig voll war. Beim Stiefeltrinken wird das Glas immer an seinen nächsten Nachbarn entweder links oder rechts von einem selbst weitergereicht. Die Schwierigkeit beim Trinken aus dem Stiefel besteht darin, dass sich im Gefäß ein Unterdruck bildet, sobald nur noch der Fußbereich mit Flüssigkeit gefüllt ist. Wer es dann versäumt, den Unterdruck durch gleichmäßiges und geschicktes Drehen des Glases während des Trinkens auszugleichen, dem schießt plötzlich das Bier aus dem Glas entgegen. Allerdings wird das Drehen nicht gern gesehen, vielmehr sollte man an diesem kritischen Punkt angemessene Vorsicht walten lassen und langsam trinken. Als Trinkspiel muss beim Stiefeltrinken derjenige, der als Vorletzter aus dem Stiefel getrunken hat, die Rechnung für den nächsten Stiefel bezahlen.
Würde heute ein Wirt es zulassen, dass 15 und 16-jährige bei ihm Bier trinken, käme der wohl in echte Schwierigkeiten, die ihn seine Existenz kosten könnten. Damals aber waren andere Zeiten. Zwar gab es auch schon Gesetze zum Schutz der Jugend. Aber das Ganze wurde noch recht lasch und locker gehandhabt und war eigentlich in den Kneipen gang und gäbe.
So kam es, dass ich dann erst spät am Abend ziemlich betrunken nach Hause gewankt war.
Natürlich hatte Mutter meine Bier- und Alkoholfahne sofort gerochen, als ich dann daheim eintraf. Schon gab es wieder ein paar Ohrfeigen.
Aber viel schlimmer für mich war es, dass ich für den morgigen Sonntag einen Tag Hausarrest aufgebrummt bekam. Ich durfte also morgen das Haus nicht verlassen. Dabei wollten Hans und ich uns doch am Nachmittag mit den beiden Mädchen am Bahnhof treffen! So ein Mist, nun hatte ich ein Riesenproblem!
Ich versuchte es dann bei meinem Vater, ob ich nicht vielleicht doch wenigstens am Sonntagnachmittag das Haus verlassen dürfte und er eine Ausnahme machen würde. Ehrlich hatte ich aber auch meinem Vater vorher gebeichtet, dass ich mit den anderen in der Runde nach dem gewonnenen Fußballspiel etwas zu viel Bier getrunken hatte, und wir den Stiefel haben reihum gehen lassen. Er hatte jedoch ebenfalls kein Verständnis und gab dem Verbot meiner Mutter recht. Ich war total verzweielt. Meine Verabredung war mir doch so wichtig!
Ich überlegte, was ich tun könnte, um doch noch zu der Verabredung erscheinen zu können.
So langsam entwickelte ich einen Plan. Meine Eltern saßen am späten Abend in der guten Stube und unterhielten sich miteinander. Das war für mich sehr gut, denn so konnte ich mich heimlich barfuß, um keine unnötigen Geräusche zu machen, an ihnen vorbeischleichen und vorsichtig in den Schuppen nebenan gelangen. Heimlich hatte ich vorher aus meinem Schrank ein paar gute und schöne Kleidungsstücke herausgesucht, sie unter meiner Jacke versteckt und versuchte nun, sie im Schuppen zu deponieren. Zum Glück bemerkten meine Eltern nichts. Es wäre eine große Katastrophe gewesen, wenn ich aufgefallen wäre.
Am Sonntagmittag nach dem Mittagessen wagte ich es dann, heimlich und unbemerkt das Haus zu verlassen. Ich war so aufgeregt, dass ich glaubte, man müsse mein Herz schlagen hören. Aber es gelang. Ich schlich weiter in den Schuppen, öffnete behutsam die Tür, die dabei nicht quietschte, denn ich hatte vorgesorgt und die Scharniere mit ein wenig Fett geschmiert.
In der Scheune zog ich blitzschnell die gute hinterlegte Kleidung an, stieg aufs Fahrrad und trampelte in die Pedale, um möglichst schnell und unbemerkt vom Hof zu kommen. Auf einem abgelegenen Feldweg radelte ich, ohne jemanden zu begegnen, zu meinem Freund Hans.
Etwas später fuhren wir beide dann zum Bahnhof nach Neu Sankt Jürgen. Karin und ihre Freundin Elke warteten dort bereits auf uns. Beide Mädchen waren mir unbekannt, ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Hans stellte sie mir vor. Ich fand beide sehr hübsch und ganz nett. Gemeinsam gingen wir ein wenig spazieren. Der Weg war das Ziel. Elke berichtete mir von sich und ihrem Leben. Ich war begeistert, sofort einen Draht zu ihr gefunden zu haben und wollte alles Mögliche von ihr wissen. Ich erfuhr von ihr, dass ihr Vater in dem hiesigen Torfwerk arbeitete und des Öfteren auch direkt im Moor zu tun hatte. Elke verriet mir, 15 Jahre jung zu sein. Damit war sie zwar etwas jünger als ich, aber wie sich im Laufe der Zeit deutlich herausstellte ein ganz liebes Mädchen, das entsprechend reif war und gut zu mir passte. Mir gefiel sie außerordentlich. Wenn ich sie als Freundin bekommen könnte, so überlegte ich mir, würde mich das sehr glücklich machen.
Nach dem kleinen Rundgang kehrten wir dann in die Bahnhofsgaststätte ein. Hans und ich luden die beiden Damen zu einer Limonade ein. Wir tranken keinen Alkohol und verabredeten uns für den nächsten Sonntag erneut, bevor wir uns voneinander verabschiedeten. Ich freute mich enorm über diesen Erfolg und die neue Verabredung und hatte das Gefühl, dass Elke genau so beeindruckt von mir wie ich von ihr war. Sie schien den nächsten Sonntag auch kaum erwarten zu können.
Hans und ich fuhren zurück nachhause. Unterwegs bekam ich es schon mit der Angst zu tun, weil ich das Verbot meiner Eltern, den Hausarrest, einfach ignoriert und mich ohne Erlaubnis davongeschlichen hatte. Bestimmt würde ich fürchterliche Prügel bekommen. Und genau so war es dann auch! Ich war noch nicht ganz zuhause angekommen, da schlug mein Vater wortlos bereits mit seinem Hosengürtel erbarmungslos auf mich ein. Obwohl es sehr, sehr weh tat, habe ich meine Tränen zurückgehalten und nicht geweint.
Nach dem Abendessen hatte ich sofort ins Bett zu gehen. Ich durfte nichts anderes mehr machen, auch das Fernsehgerät nicht einschalten. Das war für mich als Heranwachsenden sehr schlimm und sehr demütigend. Im Bett, als es niemand mehr mitbekommen konnte, habe ich dann fürchterlich geheult, aber mehr aus Wut und Enttäuschung als aus Schmerz.
Am nächsten Morgen stand ich - wie immer – früh wieder auf, denn ich musste ja pünktlich bei der Arbeit erscheinen.
Der Meister Grother fuhr mit Hans und mir zu einem Neubau in Hüttenbusch. Wie immer erklärte er uns, was wir dort zu arbeiten hatten.
Am Mittag machten wir wie gewöhnlich unsere Pause und aßen unsere mitgebrachten Butterbrote aus der Dose. Nachdem diese verzehrt waren, angelte Hans plötzlich unerwartet eine Schachtel mit Zigaretten aus seiner Tasche. Er steckte sich eine davon an und bot mir auch eine Zigarette an. Ich war neugierig und griff natürlich sofort zu, ohne lange zu überlegen. Nun war ich ja schon fast erwachsen und da gehörte schließlich das Rauchen einfach dazu, war damals meine (dumme) Meinung. Hans gab mir Feuer und steckte sie an. Als sie brannte, machte ich meinen ersten Zug daran. Ich musste kräftig husten. Der nächste Zug, wieder husten. So ging es im Wechsel bis fast zum bitteren Ende der Zigarette. Fast! Auf einmal stand nämlich plötzlich der Meister, ohne dass wir sein Kommen bemerkt hatten, in der Tür. Uns rauchend zu sehen, löste bei ihm einen Automatismus aus. Er schimpfte uns laut und böse aus und begann uns beiden abwechselnd ein paarmal zu ohrfeigen. Er legte seine ganze Kraft in diese Ohrfeigen hinein. Und wir stellten fest, dass er sehr kräftig war. Hans bekam ganz rote Wangen und man sah ihm an, dass er am liebsten losweinen würde. Die Schläge auf die Wangen taten nämlich richtig weh, obwohl ich schon einiges aushalten konnte, denn ich konnte ja mit solchen Sanktionen einiges an Erfahrung aufweisen. Er verlangte von Hans die Schachtel mit den restlichen Zigaretten, nahm sie ihm einfach weg, steckte sie in seine Hosentasche und verschwand wieder von der Baustelle. Nach dem zweifelhaften Genuss des Glimmstängels, der eigentlich keiner war, also der Genuss, nicht der Glimmstängel, wurde mir obendrauf auch noch schlecht. Aber das sagte ich natürlich niemanden. Das gehörte wohl zum Rauchen und Erwachsenwerden dazu. Die Zigaretten bekam Hans nie wieder zurück. Wahrscheinlich hat Herr Grother sie später selbst geraucht. Wir empfanden das alles als sehr ungerecht und unangemessen, und berieten uns, wie wir dagegen vorgehen sollten. Wir beschlossen, was passiert war, unseren Eltern zu erzählen und die sollten dann gegen den Grother vorgehen. Denn die Züchtigung von Lehrlingen war schon damals nicht erlaubt, wurde aber in der Praxis immer noch häufig als Erziehungsmittel angewendet. Außerdem hatte er uns die Zigaretten eigentlich gestohlen.
Aber als wir an dem Tag endlich Feierabend machen konnten, einigten wir uns darauf, unseren Eltern doch nichts von dem Vorfall zu berichten. Wir hätten dann ja zugeben müssen, geraucht zu haben! Da war die Angst vor einer zusätzlichen Bestrafung durch unsere Eltern doch noch größer als die Hoffnung, unsere Eltern würden etwas gegen Herrn Grother unternehmen!
Am folgenden Sonntagmittag trafen Hans und ich uns mit unseren Trompeten auf dem Friedhof.
Es war Ende November und der alljährliche Volkstrauertag wurde begangen. Wir sollten dort im Freien zu Ehren aller im Krieg gefallenen Menschen im Rahmen einer Andacht zwischendurch aufspielen. Es war ein sehr trüber Tag und die vielen Teilnehmer haben die Verstorbenen würdevoll geehrt.
Inzwischen spielten Hans und ich nicht mehr auf irgendwelchen Feiern. Unsere musikalischen Aktivitäten außerhalb der Kirche hatten sich herumgesprochen, und natürlich hatte dann auch Pastor Pelzer davon erfahren. Er war von unseren Auftritten überhaupt nicht begeistert und verbat uns zukünftig strengstens das private Musizieren auf irgendwelchen Feiern. Er begründete das mit der Tatsache, dass die Instrumente der Kirche gehören würden und sie nicht zum Partymachen bestimmt seien. Er drohte uns sogar damit, uns die Instrumente abzunehmen, wenn wir noch einmal erwischt würden. Außerdem wollte er uns in dem Fall aus dem Posaunenchor ausschließen. Das wollten wir natürlich nicht! Dazu spielten wir viel zu gern, obwohl es dem lieben Gott sicher egal gewesen wäre. Aber den fragte der Pastor nicht, sondern das entschied er selbst. Wir hielten uns strikt an das Verbot, um bloß keinen weiteren Ärger zu bekommen.
Nach der Veranstaltung zum Volkstrauertag traf ich mich mit Elke am Nachmittag wie verabredet wieder am Bahnhof von Neu Sankt Jürgen. Endlich waren wir mal allein, denn Hans und Karin kamen an einer anderen Stelle zusammen und waren auch für sich.
Wir gingen in der Umgebung ein wenig spazieren und unterhielten uns sehr angeregt. Elke hatte nicht viel Zeit, denn sie musste früh wieder zuhause sein. Sie wollte unbedingt pünktlich sein, weil ihre Eltern sie sonst das nächste Mal nicht mehr hätten gehen lassen. Trotzdem war auf dem Rückweg aber noch genügend Zeit und wir haben die Gelegenheit genutzt, um uns innig zu küssen. Das war der erste Kuss für Elke! Alles war sehr aufregend für uns beide. Der Abschied fiel uns sehr schwer. Wir wollten uns eigentlich noch gar nicht so schnell trennen, aber die Zeit drängte. Elke stieg auf Ihr Rad und fuhr nach Hause. Wehmütig sah ich ihr hinterher und drehte dann auch schweren Herzens um, um ebenfalls den Heimweg anzutreten.
