Читать книгу Mein Lebensweg vom Saulus zum Paulus - Helmut Feldmann - Страница 9
ОглавлениеEine Kindheit voller Arbeit, aber (fast) ohne Liebe
Ich bekam nun nach und nach immer mehr Aufgaben von meinen Eltern zugeteilt und musste bereits in voller Verantwortung kräftig auf unserem Hof mitarbeiten.
Bisher hatte ich zwar immer schon einige Tätigkeiten erledigen müssen, aber das war bis jetzt immer noch gut zu bewältigen gewesen. Zumindest hatte ich diese Arbeiten bisher noch nicht als so schlimm empfunden.
Ein bisschen Futter sammeln für die Kaninchen, fiel mir als Kind nicht so schwer, zumal es mir Freude machte, zusehen zu können, wie die Tiere genussvoll ihr frisches Grün, den Löwenzahn und knackige Möhrchen mümmelten und sich sichtlich wohl dabei fühlten.
Besonders „Langohr“ hatte es mir angetan. Ich liebte dieses Kaninchen, das ich so genannt hatte, weil es besonders lange Ohren besaß und wunderschön war. Es hatte ein schneeweißes Fell mit schwarzen Punkten darauf. Sein Fell war so weich und kuschelig. Mit ihm konnte ich sogar gelegentlich schmusen, so zutraulich war es.
Ich kann mich aber auch noch an eine ganz schreckliche Situation erinnern, die dazu führte, dass ich bis heute kein Kaninchenfleisch mehr zu mir nehmen kann.
Nur sonntags gab es bei uns Fleisch. Eines Sonntags kam ich wie immer zum Mittagessen in die große Küche. Das Essen mit Kartoffeln, Soße, Gemüse, Fleisch und einen Pudding zum Nachtisch war bereits fertig und stand auf dem Tisch.
Es gab Kaninchen, wie schon öfter. Das war auch grundsätzlich kein Problem für mich. Während des Essens erzählte Mutter mir dann ganz beiläufig, dass das Kaninchen, was ich da gerade verspeisen würde, mein geliebtes „Langohr“ war. Mir blieb darauf der Bissen im Hals stecken. Ich war so schockiert, dass ich alles habe fallen und stehen lassen und sofort zum Stall gerannt bin. Tatsächlich, mein geliebtes „Langohr“ war verschwunden. Ich war sehr traurig und gleichzeitig unglaublich wütend auf Mutter. Anschließend konnte ich nichts mehr essen - selbst nicht mehr den leckeren Pudding.
Meinen Eltern war ich sehr böse, dass sie mir das angetan hatten. Ich war mit dem Tier so verbunden gewesen, dass ich lange Zeit brauchte, um darüber hinwegzukommen.
Zukünftig waren nun aber erstmal weitere regelmäßige und schwere Arbeiten für mich angesagt – und das im Alter von 6 Jahren!
Zwischendurch tauchte dann auch immer wieder unregelmäßig meine Oma auf, die weiterhin noch ständig mit dem „schwarzen“ Mann drohte, wenn sie das, was ich tat, nicht in Ordnung fand und verhindern wollte. Wirklich lieben konnte ich sie nicht, aber ich respektierte sie, wenn es mir auch manchmal schwerfiel, und ich große Angst vor ihr hatte. Neben den Drohungen schlug sie mich auch hin und wieder mal. Sie war mir irgendwie unheimlich, und es kam jedes Mal Erleichterung in mir auf, wenn sie sich endlich wieder auf ihr klappriges Fahrrad setzte und uns verließ, um zurück nach Hause zu strampeln.
Wenn die Schule aus war, war es nun meist meine Aufgabe, mich um unsere Kühe zu kümmern, sie zu hüten und auf sie zu achten. Eine langweilige und stumpfsinnige Verpflichtung, die ich bei Wind und Wetter zu leisten hatte. Für Hausaufgaben hatte ich somit keine Zeit, die wurden dann abends nach der Arbeit noch eben schnell nebenbei erledigt. Klar, dass die nicht immer ganz in Ordnung und vollständig waren.
Oft hatte ich keine Lust auf das Kühe hüten. Lieber wollte ich mit meinen Freunden Christa und Herbert und den anderen Kindern toben und spielen.
Manchmal hatte ich die Nase so voll und wollte einfach nicht mehr auf diese blökenden und nervigen Rinder aufpassen, dass ich einfach meine Pflicht habe Pflicht sein lassen und verschwunden bin. Ich überließ leichtsinnigerweise die Tiere sich selbst. Zum Glück ist nie etwas passiert.