Aber wir sollten uns schon bald unerwartet und ganz zufällig wiedersehen.
Mein Chef schickte mich wieder mal auf eine Baustelle nach Neu Sankt Jürgen. Auf einem Bauernhof hatte unser Geselle Herbert eine neue Motoranlage zum Abpumpen der Gülle installiert. Ich sollte den Motor dafür aufstellen, anschließen und testen. Der Bauer sah sich, nachdem ich mit meiner Arbeit fertig war, mein Werk an. Gemeinsam nahmen wir die gesamte Anlage anschließend in Betrieb. Alles funktionierte auf Anhieb reibungslos und ich war sehr erleichtert und froh darüber. Der Bauer und ich waren zufrieden, und ich machte mich fertig, um zurück in den Betrieb zu fahren und meinen nächsten Auftrag vom Meister abzuholen. Ich verließ den Hof und sah eine junge Frau, die gerade mit dem Rad auf dem Weg dorthin war. Sie kam näher und näher und ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Ihre schemenhaft erkennbare Figur und ihre Art, sich zu bewegen hatte ich doch schon mal gesehen. Die kannte ich doch! Es war tatsächlich meine Elke! Sie hielt an, als sie mich sah und erkannte. Voller Freude beschlossen wir, in den nächsten abgelegenen Feldweg zu fahren. Sie ließ das Fahrrad einfach fallen, nahm mich in den Arm und wir küssten uns herzlich und intensiv.
Wir unterhielten uns, und ich wollte wissen, was sie denn auf dem Hof wollte. Sie schaute mich seltsam an und erklärte mir, dass sie doch dort wohnen würde und jetzt vom Einkaufen zurück nachhause wollte. Ich war sehr überrascht und kombinierte, dass der Bauer ja dann wohl ihr Vater sein müsse. Laut meinte ich dann zu Elke: „Ach, dann habe ich ja wohl gerade deinen Vater kennengelernt. Was für ein Zufall! Aber ich freue mich sehr, dich so plötzlich und unerwartet wiederzusehen.“
Gemeinsam beschlossen wir, einige Schritte zusammenzugehen. Arm in Arm, uns immer wieder küssend, schlenderten wir eine kurze Strecke den Weg entlang und dann wieder zurück. Gesehen hat uns zum Glück niemand. Nun war es Zeit, zum Abschied nehmen. So vergingen natürlich die Stunden wie im Flug, bevor ich wieder ins Elektrogeschäft nach Hüttenbusch zurückkehrte. Der Meister war bei meinem Eintreffen zwar nicht anwesend, kam aber kurz nach mir auch wieder zum Betrieb zurückgefahren und wollte wissen, wo ich denn so lange gewesen wäre. Denn auch er hatte den Bauern besucht, um zu erfahren, ob alles funktionierte und in Ordnung war. Aber da war ich doch wohl schon einige Zeit vor seinem Eintreffen von dort weggefahren, hatte ihm der Bauer verraten. Ich schwieg und gab keine Antwort. Schließlich wollte ich ja Elke schützen und nicht, dass sie auch noch Ärger bekommen sollte. Ich weiß nicht, was er sich daraufhin in seinem Kopf zusammenreimte – jedenfalls schien es nichts Gutes gewesen zu sein -, denn ich bekam wieder mal links und rechts ein paar kräftige Ohrfeigen. Herr Grother beschimpfte mich noch lange Zeit sehr derb und fuhr mit mir zur nächsten Baustelle, immer noch laut vor sich hin schimpfend.
Auf dieser Baustelle, ein großer Neubau mit acht Wohnungen in Bornreihe, arbeiteten bereits mein Freund Hans und der Geselle Herbert.
Es gab dort allein von der Größe her außerordentlich viel zu tun. So kam es, dass wir hier über eine längere Zeit im Einsatz waren. Tage, Wochen und Monate vergingen.
Elke und ich waren immer noch ein Paar.
Nie werde ich vergessen, als wir miteinander das erste Mal zusammen Geschlechtsverkehr hatten.
Elke war noch Jungfrau. Das Problem war, dass ich das nicht wusste. Beide waren wir nicht aufgeklärt worden – weder von unseren Eltern noch von der Schule oder sonst jemanden. Wir bekamen einen riesigen Schreck als es passierte. Elke schrie kurz auf, als ich das erste Mal in sie eindrang, und ich wusste nicht warum. Weil es aber so schön für mich war, ignorierte ich das einfach und machte mir keine weiteren Gedanken. Danach sah ich, dass Elke im Genitalbereich blutete. Oh je, was war bloß passiert? Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sie sagte mir, dass sie vorher noch niemals mit einem Mann geschlafen und Sex gehabt hatte. Das musste die Erklärung für den Zwischenfall gewesen sein! Heute weiß ich natürlich, dass ich sie entjungfert hatte.
Wir trafen uns dann auch öfter mitten in der Woche am Spätnachmittag nach Feierabend und hatten so gut wie jedes Mal Sex miteinander. Das war für mich eine wunderschöne Zeit, in der es mir sehr gut ging und die ich richtig und intensiv genoss.
Dazu trug auch der häufige Kontakt mit Hans bei, denn wir sahen uns ja nicht nur bei der Arbeit, sondern trafen uns dazu noch privat beim Fußballspielen, im Posaunenchor und zu sonstigen Anlässen.
Ab und zu waren wir zusätzlich gemeinsam mit allen unseren Freunden und Freundinnen verabredet. Wie gesagt, es war eine wunderbare Zeit!
Wenn es auch zu Hause mit meinen Eltern viel weniger Unstimmigkeiten gab und ich viel seltener als früher geschlagen wurde, so wurde mein Wunsch und mein Verlangen nach Beendigung meiner Elektrikerlehre von daheim wegzuwollen, wie ich es schon immer geplant hatte, in mir immer größer und stärker. Ich wollte einfach weg von hier – unter allen Umständen!
So entschloss ich mich eines Tages nach der Berufsschule, die sämtliche Elektrikerlehrlinge alle 14 Tage besuchen mussten, nach Bremen zu fahren, wo es einen Gebäudeblock mit dort angesiedelten Reedereien gab.
Dort angekommen, fiel mir zuerst das große Schild “Drei Kronen Reederei“ Schweden auf.
Das hörte sich doch gut an! Spontan bin ich sofort darauf zugesteuert und in deren Büro gegangen. Ich habe ihnen von meiner Lehre als Elektriker berichtet und von meinem sehnsüchtigen Wunsch erzählt, dass ich nach der Gesellenprüfung in etwa einem Jahr gern als Elektroassistent zur See fahren würde. Sie haben mich interessiert angehört und mich umfassend und ausführlich über alles, was ich wissen wollte und wissen musste, freundlich informiert. Zum Schluss haben sie mir einen Heuervertrag ausgehändigt, den ich mitnehmen und zuhause gut durchlesen sollte. Außerdem wiesen sie mich daraufhin, dass der Vertrag unbedingt auch von meinen Eltern unterzeichnet werden musste, weil ich ja noch nicht volljährig war.
Anschließend fuhr ich mit dem Zug wieder direkt zurück nach Hause. Bevor ich ins Haus ging, huschte ich noch schnell in den Schuppen nebenan und versteckte den Heuervertrag in meinem Schrank, den ich schon seit längerem dort stehen hatte und den man abschließen konnte. Nur ich hatte einen Schlüssel dafür.
Zwar verlangte meine Mutter öfter von mir, den Schrank vor ihren Augen zu öffnen, damit sie kontrollieren konnte, ob ich auch keinen Alkohol oder sonst irgendetwas Verbotenes darin aufbewahrte. Aber da ich das ja wusste, dass sie dort ab und zu mal nachsah, hatte ich sowieso nie etwas derartiges darin gelagert. Dafür, dass sie den Vertrag nicht finden konnte, hatte ich ja gesorgt, in dem ich ihn unter einer Schublade festklebte.
Hauptsächlich ging es ihr ja ohnehin nur um den Alkohol, denn ich hatte schon des Öfteren mal ein paar Flaschen oder zumindest einige Gläser Bier im Freundeskreis getrunken.
Der Grund dafür war wohl, dass sie mich schützen wollte. Denn ich hatte ein Gespräch meiner Eltern mitgehört, in dem sie sich darüber unterhielten, dass meine Brüder Heinz und Hermann sich zu Trinkern entwickelt hatten. Mich wollten sie vor der Gefahr der Alkoholabhängigkeit bewahren. Zum Teil hatte ich es ja auch schon mitbekommen, dass meine Brüder häufig betrunken waren. Aber es musste wohl noch viel schlimmer gewesen sein, als ich es bis dahin miterlebt und wahrgenommen hatte.
Meine Eltern sprachen auch davon, dass Heinz und Hermann in die Trinkerheilanstalt eingewiesen werden sollten. So könne es doch auf keinen Fall weitergehen. Es würde ja immer schlimmer werden. Auch wollten sie darüber mit den Ehefrauen meiner beiden Brüder verhandeln.
Später habe ich dann erfahren, dass sowohl Heinz als aber auch Hermann das nicht wollten und abgelehnt hatten. Immer hatten sie sich geweigert, das einzugestehen und wollten von dieser unangenehmen Wahrheit leider nie etwas wissen.
Für mich war das aber nie ein Problem gewesen. Ich hatte mich damit nicht weiter beschäftigt und bin ziemlich emotionslos damit umgegangen, da ich zu den beiden nie einen wirklich engen Kontakt gehabt hatte. Ehrlich gesagt, war mir das völlig egal!
Wie schon erwähnt, hatte ich mit meinen beiden Schwestern Erika und Anni ein gutes Verhältnis – völlig anders als zu meinen Brüdern.
Meine Schwester Anni wohnte und lebte leider weit weg von uns. Sie war ins Ruhrgebiet zu ihrem Ehemann Helmut gezogen. Das kleine Städtchen, in dem die beiden lebten, hieß Marl. Es war von Chemie und Bergbau geprägt. Mein Schwager Helmut war dort auf einer Zeche als Bergmann beschäftigt und arbeitete damals unter Tage.
Wie gern würde ich sie einmal in ihrer Heimat besuchen wollen! Aber meinen Eltern war das wohl zu gefährlich. Sie meinten, ich könnte nicht allein mit dem Zug dorthin reisen. Der Drang, einmal nach Marl zu fahren wurde durch das Verbot aber nicht geringer, sondern immer stärker.
Inzwischen hatten wir den Monat April 1962 und ab Mai würde ich mein 3. und letztes Lehrjahr beginnen.
Meine Zwischenprüfung hatte ich bereits abgelegt und sie mit der Note „gut“ bestanden.
Ich erinnere mich noch, dass wir mal wieder eine Baustelle in Hüttenbusch begonnen hatten. Ein Bauer hatte dort eine neue Scheune mit Stall gebaut, und wir sollten dort die Elektroarbeiten ausführen. Hans und ich sollten mit dem Fahrrad dorthin fahren. Wir zweigten allerdings auf dem Weg dorthin ein wenig ab und wollten erst beim Krämerladen vorbeifahren, um dort schnell ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Das hatten wir schon ein paar Mal gemacht. Es wurde nie bemerkt und es ist nie ein Problem daraus entstanden. Im Laden angekommen, kaufte Hans eine Schachtel Zigaretten und eine Flasche Fanta. Ich erwarb eine kleine Flasche Cola. Das Geschäft war gut besucht. Wir trafen dort auf einige Leute, die wir gut kannten und begannen eine Unterhaltung über Fußball und viele andere interessanten Themen. Leider achteten wir nicht auf unsere Uhren, denn die Zeit verging wie im Flug. Schnell war eine Stunde vorbei. Als uns das bewusst wurde, bekamen wir einen großen Schreck und verabschiedeten uns sofort von den anderen, um uns auf den Weg zurück zu unserer Baustelle zu machen. Dort gingen wir sofort in den Stall, um mit unseren Arbeiten weiterzumachen. Puh, das war ja noch einmal gutgegangen und niemand hatte etwas von unserem Fehlen bemerkt.
Dachten wir!
Plötzlich sprang die Nebentür auf und Meister Grother trat ein. Er war außer sich vor Wut, schrie laut schimpfend herum. Er wollte wissen, wo wir denn die ganze Zeit gewesen waren und schlug aufs heftigste auf uns ein.
Hans schaffte es, ihm zu entkommen und lief schnell davon. Ich aber hatte keine Chance. Er hielt mich fest und prügelte wütend und rücksichtslos auf mich ein. Irgendwann ließ er von mir ab und verschwand weiter vor sich hin brummend von der Baustelle. Ich hatte heftige Schmerzen, die auch immer noch seit seinem Rückzug dauerhaft anhielten. Die Luft war ja jetzt rein und da kam auch Hans langsam wieder zurück.
Mir tat alles weh, und mir ging es so schlecht, dass ich nicht mehr in der Lage war, weiter zu arbeiten. So ging es einfach nicht weiter! Ich brach sofort alle Tätigkeiten ab, packte meine Sachen und fuhr nach Hause. Aufgeregt berichtete ich den ganzen Vorfall meiner Mutter in der Hoffnung, vielleicht Verständnis, Hilfe und Unterstützung von ihr zu bekommen gegen diesen unbeherrschten und gewalttätigen Meister. Gegen diese Willkür musste doch unbedingt etwas unternommen werden. Aber Mutter meinte nur, dass ich unbedingt wieder zurück zur Baustelle und dort weiterarbeiten müsste. Sonst würde ich die Lehrstelle kurz vor dem Ende meiner Ausbildung noch verlieren.
Wohl oder übel habe ich dann auf meine Mutter gehört und mich zurück auf die Baustelle gequält. Schließlich wollte ich nicht noch mehr Ärger haben.
Helmut Feldmann mit seiner Mutter
Auf dem Weg dorthin habe ich meine Situation durchdacht und mir überlegt, dass ich mir einen Tag Urlaub nehmen wollte. An diesem Urlaubstag würde ich nach Osterholz-Scharmbeck fahren und die Werkstatt des Innungsmeisters Herrn Held aufsuchen, um mit ihm über meine Situation zu sprechen. Ich wollte und konnte den letzten Vorfall einfach nicht auf sich beruhen lassen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Meister Grothe wieder ausrasten und dann vielleicht noch viel Schlimmeres mit mir anstellen würde. Außerdem war das Verhältnis zwischen Herrn Grothe und mir massiv gestört.
Zwei Tage später habe ich meinen Plan dann in die Tat umgesetzt. Meister Held hörte meiner Erzählung aufmerksam zu und stellte ein paar Zwischenfragen. Ich berichtete ihm, dass ich schon häufig von meinem Lehrmeister geschlagen worden war und dass ich es einfach nicht mehr aushalten konnte, weiter bei und mit ihm arbeiten zu müssen.
Als ich feststellte, dass er mich sehr ernst nahm und nachzudenken begann und er das Verhalten des Lehrherrn auch nicht gut und richtig fand, wurde ich immer mutiger. Er war sehr nett und sympathisch und so fasste ich mir ein Herz und fragte ihn, ob es denn nicht möglich wäre, dass ich meine Lehre bei ihm beenden dürfte. Er schaute mich verständnisvoll an, überlegte einen kurzen Moment und meinte dann, dass das wohl das Beste für beide Seiten sei. Er bereitete alle Unterlagen für einen Wechsel vor. Ich hatte es geschafft! Ich musste nicht mehr zurück zu Meister Grother. Am 2. Mai sollte ich bei Herrn Held anfangen und bei ihm meine Lehre beenden. Für mich war Meister Held natürlich ein Held! Schönes Wortspiel, dachte ich noch.
Nun hatte ich daheim das Problem, diese neue Situation meinen Eltern erklären zu müssen. Sie wussten ja noch nichts von meiner Entscheidung. Als ich ihnen das erzählte, waren sie alles andere als begeistert. Sie waren über meinen Alleingang erbost und haben mit mir geschimpft. Aber sie haben mich nicht geschlagen, worüber ich mich gewundert hatte, denn damit hatte ich schon gerechnet. Ich war froh und erleichtert, dass es dazu nicht gekommen war.
Am nächsten Tag ging mein Vater in das Elektrogeschäft Grother und klärte alles mit meinem bisherigen Lehrherrn. Er regelte das mit dem Stellenwechsel und sorgte dafür, dass alle Papiere vollständig vorhanden und in Ordnung waren und ließ sie sich aushändigen. Fast war ich ein wenig stolz auf meinen Vater. Ich fand es klasse, was er da für mich getan hatte und war ihm wirklich dankbar dafür.
Damit war die Ära Grother für mich beendet und ab jetzt lernte ich beim Innungsmeister Held weiter.
Meinen Freund Hans traf ich dann erst wieder am nächsten Sonntag in der Kirche beim Posaunenchor. Er verriet mir, dass er traurig wäre, weil ich nun meine Lehre in Osterholz-Scharmbeck beenden würde. Er müsste nun allein mit Meister Grother auskommen, was ja nicht so einfach war. Ohne mich würde ihm das alles auch nicht mehr so viel Spaß machen.
Bereits am Sonntagnachmittag sahen wir uns schon wieder. Wir hatten ein Heimspiel gegen Worpswede, bei dem Hans ebenfalls so wie ich als Spieler mit dabei war.
Nach Spielende -später im Bahnhofsgasthaus – gestand er mir, dass seine Freundin Karin mit ihm Schluss gemacht hätte. Karins Eltern waren nach seiner Aussage angeblich hinter die Beziehung zwischen Karin und ihm gekommen. Sie hatten darauf bestanden, dass Karin das Verhältnis beendete. Der Grund dafür war, dass zu Karin nur ein Bauernsohn passen würde. So war das eben damals, dass ein Hof mit dem anderen auf diese Art und Weise verschmolzen wurde. Die Bauern kamen so zu immer größeren Höfen und Feldern und damit zu mehr Reichtum. Das und mein Weggang aus der Firma war alles ein bisschen viel für Hans. Ich versuchte, ihn zu trösten, glaube aber, dass mir das nicht so ganz gelungen ist – zumindest anfangs nicht.
Zum Glück gab es mit meiner Elke keine Probleme. Ich traf mich weiterhin mit ihr, wir verstanden uns und es war immer richtig schön. Ich glaube, sagen zu können, dass wir in dieser Zeit richtig glücklich waren – ein Gefühl, das ich nur sehr selten erleben durfte. Sie war eben ein bezauberndes Mädchen.
Inzwischen hatte ich ja einen neuen Lehrherrn, den Innungselektromeister Held, der in Osterholz-Scharmbeck ansässig war. Dorthin fuhr ich jeden Tag mit dem Zug. Dafür hatte ich mir extra eine Monatskarte gekauft. Trotz des weiten Weges und des erhöhten Zeitaufwandes sowie der zusätzlichen Kosten für die Bahn war mir der Wechsel diesen Aufwand wert. Die Tätigkeiten und das Umfeld in dem Betrieb empfand ich als sehr angenehm. Auch das Betriebsklima war viel besser und geschlagen wurde ich dort niemals. Ich fühlte mich sehr wohl in der Firma und habe sehr viel zusätzlich gelernt. Oft hatten wir in der örtlichen Werkstatt Schaltschränke mit Ersatzteilen, wie zum Beispiel Schütze, Trafos und so weiter vorinstalliert. Das machte mir großen Spaß und ich war immer voller Eifer und mit großer Wissbegierde dabei. Klar, dass das auch meinem neuen Meister gefiel und so vertraute er mir immer anspruchsvollere Aufgaben an, mit denen ich mein Fachwissen natürlich erheblich ausbauen konnte.
Irgendwann besuchte uns auch mal wieder meine Schwester Anni aus Marl mit ihrem Ehemann und ihren Kindern Petra und Hartmut. Sie reisten zum ersten Mal mit ihrem eigenen Auto an, das sie sich erst vor kurzem angeschafft hatten. Es ging ihnen finanziell also soweit ganz gut. Den Aufenthalt der Familie bei uns fand ich sehr schön, nur leider viel zu kurz. Mit Petra und Hartmut verstand ich mich nämlich sehr gut. Je nachdem, wie es meine Zeit erlaubte, haben wir zusammen immer viel unternommen.
Die komplette Familie hatte mich auch am Sonntag zum Fußballspiel nach Bornreihe gefahren, war dortgeblieben und hatte sich das Spiel angesehen. Natürlich hatte ich mich besonders angestrengt, schließlich wollte ich unserem Besuch imponieren. Deshalb freute ich mich besonders darüber, dass wir das Match gewonnen hatten. An Ende stand es 7:5 für uns. Davon hatte ich allein 2 Tore geschossen.
Auch mein Freund Hans kämpfte wieder mit auf unserer Seite und war an dem Spieltag in Superform. Ganze 4 Tore trug er zu unserem Sieg bei. Nach dem Spiel hatten wir Gelegenheit, noch ein wenig miteinander zu plaudern.
Hans berichtete mir, dass er inzwischen auch nicht mehr solo sei, sondern eine neue Beziehung zu Helma aufgebaut hätte und sie nun zusammen ein Paar wären. Helma kannte ich auch aus der Schulzeit in Hüttenbusch. Er erzählte auch von seiner Arbeitsstelle und verriet mir, das Grother zwei neue Gesellen eingestellt hätte. Neun Monate müsste er noch bei ihm durchstehen, bis seine Gesellenprüfung anstand. Er war sehr froh darüber, dass die Zeit nur noch so kurz war, denn das Betriebsklima wäre noch deutlich schlechter geworden als zu den „alten“ Zeiten. Für ihn stand fest, dass er sofort nach dem Bestehen seiner Ausbildung bei Grother kündigen und keinen Tag länger als nötig bei ihm bleiben würde. Ich könnte wirklich tief und erleichtert durchatmen, dass ich die Stimmung bei Grother und dessen Art, mit Menschen umzugehen nicht mehr ertragen müsste.
Hans wollte weiter von mir wissen, ob Elke und ich nicht Lust hätten, mit ihm und Helma am Samstagnachmittag ins Kino nach Osterholz-Scharmbeck zu fahren. Das konnte und wollte ich aber allein nicht entscheiden, sondern erst mit Elke besprechen. Mein Schwager Helmut, der uns ja gerade einen Besuch abstattete, war so freundlich, mich mit dem Auto dafür nach Neu St. Jürgen zu fahren, um Elke danach fragen zu können. Ich hatte Glück, denn ich traf sie vor dem Bauernhaus an. Sie war gerade damit beschäftigt, Teppiche, die über eine Teppichstange aufgehängt waren, mit einem Klopfer auszuschlagen. Schon von weitem konnte ich die Klopfgeräusche wahrnehmen und wurde so auf sie aufmerksam. Elke war über das Angebot, mal wieder ins Kino zu gehen, sehr erfreut und sagte mit großer Begeisterung sofort zu, obwohl sie Helma bis dahin noch gar nicht kannte.
Wir sahen uns im Kino einen tragischen Liebesfilm an, der bei den beiden Mädchen große Emotionen auslöste. Leider weiß ich nicht mehr den Titel dieses Films. Unsere beiden Freundinnen schluchzten und vergossen ihre Tränen in Strömen. Wir beide als junge Männer mussten zwar auch ein wenig schlucken, aber wir rissen uns zusammen und steckten das scheinbar gleichgültig weg. Bloß den beiden Mädchen nichts von unseren Gefühlen und Empfindungen anmerken lassen! Das konnte uns schließlich als Schwäche ausgelegt werden und unsere Männlichkeit untergraben.
Nach dem Film schlenderten wir noch ein wenig durch die Stadt und landeten dann schließlich in einer gemütlichen Eisdiele. Wir luden unsere Freundinnen zu einem großen, leckeren Eis ein und hatten viel Spaß. Ein schöner Nachmittag für uns vier ging zu Ende. Mit dem Zug fuhren wir wieder zurück. Ich stieg mit Elke in Neu Sankt Jürgen aus, während die beiden anderen ihre Fahrt fortsetzten.
Elke und ich verbrachten zwei weitere traumhafte Stunden miteinander bei Liebe und Sex irgendwo in einer freistehenden, einsam liegenden Scheune. Dann wurde es Zeit, sich zu verabschieden. Ich ging zu Fuß an den Bahngleisen entlang nach Hüttenbusch zurück zu meinem Elternhaus.
Ungewöhnlich war es, dass mein Vater um diese Uhrzeit bereits im Bett lag. Ich hatte zwar mitbekommen, dass mein Vater in den letzten Tagen ein wenig erkältet war, dem aber keine große Bedeutung beigemessen. Nun war ich aber doch erschrocken. Er litt ja unter Asthma und hatte jetzt noch eine dicke Erkältung dazu bekommen. Beides zusammen verursachten bei ihm eine große Luftnot. Es pfiff und rasselte beim Luftholen aus seiner Brust. Jeder Atemzug war von einem Röcheln begleitet. Ich setzte mich zu ihm auf die Bettkante, nahm seine Hand, streichelte sie und empfand plötzlich große Angst um ihn. Für mich war das ganz schlimm, denn er hatte sich in letzter Zeit sehr für mich eingesetzt. Dadurch hatte ich mich ihm wieder emotional angenähert. Ich betete, dass die Situation für alle gut ausgehen würde. Mein Beten wurde erhört, denn Gott sei Dank ging es ihm nach einigen Tagen wieder besser.
Leider kam dann auch bald die Zeit, zu der wir von unserem Besuch Abschied nehmen mussten. Schwester und Schwager mussten mit ihren Kindern wieder zurück nach Marl.
Helmuts Urlaubstage gingen zu Ende und er musste wieder im Bergwerk arbeiten. Er fuhr auf der Zeche Auguste Victoria (AV) ein, die ich später auch einmal besichtigen durfte. Einfahren nennt man es, wenn die Bergmänner zu Arbeitsbeginn in den Schacht mit dem Förderkorb hinabgelassen werden. Wie immer war ich auch diesmal wieder sehr traurig, dass die Familie uns verließ. Ich verbarg das zwar, aber nach der Abreise begab ich mich in den Schuppen und weinte, denn ich mochte nicht nur meine Schwester Anni von Herzen gern, sondern auch meinen Schwager Helmut und deren beiden Kinder Petra und Hartmut.
Ein kleiner Trost für mich war ihr Versprechen, uns im Herbst erneut besuchen zu wollen.
Meine Schwester Erika feierte zwischenzeitlich ihre Hochzeit und besuchte uns immer mal wieder an einem Wochenendtag in Hüttenbusch. Natürlich begleitete sie ihr Ehemann, der übrigens Johann hieß, bei diesen Treffen. Johann war ein feiner Kerl, den ich ebenfalls gut leiden mochte. Er besaß mit Erika gemeinsam einen mittelgroßen Bauernhof, den er von seinen Eltern übernommen hatte.
Umgekehrt hielt ich mich auch bei ihnen auf dem Hof auf, sei es, um sie zu besuchen oder aber auch, um sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Dabei ging es auch schon mal raus aufs Feld, um Rüben zu ziehen oder auf die Wiese am Hang, um das Heu zu wenden.
Mit Erika habe ich mich oft unterhalten, um Ratschläge von ihr zu bekommen. Sie hat sich auch bei meinen Eltern für mich eingesetzt und mit ihnen über meine Belange gesprochen. Das hat Wirkung gezeigt, denn meine Eltern reagierten grundsätzlich positiv darauf. Wie bereits erwähnt, wurden die Bestrafungen viel seltener.
Als meine Eltern allerdings von Bekannten erfuhren, dass ich mit einem Mädchen befreundet war, sprachen sie miteinander darüber. Es konnte doch nicht sein, dass ihr viel zu junger Sohn mit einem Mädchen liiert war! Er sei doch noch gar nicht reif für eine Beziehung. Dieses Verhalten meiner Eltern war völlig neu für mich. Mit strengem Ton haben sie mir dann den weiteren Umgang mit Elke verboten.
Aber ich hörte nicht darauf und hielt mich nicht an das Verbot. Da ich annahm, dass diese Information von Bekannten aus Neu Sankt Jürgen stammte, hatten Elke und ich uns nicht mehr dort getroffen. Unsere Rendezvous fanden ab sofort nur noch in Worpswede statt. Dort glaubten wir uns sicher. Ich fuhr seitdem immer mit dem Zug oder dem Fahrrad zu unseren dann heimlichen Treffen.
Obwohl Worpswede nur ein kleiner Ort ist, ist er doch weit über seine Grenzen hinaus nahezu im gesamten Land nicht unbekannt. Man kennt ihn als Heimat vieler bekannter Künstler. Im Jahr 1889 wurde von Künstlern in der Gemeinde Worpswede eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gegründet. Der Ort wurde dadurch zur Heimat bedeutender Künstler des Jugendstils, Impressionismus und Expressionismus. Zur „Stadtflucht“ der Künstler führten neben dem Interesse für Licht, den ländlichen Motiven oder den markanten Landschaften auch romantische Sehnsüchte nach bäuerlicher Idylle und nach einem einfachen, naturnahen Leben. So entstand die berühmte Künstlerkolonie von Worpswede, in der noch heutzutage Ausstellungen, Galerien und Werkstätten besucht werden können.
Das ist auch der Grund, warum dieser Ort auch noch heute jedes Jahr von vielen Touristen und Kunstfreunden besucht wird. Worpswede ist häufig Thema in den verschiedenen Medien.
Viele bekannte Maler waren und sind auch noch dort vertreten und kreativ tätig.
Mich hat besonders das Wohnhaus von Lale Anderson, der bekannten Sängerin, interessiert, die hier auch lebte, denn ich mochte ihre Lieder, von denen ich sehr beeindruckt war. Ihren wohl bekanntesten Titel „Vor der Kaserne…“ liebte ich geradezu abgöttisch und konnte ihn nicht oft genug hören.
Daneben mochte ich aber auch die Rock ´n´ Roll-Musik und ähnlich geartete mit Künstlern wie zum Beispiel Bill Haley (& His Comets), Jerry Lee Lewis, Little Richard und viele andere mehr.
Das war eigentlich mein musikalischer Geschmack.
Hans und ich haben oft diese Titel im Hauskeller von Hans Eltern auf der Trompete geübt und gespielt. Immer mit dabei waren auch Songs von Buddy Holly mit Titeln wie zum Beispiel „Peggy Sue“.
Leider teilte Elke meinen musikalischen Geschmack nicht so ganz. Sie bevorzugte deutsche Schlager. Ich mochte verschiedene Musikstile, aber bevorzugte die gerade genannten. Bei den deutschen Schlagern gab es nur einige wenige ausgewählte Titel, die ich auch gern hörte.
Deshalb wollte sie mich auch nicht begleiten als in der Aula unserer Berufsschule in Osterholz ein Rock ´n´ Roll-Nachmittag veranstaltet wurde. Damit enttäuschte sie mich tief, denn selbst die Freundin von Hans, Helma, war begeistert mit dabei. Einige mir bekannte Gäste kamen auch aus Hüttenbusch.
Wir saßen zu dritt an einem für vier Personen ausgelegten Tisch. Uns gegenüber standen weitere Vierpersonentische wie an einer Schnur aufgereiht. Am Nachbartisch saß mir vis-à-vis eine hübsche Brünette, die immer im Takt der Musik mitwippte und mir schnell ins Auge fiel. Sie saß mit drei Freundinnen dort, die wohl viel Spaß miteinander hatten. Aber ich achtete nur auf sie, weil sie mir so gut gefiel.
Das Verhalten schaute ich mir einige Zeit an, dann fasste ich den Entschluss, sie anzusprechen und sie zu fragen, ob sie mit mir tanzen wollte. Als ich meinen Entschluss in die Tat umsetzte und sie zum Tanz aufforderte, stimmte sie lächelnd zu, und sie begab sich mit mir zusammen auf die Tanzfläche. Sie schien sich darüber zu freuen. Während des Tanzens erfuhr ich, dass die Schönheit Renate hieß und in Osterholz-Scharmbeck wohnte, ganz in der Nähe des Bauernhofes meiner Schwester. Es wurde ein toller Nachmittag. Wir kamen gar nicht mehr von der Tanzfläche herunter, denn jeder Tanz gehörte nur uns beiden. Zum Glück machte die Band zwischendurch Spielpausen, in denen wir uns etwas erholen konnten. Wir harmonierten perfekt miteinander und keiner von uns wechselte während dieses Nachmittags mehr seinen Tanzpartner. Sie war einfach der Knaller!
In einer der mehrfachen Tanzpausen verriet mir Renate, dass jeden Sonntagnachmittag in einer Gaststätte in Osterholz-Scharmbeck eine fantastische Rock ´n´ Roll-Band aufspielte. Sie bot mir an, dass wir uns beide dort doch einmal treffen könnten. Diesen Vorschlag fand ich super und begeistert willigte ich ein. Warum nicht, dachte ich, Renate war lustig, konnte spitzenmäßig tanzen und lag auf meiner Wellenlänge. Mir hat sie mit ihrer Art viel Freude gemacht.
Zwischenzeitlich hatte auch mein Bruder Herrmann in Hüttenbusch von seinem Schwiegervater ein Baugrundstück geschenkt bekommen und darauf ein Haus gebaut, das sich derzeit noch im Rohbau befand. Eines Abends besuchte er uns, wollte aber eigentlich gar nicht zu meinen Eltern, sondern mit mir sprechen. Er meinte, ich wäre doch Fachmann für Elektroinstallationen und ob ich nicht bei ihm die Elektroarbeiten übernehmen wollte. Das müsste ich nicht kostenlos machen, sondern er wollte mir dafür auch Geld geben. So hätten wir beide etwas davon, er würde sparen und ich würde mir etwas dazu verdienen. Geld konnte ich immer gebrauchen und so sagte ich ihm zu. Ich machte aber zur Bedingung, dass die Wochenenden für mich frei bleiben müssten, um überhaupt noch über etwas Freizeit verfügen zu können und dass ich die Arbeiten nur nach Feierabend machen würde – auch wenn es dann ein wenig länger dauern würde. Das akzeptierte er auch so. Weiterhin machte ich das davon abhängig, dass mein Meister, der ja der Innung vorstand, seine Genehmigung dazu erteilen müsste. Auch damit war mein Bruder einverstanden.
Meister Held stimmte nach Befragung zu, wollte aber, dass das gesamte Elektromaterial, das wir für die Installation brauchen würden, ausschließlich bei ihm gekauft würde. Dafür bekämen wir bei ihm noch einmal einen Preisnachlass von 10 % auf den Warenwert.
Die Endabnahme sollte von ihm gegen Bezahlung durchgeführt werden. Die Installation des Stromzählers und die Verplombung mussten ja sowieso durch einen zertifizierten Meisterbetrieb vorgenommen werden, der bei den Elektrizitätswerken zugelassen war.
Herrmann war erleichtert und zufrieden und mit allem einverstanden.
Ich hatte dann, wie geplant, nach Feierabend etappenweise die Steck-, Abzweig- und Schalterdosen auf der rohen Wand angezeichnet, so wie früher mein Lehrherr das für uns getan hatte.
Mein Bruder sollte die dann ausstemmen und eingipsen. Damit wollte ich mich nicht belasten, denn das hatte ich in meiner Ausbildung reichlich oft machen müssen, so dass ich jetzt keine Lust mehr darauf hatte. Sollte sich doch mein Bruder auf die Finger hauen! Außerdem sparte mir das viel Zeit ein, so dass ich die Arbeiten schneller fertigstellen konnte.
Herrmann bezahlte mich täglich großzügig für meine geleistete Arbeit, denn er sparte ja dabei trotzdem auch noch viel Geld ein.
Während meiner Arbeit machte ich zwischendurch kurze Erholungspausen, in denen mein Bruder mir täglich öfter mal ein Herrengedeck reichte. Das war aber nichts zu essen, sondern so nannte man die Kombination aus einem Bier und einem Korn. Anfangs spürte ich schon die Wirkung des Alkohols nach mehreren Gedecken, aber je regelmäßiger ich trank, umso weniger Wirkung war da. So gewöhnte ich mich langsam und schleichend an den Konsum von Alkohol.
Wenn ich bei meinem Bruder Feierabend machte und mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, lief mir meist meine Mutter über den Weg. Die Alkoholfahne riechen und die Hände zum Ohrfeigen ausholen, waren bei ihr nahezu eine Bewegung. Sie schlug immer recht kräftig zu.
Das hatte mir im Laufe der Zeit aber immer weniger ausgemacht. Ich glaube, die vielen Schläge haben mich abgestumpft, waren mir irgendwann egal und haben mich eigentlich überhaupt nicht mehr belastet. Sogar an so etwas kann man sich gewöhnen.
Für mich war allein der Zusatzverdienst wichtig, damit ich mir Kino, Tanzen und mehr leisten konnte. Mein Lehrlingsgeld war zu gering dafür. Ich musste davon ja noch einen Teil an meine Eltern abgeben, und daher war jeden Monat das Geld knapp. Doch ich wollte mir etwas leisten können und etwas Schönes erleben.
Überraschend erzählte mir Hans, dass seine Eltern ein fertiges Haus günstig in Bornreihe kaufen wollten. Das würde bedeuten, dass er auch bald aus Hüttenbusch wegziehen müsste. Wir waren beide traurig, weil wir uns ja dann nicht mehr so häufig sehen würden. Hans erklärte mir auch, dass er dann nicht mehr bei uns, sondern in Bornreihe Fußball spielen würde, und wir dann unter Umständen sogar sportliche Gegner sein könnten.
Er würde ebenfalls aus dem hiesigen Posaunenchor austreten und sich im Posaunenchor Bornreihe aufnehmen lassen.
Allerdings würden wir zunächst den Kontakt nicht verlieren, denn er musste ja noch seine Lehre bei Grother beenden. Die dauerte noch etwa ein Dreivierteljahr. So würden wir erst noch Freunde bleiben, uns aber nur noch selten sehen und etwas unternehmen können. Natürlich bedauerte das auch seine derzeitige Freundin Helma.
Da Hans und ich gleichzeitig zusammen die Lehre begonnen hatten, absolvierten wir auch gleichzeitig die Gesellenprüfung, so dass meine restliche Lehrzeit ebenfalls nur noch etwa ein Dreivierteljahr betrug.
Meister Held stellte immer wieder neue Aufgaben und Herausforderungen an mich. Mir machte das große Freude, wenn ich die zu seiner Zufriedenheit lösen konnte. So hatte ich jetzt richtig Spaß an der Arbeit, und mit meinem neuen Lehrherrn gab es nun keine Probleme mehr.
Die Zeit verging und in wenigen Monaten würde es soweit sein. Die Gesellenprüfung stand dann an, die mein weiteres Leben so sehr verändern sollte – so dachte und plante ich es jedenfalls. Vor der Prüfung hatte ich schon ein wenig „Bammel“, denn ich hatte erfahren, dass beim letzten Mal von 50 Teilnehmern 20 Prüflinge sang- und klanglos durchgefallen waren. Sie alle mussten in einem halben Jahr diese Prüfung wiederholen. Ich wollte natürlich nicht auch dazu zählen. Mein Problem war, dass ich in der Berufsschule in der fachbezogenen Mathematik nicht ganz so gut war. Daher kam meine Angst vor der Prüfung.
Hans hatte dasselbe Problem wie ich und war daher ebenfalls beunruhigt.
In der Berufsschule wurde ein Thema vorgegeben und man musste zusehen, wie man die Lösung finden konnte. Nach dem Motto „Vogel friss, oder stirb“ bekam man auf Nachfrage vom Lehrer die barsche Antwort zurück „Keine Zeit dafür“! Wir Schüler fanden das total ungerecht und fies von unserem Lehrer, konnten aber nichts dagegen unternehmen. Es war halt so! Bis zur Prüfung hatte ich ja noch etwas Zeit, um mich jetzt intensiv mit der fachspezifischen Mathematik auseinanderzusetzen und fleißig zu üben, was ich dann auch in die Tat umsetzte.
Zudem belasteten mich zusätzlich noch ganz andere Probleme!
Zwischen dem Lernen hatten Elke und ich uns mal wieder verabredet. Ihr Verhalten mir gegenüber war völlig anders als sonst, sehr ungewöhnlich und auffällig. Sie war so „komisch“, als müsste irgendetwas passiert sein. Mir gefiel das überhaupt nicht. Ich kam heute gar nicht mir ihr klar und des-wegen fragte ich sie ganz direkt, was denn mit ihr los wäre. So würde ich sie nicht kennen.
Plötzlich sprudelte entrüstet aus ihr heraus, was sie bedrückte: „Du betrügst mich! Ich kann dir nicht mehr vertrauen. Du bist ein Schwein. Du gehst fremd mit einem anderen Mädchen aus Osterholz-Scharmbeck. Du hast einen ganzen Nachmittag ununterbrochen nur mit ihr getanzt und … ihr habt euch geküsst!!!“
Ich spürte einen dumpfen Druck in der Magengegend. Empört versuchte ich ihr zu erklären, dass das so nicht stimmen und nicht der Wahrheit entsprechen würde.
Natürlich wollte ich auch wissen, wer ihr denn diesen Blödsinn erzählt hatte.
Sie antwortete darauf, dass Bekannte von ihr aus Hüttenbusch bei diesem Rock-Nachmittag dabei gewesen waren und mehrere das gesehen hätten.
Ich versuchte, sie zu überzeugen, dass das frei erfunden und gelogen war. Es stimmte zwar, dass ich mit ihr getanzt hatte, aber geküsst hatten wir uns nicht! Elke glaubte mir einfach nicht mehr, egal wie sehr ich das auch beteuerte.
Unser heutiges Treffen stand wohl nicht unter guten Sternen. Die Stimmung unter uns war schlecht und auf einem Tiefststand. Es war das erste Mal, dass ich sie so abweisend und gleichgültig mir gegenüber erleben musste – und auch das letzte Mal. So trennten wir uns diesmal im Streit und gingen schon nach kurzer Zeit ohne einen Abschiedskuss auseinander. Ich war tief betroffen. Auf der einen Seite machte mich das sehr, sehr traurig und auf der anderen war ich auch böse und wütend auf diese Lügner, von denen ich genau wusste, wer die waren, die mich da so denunziert hatten.
Ich kam nicht ansatzweise auf den Gedanken, dass ich vielleicht auch nicht alles richtig gemacht hatte und mein Verhalten zu Renate mit dem Dauertanzen schon grenzwertig gewesen war. Jedenfalls glaubte ich, mir nichts vorzuwerfen zu haben. In meinen Augen hatte ich nichts Schlimmes getan und Elke nicht betrogen.
Nach diesem Vorfall bemühte ich mich ehrlich, erneut eine Verabredung mit Elke zu bekommen. Sie war mir doch so wichtig! Aber ich war völlig erfolglos. Leider! Elke wollte kein Treffen mehr mit mir und wies jede Kontaktaufnahme schroff zurück. Es war aus! Ich konnte das einfach nicht begreifen, und es schmerzte sehr.
Eigentlich war es geplant, am nächsten Rocknachmittag wieder dabei zu sein und mit Renate zu tanzen. Doch ich rief sie von meiner Arbeitsstelle aus an und sagte das Treffen mit ihr unter einem Vorwand ab. Ich musste mich erst von der Trennung von Elke erholen und hatte keine Lust auf Tanzen und Spaß. Stattdessen zog ich mich ein paar Tage in mein Schneckenhaus zurück und wollte nichts hören und nichts sehen.
Meine Zurückhaltung währte etwa 2 Wochen, dann trafen Renate und ich uns beim nächsten Rockevent wieder und tanzten erneut zusammen. Beim Tanzen unterhielten wir uns und ich erfuhr von ihr, dass sie schon 18 Jahre alt war und eine kaufmännische Lehre in einer Bank absolvierte mit dem Ziel, später als Bankkauffrau tätig zu sein. Sie kannte auch meine Schwester Erika und ihren Bauernhof. Die Bekanntschaft war aber nur oberflächlich, Kontakt zu ihr hatte sie keinen. Sie kannte sie nur vom „Sehen“, wie man so sagt. Es wurde ein schöner Nachmittag, der mich wieder ein bisschen aus meinem Tief herausholte.
Zum Ende der Veranstaltung brachte ich Renate diesmal nach Hause.
Wo ich schon ganz in der Nähe war, wollte ich im Anschluss noch meine Schwester Erika besuchen.
Als ich mich von Renate verabschiedete, wollte ich sie küssen, aber sie zog den Kopf zur Seite und wollte das nicht. Dafür wäre es noch viel zu früh, meinte sie und ergänzte, dass sie schon eine große Enttäuschung hinter sich hätte und das nicht noch einmal erleben wollte. Ich verstand das, war nicht sauer oder ihr gar böse, sondern respektierte ihren Wunsch. Irgendwie fand ich das ja auch gut, dass sie nicht zu den Mädchen zu gehören schien, die sofort mit jedem „herummachten“. Sie stieg weiter in meiner Achtung und wir verabredeten uns für die nächste Woche erneut.
Bei Erika aß ich dann noch zu Abend. Mein Schwager Johann fuhr mich später mit dem Auto zurück nach Hause. Netterweise kam er noch mit ins Haus, um meinen Eltern zu bestätigen, dass ich so lange bei ihnen gewesen war, denn eigentlich sollte ich viel früher zu Hause sein. Meine Mutter hatte zwar ein wenig gemeckert, aber damit war es dann auch erledigt. Es hatte keine weiteren Konsequenzen für mich gehabt.
Auf der Arbeit bereitete Meister Held mich langsam auf die praktische Prüfung vor. Er wusste ja, was kommen könnte, denn als Innungsmeister saß er ja selbst mit in der Prüfungskommission. Mein Lehrherr stellte mir die Aufgabe, einen großen Schaltschrank selbständig nach den vorliegenden Plänen komplett zu installieren. Dafür gab er mir eine Woche Zeit. Es war zwar eine schwierige, wenn auch nicht unlösbare Aufgabe, aber ich war richtig stolz darauf und freute mich darüber, dass mein Meister mir das zutraute und mich damit auf die in ein paar Monaten anstehende Prüfung testen und vorbereiten wollte. Diesen Test nahm ich sehr ernst und beschäftigte mich auch in meiner Freizeit zu Hause damit. Ich nahm Fachbücher zu Hilfe und schaute nach, ob ich auch alles richtig verdrahtete. In der Werkstatt durfte ich nämlich nur nach den Schaltplänen arbeiten und kein Fachbuch zur Hand nehmen.
Der Geselle schaute mir dabei ein wenig auf die Finger, denn auch er war in der Werkstatt, weil er ebenfalls einen Schaltschrank für einen Kundenauftrag bauen musste. Das kam mir natürlich zugute.
Durch meine vielen praktischen Arbeiten ergänzt durch die Testaufgaben, hatte ich eigentlich keine großen Bedenken bezüglich des Bestehens des praktischen Teils der Prüfung. Nur vor der schriftlichen Prüfung im Fach Mathematik hatte ich gewaltigen Respekt und ein wenig Angst.
Hans hatte aber inzwischen auf diesem Gebiet seine Defizite aufgearbeitet, beherrschte jetzt den Stoff ganz gut und erklärte sich bereit, mich diesbezüglich zu unterstützen.
Renate und ich trafen uns nun fast jeden Sonntagnachmittag.
Doch wir gingen jetzt nicht nur immer tanzen, sondern unternahmen inzwischen auch andere Aktivitäten. So machten wir einfach nur gemeinsam ein paar Spaziergänge oder schauten uns mal einen Film im Kino an.
Erst im Oktober ließ Renate den ersten Kuss zu. Ich hatte gern so lange gewartet, denn ich muss zugeben, dass ich mit ihr mein neues Glück gefunden hatte.
Hin und wieder besuchten wir auch meine Schwester Erika. Dort gab es dann immer eine heiße Tasse Kaffee und leckeren Kuchen.
Renate hatte sich mit der Zeit angewöhnt, bei jedem Besuch auch in den Stall zu gehen und sich die Tiere anzusehen. Sie war sehr tierlieb und fand es spannend, die Tiere beobachten zu können. Am Ende des Stallgebäudes stand ein wenig um die Ecke versteckt auch ein bequemes Sofa, das zwar ausrangiert, aber noch völlig in Ordnung und sauber war. Wenn mein Schwager Johann ein wenig Zeit hatte und sich von seiner anstrengenden Arbeit bei den Tieren erholen und ein kleines Päuschen machen wollte, dann legte er sich gelegentlich darauf nieder und machte ein entspannendes Nickerchen.
Oft ging Renate allein in den Stall, aber diesmal ergab es sich so, dass ich sie begleitete. Ich hatte meinen Arm um sie gelegt, und wir beobachteten das muntere Treiben der Schwalben von einer günstigen Stelle aus. Sie schwirrten im gesamten Stall herum, mal im Sturzflug, mal schwebend. Richtige Kunstflieger waren das und so unwahrscheinlich schnell, dass wir ihnen mit unseren Blicken kaum folgen konnten. Sie waren auf der Suche nach Nahrung, um ihren Nachwuchs zu versorgen und fingen im Flug am laufenden Band irgendwelche Insekten, die das Pech hatten, ihnen in den Weg gekommen zu sein. Ein wildes und chaotisches Gewirr war das, aber sehr sehenswert. Sie waren so behände Flieger und man meinte, sie müssten irgendwann zusammenstoßen. Doch jedes Mal wichen sie sich im letzten Moment aus. Die Beute brachten sie dann in ihre Nester, die sie sich geschickt an den Holzbalken der Stalldecke gebaut hatten. Dort würgten sie die gefangenen Insekten wieder aus und fütterten damit ihre Brut. Mit Renate im Arm machte es mir richtig Spaß, diesem putzmunteren Treiben zuzusehen.
Stark beeindruckt von dem Geschehen, flüsterte sie ganz leise ein wenig verträumt, mit einem Hauch von Romantik in der Stimme, die Worte: „Schwalben bringen Glück!“
Ich fand das so berührend, dass ich sie zur mir drehte, so dass wir uns jetzt direkt gegenüberstanden und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Sie erwiderte ihn und so küssten wir uns lange heiß und innig.
Fast automatisch kam es dann auch zu unserem ersten Geschlechtsverkehr. Wir wollten es beide und es geschah einfach so mit uns, ohne dass wir darüber nachgedacht haben. Nur gut, dass das alte Sofa dort stand, das uns in dem Moment auffing.
Ich empfand das als einen der schönsten Momente in meinem Leben und werde diesen Augenblick nie vergessen. Noch während ich das schreibe, kommen wieder die Emotionen hoch und ich bekomme eine Gänsehaut.
Dieses Sofa leistete uns in der folgenden Zeit beste Dienste, denn ab jetzt waren wir hier fast jeden Sonntag. Nur gut, dass dieses Sitz- und Liegemöbel nicht reden konnte, darüber waren wir uns grinsend einig. Es hätte einiges zu erzählen gehabt.
Meine Schwester bekam das natürlich irgendwie mit. Frauen sind da, so denke ich, ein wenig sensibler als Männer. Sie offenbarte mir, dass sie das mit unserem geheimen Liebesnest geahnt hätte. Seit sie davon wusste, sorgte sie immer dafür, dass niemand in den Stall kam und uns überraschen konnte. So ganz schwierig war das zwar nicht, denn wir trafen uns ja immer am Sonntagnachmittag, und da hielt sich zu dieser Zeit eigentlich sonst niemand im Stall auf. Aber es war gut zu wissen, dass wir eine Schutzpatronin hatten, die es gut mit uns meinte. Sie war so großartig und lieb, meine Schwester, und immer für mich da.
Ich liebe sie sehr und wir verstehen uns bis heute immer noch sehr gut. Unseren Eltern gegenüber hat sie das alles verschwiegen und niemals auch nur etwas verraten.
Erst Ende Oktober spielte ich wieder mit unserer Mannschaft Fußball, ein Heimspiel gegen Vollersode. Ich war gerade im Ballbesitz und befand mich kurz vor dem Elfmeterraum, in der festen Absicht, ein Tor zu erzielen. Meine Chancen standen mehr als gut. Ein Verteidiger der Gegenmannschaft wollte das natürlich verhindern und griff mich an, um mir den Ball abzunehmen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und schlug im Sturz bereits mit den Stollen seines Fußballschuhs gegen mein linkes Knie. Natürlich musste auch ich jetzt zu Boden. Im Fallen bemerkte ich schon den heftigen Schmerz. Als ich Bruchteile einer Sekunde später auf dem Boden lag, sah ich schon das Dilemma. Meine Kniescheibe hing daneben, und aus einer Wunde blutete es heftig. Das Spiel wurde sofort unterbrochen. Alle liefen zu mir und kümmerten sich um mich. Ich war nicht mehr einsatzfähig und musste sofort ins Krankenhaus, um die Verletzung versorgen zu lassen. Mich plagten wahnsinnige Schmerzen. Ich war einer Ohnmacht nah. An Gehen war nicht mehr zu denken. Man trug mich zum Auto unseres Trainers Georg, der mich sofort in das Krankenhaus nach Osterholz-Scharmbeck transportierte.
Die Strecke von Hüttenbusch bis dorthin betrug etwa 12 Kilometer. Mir kam sie wie eine Ewigkeit vor. Ich dachte während der gesamten Fahrt nur: „Sind wir denn immer noch nicht da?“, „Wieso ist das so weit?“, „Warum dauert das so lange?“, „Ich halte es nicht mehr aus!“, „Kann der Trainer denn nicht schneller fahren?“ Solche und ähnliche Gedanken schossen mir durch den Kopf.
Endlich, nach gefühlt wenigstens einer Stunde erreichten wir die Klinik.
Ohne Wartezeit wurde ich dort sofort notfallmäßig behandelt. Es tat sehr weh, als der Arzt die Wunde reinigte und desinfizierte. Am schlimmsten aber war der Moment als der Mediziner die Kniescheibe wieder an ihren richtigen Platz schob und die Wunde vernähte. Ich glaube, ich habe sogar einmal laut geschrien.
Der Doktor verordnete mir absolute Ruhe und attestierte mir für die nächsten zwei Wochen die Arbeitsunfähigkeit. Zum Glück musste ich nicht stationär bleiben. Ich erhielt zwei Gehstützen und humpelte mühselig aus der Klinik.
Die folgende Zeit war total blöd für mich. Auch deshalb, weil ja bald meine Gesellenprüfung anstand.
Ich versuchte sie optimal zu nutzen, um zu lernen und mein Wissen im Fach Mathematik zu erweitern und dabei vor allem die vielen Formeln auswendig zu lernen. Hans war mir dabei eine große Hilfe und unterstützte mich, wo er nur konnte. So glaubte ich irgendwann, einigermaßen fit für die Prüfung zu sein.
Meine Mutter zeigte absolut kein Verständnis für mich und meine Situation. Statt mitzufühlen und mich zu trösten, wie ich es mir eigentlich gewünscht hätte, war sie unzufrieden, schimpfte auf den „Unsinn“ Fußball und zeterte und nörgelte ständig herum.
Sie hätte es ja gleich gewusst und gesagt, dass ich nicht Mitglied eines Fußballvereins werden sollte. Ich hörte Sätze wie: „Sport ist Mord!“ und „Treibe Sport oder bleibe gesund!“, die sie irgendwo aufgeschnappt oder gelesen hatte und jetzt immer wieder bei jeder passenden Gelegenheit anbrachte. Ständig versuchte sie, Vater zu überzeugen und unter Druck zu setzen, dass ich zukünftig kein Fußball mehr spielen und aus dem Verein austrete sollte. Zum Glück sah mein Vater das völlig anders, er fand diesen (Mannschafts-) Sport richtig gut und wichtig für meine Entwicklung. Schließlich war er ja selbst ein begeisterter Fußballfan.
Vater widersprach meiner Mutter und war nicht ihrer Meinung. Zum Glück setzte er sich durch und ich durfte auch weiterhin meinen Lieblingssport, das Fußballspielen ausüben.
Hans besuchte mich oft in Hüttenbusch. Das war für ihn deutlich einfacher, als wenn ich ihn hätte besuchen sollen. Hans war nämlich inzwischen im Besitz eines eigenen Mopeds, mit dem er mobil war und mal eben schnell und problemlos zu mir fahren konnte.
Bei den regelmäßigen Übungen des Posaunenchors jeden Mittwoch in der Kirche trafen wir uns inzwischen nicht mehr, da Hans ja hier ausgetreten war und nun im Posaunenchor von Bornreihe spielte. Hin und wieder waren bei diesen Treffen auch unsere ehemaligen Schulfreunde mit dabei. Dann war es immer sehr lustig. Wir hatten jede Menge Spaß.
Bei einem seiner Besuche verriet mir Hans, dass seine Freundin Helma Schluss mit ihm gemacht hatte. Den Grund dafür konnte er mir aber nicht sagen, da er ihn selbst nicht wusste. Es schien ihn aber auch nicht zu interessieren, denn er war nicht besonders enttäuscht und traurig darüber.
Er lachte nur und meinte völlig unbeeindruckt, öfter mal was Neues wäre auch nicht schlecht. Andere Mütter hätten auch schöne Töchter und hübsche junge Mädchen gäbe es überall so viele. Außerdem hätte er schon in Bornreihe eine außergewöhnliche Schönheit ins Auge gefasst…
In dieser Beziehung war Hans ganz anders als ich. Er nahm solche Erlebnisse einfach so auf die leichte Schulter und kam schnell darüber hinweg. Hans war eher ein „Bruder Leichtfuß“, den nichts so schnell beindrucken konnte. Er steckte alles viel leichter weg als ich. Ich dagegen nahm die Dinge viel ernster, grübelte lange darüber nach, warum etwas so passiert war, was das für Folgen hatte und ob ich das hätte ändern können. Es dauerte bei mir immer sehr lange, bis ich etwas verarbeitet hatte, und ganz vergessen konnte ich sowieso nie.
Aber so ist das eben im Leben, jeder Mensch ist anders. Und so soll es ja auch sein, denn wir sind alle Individuen und es wäre langweilig, wenn jeder gleich „ticken“ würde.
Ein anderes Beispiel dafür war, dass die Eltern von Hans über die bald anstehenden Weihnachtstage gemeinsam mit ihm nach Bayern in den Skiurlaub verreisen wollten. Ach, wie sehr hätte ich mir so etwas auch einmal mit meinem Vater und meiner Mutter gewünscht! Ich hätte mich wahnsinnig über ein solches Angebot gefreut. Doch Hans war von dem Plan seiner Eltern überhaupt nicht begeistert. Er tat alles, was er nur konnte, damit er nicht mitfahren musste.
Mit Hans sprach ich auch darüber, dass ich einmal in Bremen gewesen war und mich bei einer Reederei vorgestellt hatte, weil ich nach meiner Gesellenprüfung weg von zuhause und zur See fahren wollte. Ich berichtete ihm, dass ich mich dort intensiv habe beraten lassen. Sogar Unterlagen und einen Heuervertrag von der „Drei Kronen Reederei“ hatte ich von dort mitbekommen. Den hatte ich bis jetzt vor meinen Eltern versteckt. Sie wussten absolut nichts davon. Wir unterhielten uns darüber, dass ich fest entschlossen war, im nächsten Jahr nach der Lehre im April dort als Elektro-Assistent auf großer Fahrt anheuern zu wollen. Doch Hans war der festen Meinung, dass meine Eltern den Vertrag nicht unterschreiben würden. Aber ich glaubte fest daran, ja, ich war sogar überzeugt davon, dass sie zustimmen würden, weil ich unbedingt von hier wegwollte! Diesen Wunsch hatte ich bereits erstmals im Kopf gehabt als ich 10 Jahre alt geworden bin.
Ich wollte einfach weg von Zuhause! Ich wollte endlich meine schreckliche Kindheit mit Gewalt, Misshandlungen, Ungerechtigkeiten und Lieblosigkeit verarbeiten und vergessen können! Ich wollte Freiheit, Ablenkung und Selbstständigkeit und nicht mehr an mein altes Leben denken müssen und erinnert werden. Das war mein fester Wille!
Etwas aber gab es doch, was mich dabei bedrückte. Nämlich, ein Problem, was mir schon ziemlich schwer zu schaffen machte. Ich würde meine beiden Schwestern Erika und Anni lange Zeit nicht sehen können. Ich liebte die beiden sehr und würde das schlecht aushalten können so ganz ohne sie.
Natürlich wusste von meinen Gedanken und Über-legungen niemand – außer jetzt Hans.
Im Posaunenchor begannen wir mit steigender Intensität die ersten Weihnachtslieder fleißig zu üben. Daran konnte ich mich stets – auch schon zu dieser Jahreszeit – erfreuen. Obwohl ich der jüngste Spieler im Chor war, habe ich mich immer mit allen, auch den viel älteren Mitgliedern der Gruppe, gern und viel unterhalten. Dort war ich anerkannt und wurde von allen für voll genommen. Der Älteste von uns war inzwischen schon über siebzig Jahre alt. Er spielte die Tuba und hatte mir oft über das Teufelsmoor erzählt und viel aus seiner eigenen Kindheit geplaudert. Er musste auch schon als Kind auf dem elterlichen Hof mitarbeiten und wurde wie ich häufig geschlagen. Ziemlich gelassen hätte er das gesehen, berichtete er mir. Das sei früher oft auf den Bauernhöfen so gewesen, dass die Kinder kräftig mitarbeiten mussten. Es gab viel zu tun, man hatte nur wenig Geld zur Verfügung, konnte sich nicht viel leisten und musste ja trotzdem irgendwie klarkommen. Das sei damals eine andere Zeit gewesen als heute.
Nun war also bald Weihnachten. Wir schrieben das Jahr 1962. Zum ersten Mal durfte ich bei der Beschaffung eines Weihnachtsbaumes mit dabei sein. Mein Vater ging mit mir in den Wald und ich suchte gemeinsam mit ihm einen schönen Baum aus, der zu uns in die Wohnung gestellt werden und unseren diesjährigen Weihnachtsbaum darstellen sollte. Der Bauer, dem der Wald gehörte, kennzeichnete ihn anschließend durch eine Markierung an der Baumrinde für uns, so dass niemand anders mehr Zugriff darauf haben konnte. Der Baum war nun für uns reserviert.
Eine Woche vor Weihnachten würde der Bauer dann den Baum fällen und ihn uns nach Hause anliefern.
Auf das Schmücken des Baumes war ich sehr gespannt und entwickelte darauf schon eine große Vorfreude. Seit zwei Jahren durfte ich nun schon bei dieser Schmuckzeremonie, denn das war sie in jedem Jahr, eine Zeremonie, aktiv mithelfen und gestalten.
Nach wie vor besuchte ich immer noch sehr gern die Kirche und die Gottesdienste eng verwurzelt mit meinem tiefen Glauben an den allmächtigen Gott.
Deshalb war ich darüber begeistert als der Pastor mich fragte, ob ich nicht mit dabei helfen wollte, den großen Tannenbaum in der Gemeinde, der vor der Kirche stand, gemeinsam mit einigen anderen Aktiven zu schmücken und kreativ zu gestalten. Das war für mich eine große Ehre.
Diese Herausforderung nahm ich doch gern an. Ich war sehr erfreut darüber und gab mir die größte Mühe dabei. Den Pastor mochte ich sowieso. Vielleicht hatte er das auch bemerkt und mir deshalb das Angebot gemacht. Ich unterhielt mich häufig mit ihm und verriet ihm auch vieles aus meinem Leben und Denken, was ich sonst noch niemanden erzählt hatte. Er hörte mir immer gut zu, war sehr einfühlsam und hatte großes Verständnis für mich. Dementsprechend wusste er natürlich auch eine Menge über mich. Aber er behielt das stets für sich – auch ein Grund, warum ich ihn so mochte.
Ihm war bekannt, dass ich mich nicht geliebt fühlte und von meinen Eltern sehr streng, lieblos und ungerecht behandelt wurde. Häufig griff er dann zur Bibel, schlug sie auf und tröstete mich mit Versen aus diesem Buch. Er meinte, dass meine Eltern in ihrer Kindheit auch keine Liebe erhalten hätten und sie somit gar nicht in der Lage wären, Liebe zu geben. Das habe ich schon irgendwie verstanden, konnte das aber nicht nachempfinden oder gar nachvollziehen. Ich hatte daraus gelernt und war mir sicher, dass ich mit meinen Kindern nicht so umgehen würde. Viele von diesen Fehlern wollte ich nicht begehen. Warum hatten denn dann meine Eltern nicht aus ihrer eigenen Jugend mit ihren eigenen schlechten Erfahrungen das auch gelernt, mitgenommen und auf ihre Kinder angewendet? Das war es, was ich überhaupt nicht verstand.
Endlich war er da, der ersehnte Heilige Abend, der 24. Dezember.
Alle Vorbereitungen waren rechtzeitig abgeschlossen, überall glänzte und leuchtete es. Die Weihnachtsbäume mit dem Schmuck strahlten mit den Kerzen um die Wette. Alles war so ruhig und friedlich. Ich liebte diese Stimmung und Atmosphäre, und in mir kamen die ersten weihnachtlichen Gefühle auf.
Vor der Bescherung musste ich noch um 18 Uhr in die Kirche, denn der Posaunenchor spielte zur Christandacht. Auch am ersten und zweiten Weihnachtstag würden wir wieder zu den Weihnachtsgottesdiensten aufspielen.
Nachdem die Christmesse am Heiligabend zu Ende gegangen war, beeilte ich mich, möglichst schnell aus der Kirche zurück nach Hause zu kommen. Dort gab es zuerst ein schönes Abendessen mit der Familie. Ich hatte wie immer einen guten Appetit und langte kräftig zu. Obwohl ich immer gut essen konnte, war ich eigentlich von meiner Statur her ziemlich schlank – vielleicht auch durch den vielen Sport, den ich machte und durch die schwere körperliche Arbeit, die zu meinen täglichen Aufgaben gehörte.
Zur Bescherung verließen wir dann die Küche, die auch gleichzeitig unser Esszimmer war. Wir wechselten in die gute Stube, in unser Wohnzimmer.
Unter dem Weihnachtsbaum lag für mich eine Brieftasche und eine Geldbörse. Die Brieftasche sah sehr edel aus und roch gut. Sie war aus echtem Leder hergestellt. Damit hatte man mir eine große Freude bereitet, denn eine neue Geldbörse benötigte ich dringend. Meine bisherige wies schon einen seitlichen Riss auf und würde wohl nicht mehr lange halten und verwendet werden können. Schon jetzt fielen manchmal kleine Münzen heraus, wenn ich nicht vorsichtig genug war. Das würde auf Dauer immer problematischer werden. So war jetzt auch zumindest dieses Problem gelöst.
Ein großer Weihnachtsteller mit herrlichen Süßigkeiten stand ebenfalls daneben. Er war zwar herrlich anzusehen und duftete nach allem Möglichen, aber ich machte mir nicht allzu viel aus dem Süßkram. Trotzdem freute ich mich darüber. Es würde wohl einige Zeit vergehen, bevor dieser Teller geleert sein würde.
Am 1. Weihnachtstag wurde ich schon wieder um 9 Uhr in der Kirche erwartet, weil um 10 Uhr der Gottesdienst begann und ich zwischendurch mit der Posaune aufspielen musste.
Besonders freudig gespannt war ich, weil ich wusste, dass meine Freundin Renate auch kommen und den Gottesdienst besuchen wollte.
Da der Posaunenchor oben auf der Empore seinen Stammplatz hatte, hatte ich von dort eine gute Übersicht und konnte alles gut beobachten. Ich übersah das gesamte Kirchenschiff und konnte jeden Besucher ziemlich genau erkennen.
Ein paar Minuten vor zehn Uhr entdeckte ich Renate, wie sie gerade in einer der vielen Kirchenbänke Platz nahm. Ich hatte die große Ehre, vor Beginn des eigentlichen Gottesdienstes als Solist den Titel „Großer Gott, wir loben Dich…“ auf der Posaune spielen zu dürfen, um die Gemeinde in Stimmung zu bringen. Das war etwas ganz Besonderes, das nur wenigen Musikern zugestanden wurde. Ich mochte nicht nur dieses Lied, sondern auch der Text gefiel mir sehr gut. Natürlich war ich ein wenig aufgeregt, und konzentrierte mich voll auf das Spielen. Schließlich entschied ich durch meine Leistung selbst über Erfolg oder Misserfolg. Völlig allein stand ich vorn am Rand der Empore, sämtliche Besucher schauten auf mich. Bloß keinen Fehler machen und mich nicht blamieren! Beim Einüben dieses Stücks hatte ich große Probleme mit dem hohen Ton gehabt. Zum Glück lief aber alles prima, mir war kein einziger Patzer trotz der Nervosität passiert. Natürlich war ich im Anschluss sehr stolz auf mich. Ich hatte mir die größte Mühe gegeben und wollte ja zeigen was ich konnte – besonders auch, weil Renate dabei anwesend war.
Nach Ende des Gottesdienstes traf ich mich mit Renate vor der Kirche. Ich glaubte schon, dass sie auch ein wenig stolz auf mich war. Leider konnten wir uns an den Weihnachtsfeiertagen gar nicht treffen, weil meine Freundin zu Hause mit ihren Verwandten zusammen das Weihnachtsfest feiern musste.
Auch mit meinem Freund Hans, der ja schon wieder in Bornreihe eine neue Freundin an seiner Seite hatte, traf ich mich leider nur noch sehr selten. Wir sahen uns fast nur noch zum Unterricht in der Berufsschule und waren beide über diese Situation nicht gerade begeistert. Außerdem hatte die Freundin von Hans einen eigenen anderen Freundeskreis in Bornreihe, mit dem sich beide lieber trafen als mit mir.
Nach Weihnachten sah ich Renate wieder regelmäßig. Meist besuchten wir gemeinsam den Rock ‘n´ Roll-Tanznachmittag.
So verging die Zeit weiter und die Gesellenprüfung rückte immer näher. Ich hatte ein wenig Bammel davor, weil ich so einiges an Unterrichtsstoff aus der Berufsschule nicht aufgearbeitet hatte. So hatte ich etwas Stress und stand unter Druck, weil ich jetzt täglich nach Feierabend die Fachbücher durchlesen musste, um die Themen alle in meinen Kopf zu bekommen und zumindest bis zur Prüfung nicht mehr zu vergessen.
Im März 1963 war es dann soweit. Als Gesellenstück musste ich einen Schaltschrank mittlerer Größe bestücken und installieren. Die Arbeiten dafür führte ich in der Werkstatt meines Lehrherrn durch, denn dort standen mir alle Materialien und Werkzeuge, die ich dafür benötigte, zur Verfügung. Den Schaltplan hatte ich schon im Vorfeld nach Angaben und Zweck gezeichnet, und ich war überzeugt davon, dass alles auch so am Ende funktionieren würde. Mein Meister Held schaute sich mein Werk zwischendurch immer mal wieder genau an. Aber er hatte nichts dazu gesagt und geschwiegen. Aus seiner Miene konnte ich ebenfalls nichts erkennen. Das war eine zusätzliche Belastung. Aber ich ließ mich nicht verunsichern. Helfen durfte er nicht und als Innungsmeister war er Vorbild und hielt sich strikt an das Verbot, obwohl ich schon ein paar Tipps von ihm gut hätte brauchen können.
Mitte März kam dann die Prüfungskommission zu uns in die Werkstatt. Zu meiner eigenen Verwunderung war ich überhaupt nicht aufgeregt. Ich musste ihnen nun mein Werk in der Praxis vorführen. Glücklicherweise funktionierte alles – auch in den verschiedensten Funktionen. Es war alles optimal gelaufen. Kein Fehler trat während der Überprüfung auf. Nach der Prüfungsabnahme haben sich die Mitglieder der Kommission ins Meisterbüro zur Beratung und Entscheidung zurückgezogen, so dass ich davon nichts mitbekam. Ich musste zurückbleiben und warten. Das machte mich aber nicht weiter nervös, denn da alles funktioniert hatte, war ich eigentlich sehr zuversichtlich, dass ich kein allzu schlechtes Ergebnis erhalten würde. Nach kurzer Zeit öffnete sich wieder die Tür und die Herren kehrten zu mir zurück. Ihre Gesichter wirkten auf mich entspannt und sie teilten mir erwartungsgemäß mit, dass ich die praktische Prüfung bestanden hätte. Ich wäre mit der Note „gut“ beurteilt worden. Natürlich freute ich mich riesig darüber, aber ich war ja noch nicht mit allen Teilen fertig. Es war ja nur der erste Abschnitt der Gesellenprüfung, der für mich wesentlich schwierigere stand mir ja noch bevor.
Direkt nach der praktischen Prüfung machte ich mich auf den Weg in die Berufsschule. Dort absolvierten die anderen angehenden Gesellen ihre praktische Prüfung. Natürlich war auch mein Freund Hans mit dabei. Weil ich beim Innungsmeister lernte, hatte ich den großen Vorteil, die Prüfung in der heimischen Werkstatt ablegen zu dürfen. Alle anderen mussten dies in der Schule tun.
Ich wartete so lange in der Cafeteria der Schule. Nach einiger Zeit erschien Hans in der Mensa und strahlte über das ganze Gesicht. Sein Kopf war ganz rot und man sah ihm seine Aufregung an. Mit stolzer und fester Stimme schrie er begeistert aus sich raus: „Ich habe bestanden. Nicht nur das, sondern meine Leistung wurde mit „gut“ bewertet! Ich bin so erleichtert und glücklich!“ Spontan umarmten wir uns voller Freude.
Entspannt und gut gelaunt machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof, um zurück nach Hause zu fahren.
Unterwegs meinte Hans zu mir: „Du, Helmut, das ist doch supertoll, dass wir die Prüfung so gut geschafft haben und beide mit einer “Zwei“ unsere Gesellenprüfung abschließen konnten! Das muss doch einfach gefeiert werden! Heute ist ein Freudentag, komm lass uns doch darauf einen trinken gehen!“. Ich fand die Idee nicht schlecht und er brauchte mich nicht lange zu überreden. Ich stimmte sofort zu.
So kehrten wir in die Bahnhofsgaststätte ein und suchten uns einen freien Tisch. Hans bestellte beim Wirt zwei Bier und zwei Korn. Es konnte gar nicht schnell genug gehen und als der Wirt uns die Bestellung brachte, stießen wir sofort an.
Ruckzuck war alles leer.
Nun war ich an der Reihe und bestellte das Gleiche noch einmal. Wieder dauerte es nicht lange, und die Gläser waren erneut geleert. So ging das viele Male hin und her. Wir erzählten uns Erlebnisse aus früheren Zeiten und lachten viel dabei. Unsere Stimmen wurden lauter und lauter. Wir hatten immer mehr Spaß. Allerdings wurden unsere Gespräche immer undeutlicher und unverständlicher. Natürlich nur für Außenstehende, denn untereinander verstanden wir uns schon. Trotzdem tranken wir weiter.
Langsam bemerkte ich, dass die Umgebung immer mehr verschwamm. Was war denn bloß los? Hatte ich jetzt auch noch ein Problem mit den Augen?
Wenn der Wirt etwas sagte, hatte ich große Probleme, ihn zu verstehen. Alle Worte von ihm klangen undeutlich wie aus weiter Ferne. Der sollte doch mal lauter und deutlicher reden!
In meinem Kopf begann sich alles zu drehen, und mir wurde übel. Alles wirkte so unnatürlich, schemenhaft und so unrealistisch. Ich konnte nicht mal mehr die Theke richtig erkennen.
War ich plötzlich krank geworden?
Ich wollte nun nach Hause gehen, weil ich mir wohl einen Virus eingefangen hatte.
Aber Hans meinte: „Ach komm, einer geht noch!“
Nach dem letzten Absacker machten wir uns dann auf den Heimweg.
Hans war im selben Zustand wie ich und uns wurde so langsam klar, dass wir völlig betrunken waren.
So torkelten wir dann gemeinsam aus der Gaststätte zum Bahngleis und stützen uns dabei gegenseitig.
Irgendwie schafften wir es zum Gleis 2, von dem der Zug, der uns zurück nach Hause bringen sollte, abfahren sollte. Später konnte ich mich nicht mal mehr daran erinnern, wie wir überhaupt dorthin gekommen waren.
Der Zug kam allerdings erst in einer halben Stunde, bis dahin mussten wir noch warten. Hans hatte zufällig noch zwei dicke Zigarren dabei, die wir während der Wartezeit pafften. Das trug nicht zu unserem Wohlbefinden bei, sondern uns wurde noch schlechter. Vielleicht waren die Zigarren auch nicht mehr in Ordnung gewesen, so mutmaßten wir.
Langsam wurden wir durch die frische Luft wieder etwas klarer, und uns überkam ein schlechtes Gewissen. Es war nun eindeutig, dass wir viel zu viel getrunken hatten. Das würde zu Hause wieder großen Ärger geben!
Unser Zug lief in den Bahnhof ein und wir versuchten angestrengt, in einen der Waggons einzusteigen. Das war gar nicht so einfach und wir brauchten mehrere Versuche, bis wir eher schlecht als recht umständlich und ungeschickt in den Zug kletterten. Nur gut, dass es da einige Stangen gab, an denen wir uns festhalten konnten. Der Zug musste wegen uns ein wenig länger stehen, weil der ganze Einstiegsprozess nicht so schnell abgeschlossen war wie bei den anderen Fahrgästen.
In Hüttenbusch gelang es mir, den Ausstieg rechtzeitig zu finden. Glücklicherweise habe ich die Stufe mit meinen Füßen auf Anhieb getroffen und bin nicht einfach hinausgefallen. Die Mitreisenden hatten uns während der Fahrt ständig so merkwürdig bedauernd von der Seite angeschaut. Aber angesprochen und Hilfe angeboten hatte uns niemand, obwohl es uns doch so schlecht ging.
In Hüttenbusch war mein erster Weg erneut in die Bahnhofsgaststätte, die es damals ja noch in nahezu jedem Bahnhof gab. Nein, ich wollte nicht weiter Alkohol trinken, sondern war der irrigen Meinung, durch einen Kaffee könnte ich die Folgen meines Zustands etwas verschleiern, so dass meine Eltern nicht sofort spitzbekommen würden, was ich getan hatte. Ich trank zwei Tassen von diesem Gebräu. Es schmeckte mir nicht, aber da musste ich jetzt durch! Ich wusste ja, warum ich das auf mich nahm.
Mein Rausch minderte sich allerdings dadurch absolut nicht. Jetzt war mir durch den ungeliebten Kaffee auch noch schlecht!
Was konnte ich bloß noch tun?
Als nächstes versuchte ich einen Umweg zu machen und lief etwa eine Stunde über einen abgelegenen Feldweg nach Hause. Doch auch die Bewegung in frischer Luft verbesserte meine Situation nicht.
Ich hatte ein ungutes Gefühl. Klar, dass meine Eltern sofort bemerkten, dass ich völlig betrunken war. Zuerst schlug meine Mutter mich, ohne dass sie vorher ein Wort zu mir gesagt hätte. Ihr Gesicht wirkte äußerst angespannt. Es schien mir fast, als hätte sie sich große Sorgen gemacht.
Danach zog mein Vater seinen Gürtel aus der Hose und prügelte gnadenlos damit auf mich ein. Eine derartige Reaktion in dieser extremen Ausprägung hatte ich nicht erwartet.
Mir war klar, dass sie schimpfen würden und ich mit Sanktionen zu rechnen hatte, aber dass es so schlimm werden würde …!
Niemand fragte nach dem Ergebnis meiner Prüfung, das schien in diesem Moment weder Mutter noch Vater zu interessieren. Und ich war doch so stolz darauf!
Nachdem meine Eltern ihre Wut auf mich herausgeprügelt hatten, verzog ich mich, wie immer in solchen Situationen, in den Stall. Dort konnte ich meinem Schmerz und meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Ich weinte über längere Zeit bitterlich. Mein Rausch war scheinbar plötzlich wie verflogen, und ich fühlte mich einfach nur noch elend.
Ob Hans wohl auch von seinen Eltern geschlagen wurde als er nach Hause kam? Er erhielt von seinem Vater eigentlich höchst selten mal Prügel. Seine Mutter maßregelte ihn körperlich niemals, denn sie liebte ihren Sohn sehr innig. Zwar schimpfte sie hin und wieder mal mit und über ihn, aber geschlagen hatte sie ihn niemals.
Mir war schon klar, dass sich meine Eltern viele Gedanken und große Sorgen um mich machten, weil ich so viel Alkohol zu mir nahm und öfter mal angetrunken nach Hause kam. Aber ich war anderer Meinung und mir sicher, dass es bei mir mit dem Alkohol kein Problem gab und ich mich diesbezüglich voll im Griff hatte. Das bisschen, was ich hin und wieder trank, konnte doch keine Abhängigkeit auslösen! Natürlich machte ich mir über die Mengen und die Häufigkeit des Trinkens keine weiteren Gedanken. Schließlich trank ich ja nur ein paar Mal in der Woche nach Feierabend, vielleicht noch nach dem Sport und zu besonderen Anlässen. Aber doch nicht täglich! Trotzdem verboten meine Eltern mir den weiteren Genuss von Alkohol, was für mich nur schwer, bis gar nicht zu verstehen war.
Bei meinen Brüdern Heinz und Hermann war das völlig anders. Sie tranken häufiger und immer große Mengen, so dass sie wirklich oft richtig betrunken waren. Das fiel mir schon seit längerer Zeit auf. Deshalb konnte man sich auch nicht immer gut mit ihnen unterhalten. Ich hörte immer wieder mit, wie sich meine Eltern darüber unterhielten. Sie überlegten, wie es zu der Alkoholabhängigkeit der beiden gekommen sein könnte. Sie konnten sich das nicht erklären, und waren sehr verzweifelt darüber. Mein Opa und meine Oma aus Adolfsdorf, also die Eltern bzw. Schwiegereltern meiner Eltern, lehnten beide Alkohol ab. Auch aus der Verwandtschaftslinie meiner Mutter trank niemand. Es gab auch niemanden, der ihnen ein schlechtes Vorbild gab. So viel sie auch überlegten, sie kamen zu keinem Resultat. Mutter und Vater waren sich einig, dass ihre beiden Söhne abhängig und schwer alkoholkrank waren und in eine Trinkerheilanstalt (so hieß das früher) gehörten, wo man sich um ihren Alkoholabusus kümmern würde.
Meine Brüder aber lehnten das völlig uneinsichtig ab und behaupteten, nicht abhängig zu sein. Sie würden nur ganz gern mal einen trinken, das sei doch ganz normal und nicht weiter schlimm!
Ich machte mir darüber keine Gedanken. Zwar trank ich auch öfter mal ein paar Bier, aber das hielt sich, so war ich der der festen Meinung, in Grenzen, und ich konnte das kontrollieren.
Zu meinen beiden Brüdern hatte ich, wie bereits gesagt, nur wenig Kontakt. Die Beziehung war eher locker und oberflächlich, wahrscheinlich auch, weil sie viel älter waren als ich, und ich die Verbundenheit zu ihnen nicht so fühlte wie zu meinen beiden Schwestern Erika und Anni. Zu den letzteren empfand ich eine tiefe Geschwisterliebe.
Am kommenden Sonntagvormittag war ich wieder mal vom Trainer für ein Fußballheimspiel in Hüttenbusch aufgestellt worden. Wir spielten gegen die starke Mannschaft von Worpswede und verloren dieses Match leider mit 3:1 Toren.
Nach dem Spiel und dem anschließenden Duschen trafen wir uns wie üblich wieder in unserer Stammbahnhofsgaststätte und tranken in der Runde erneut Bier aus Stiefeln zur allgemeinen Unterhaltung
Plötzlich und unerwartet stand mein Vater wie aus dem Nichts hinter mir. Richtig erschrocken hatte ich mich. Er forderte mich auf, sofort meine Zeche zu bezahlen und mit ihm zurück nach Hause zu gehen. Ich wollte das zwar eigentlich nicht, aber als ich sein ernstes und bestimmendes Gesicht sah, fügte ich mich seinen Anweisungen und wir verließen gemeinsam das Lokal. Mir war das vor allen meinen Sportfreunden und den anderen Gästen sehr unangenehm, so bevormundet und brüskiert zu werden. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Aber der öffnete sich leider nicht.
Auf dem Heimweg machte er mir Vorhaltungen, weil ich wieder zum Bier gegriffen habe, obwohl er mir das ausdrücklich verboten hatte. Eigentlich erwartete ich, wieder geschlagen zu werden, doch glücklicherweise blieben Schläge diesmal aus.
Inzwischen hatte ich alle zu absolvierenden Gesellenprüfungen erfolgreich geschafft und war nun fertiger Elektrikergeselle. Nun wollte ich endlich auch einmal richtig Geld verdienen und versuchte, eine gut bezahlte neue Arbeitsstelle zu finden. Der Lehrvertrag galt ja nur bis zum Bestehen der Prüfung. Danach stand ich im Grunde genommen auf der Straße. Zum Glück hatte ich mich vorher schon in Bremen um einen Anschlussarbeitsplatz gekümmert und die Zusage erhalten, dass ich zum nächsten Ersten im neuen Monat dort anfangen konnte.
Klar wäre ich jetzt gern zur See gefahren, aber mein Freund Hans hatte mit seiner Prognose recht behalten, dass meine Eltern den ihnen bisher vorenthaltenen Heuervertrag nicht unterschreiben wollten.
So hatte ich keine Chance, als Seemann auf große Fahrt gehen zu dürfen. Als ich meinen Eltern das Papier vorlegte, und ich sie mit meinen Plänen konfrontierte, wurden sie ziemlich böse und lehnten mein Ansinnen ohne „Wenn und Aber“ sofort rigoros ab. Sie diskutierten nicht einmal mit mir darüber und zerrissen einfach den Vertrag in tausend Teile. Damit war mein Traum beendet und wer weiß, wie mein Leben als Seemann dann weiter verlaufen wäre?