Der Drang in mir, mal etwas anderes tun zu wollen als andauernd stumpfsinnig bei den langweiligen Viechern herumzusitzen, war so groß, dass mir das Zusammensein mit meinen Freunden viel wichtiger war als mein Auftrag, die Kühe zu hüten.
Manchmal hatte ich Glück und meine Nachlässigkeit wurde gar nicht bemerkt. Wenn ich mit meinen Freunden verbotenerweise zusammen war, vergaß ich meist die Zeit, denn sie verging dann wie im Fluge. Irgendwann kam mein schlechtes Gewissen wieder zum Vorschein, und dann kehrte ich reumütig wieder zu den Tieren zurück.
Doch häufig war es ein riesiger Fehler gewesen, meinen Platz zu verlassen. Meist bemerkte meine Mutter mein Vergehen zuerst, weil sie früh von der Arbeit kam.
Die Konsequenzen folgten auf dem Fuß. Vorwürfe und Drohungen, die ich erhielt, waren noch das Harmloseste.
Ich bekam kräftige Schläge mit der Hand von meiner Mutter, wenn ich dann nach Hause kam. Geweint habe ich in diesen Momenten nie. Das tat ich erst später heimlich in der Scheune, wenn ich allein war. Dann konnte ich meine Tränen laufen lassen, mir meine Wunden voller Wut und Schmerz ansehen und mich langsam beruhigen.
Mutter geriet immer wieder beim Schlagen so in Rage, dass ihr die Hände zum Prügeln nicht mehr ausreichten. An der Wand im Kuhstall hingen die Stricke, die den Kühen um den Hals gelegt wurden, um sie zu führen. Sie waren wie eine Schlinge geformt und als Verbindung zwischen den beiden Enden diente ein Stock. Diese riss sie in ihrer Wut von der Wand und schlug damit auf mich ein. Ihr Ziel war mein Rücken und meine Beine. Natürlich versuchte ich mich zu schützen und den Schlägen auszuweichen, indem ich mich wegduckte. Aber dann trafen die Prügel ihr Ziel nicht mehr, und es gab auch schon mal ein paar Hiebe auf den Kopf. Noch tagelang danach waren rote Striemen auf meinem Körper zu sehen, die kräftig brannten.
Mein Vater konnte es noch besser, so dass ich vor ihm große Angst hatte, wenn er ärgerlich auf mich war. Oft zog er dann den Gürtel aus seiner Hose und verprügelte mich gnadenlos mit dem Riemen. Ich muss zugeben, dass ich insgeheim hoffte, dass er seine Hose dabei verlieren und sie ihm runterrutschen würde. Das wäre nämlich ein Grund gewesen, mit dem Schlagen kurz aufzuhören, um sie wieder hochzuziehen. Diese kurze Zeitspanne hätte ich dann vielleicht zur Flucht nutzen können. Aber leider hielt sie immer auch ohne Gürtel und blieb oben. In seinem Zorn war es ihm dabei sichtlich egal, ob er mein Gesicht traf oder nicht.
Gemeinsam mit meiner Schwester Erika hatten wir beide auch nach der Schule unser Vieh zu versorgen. Wir mussten es füttern, und Erika musste sogar die Kühe melken.
Ich war unter anderem nicht nur für das Füttern zuständig, sondern auch verantwortlich dafür, dass immer ausreichend Grünfutter und Futterrüben vorhanden waren.
Dafür musste ich raus auf unsere Wiese und mit der Sense das Gras mähen. Für einen kleinen Jungen eine nicht ganz ungefährliche Arbeit. Besonders beim Schärfen mit dem Dengel musste ich aufpassen, da man sich leicht dabei verletzen konnte. In der Regel befand sich niemand in der Nähe, der mir hätte im Notfall helfen können. Aber darum kümmerte sich damals niemand.
Mit der Schubkarre fuhr ich die Rüben in den Stall, die ich vorher aus dem Boden gezogen hatte. Sie wurden dann in den Häcksler gekippt, und so zerkleinert, dass ich sie an die Tiere verfüttern konnte. Der funktionierte damals natürlich ohne Strom und musste von mir mit der Hand durch Drehen einer Kurbel mühselig angetrieben werden
Ich musste auch hier gut aufpassen, dass man nicht mit den Händen, Haaren oder sonst irgendwie in das Häckselwerk geriet. Auch hier wäre niemand da gewesen, der mir hätte helfen können.
Die Arbeiten fielen mir als kleines Kind besonders schwer. Manchmal füllte ich die Schubkarre nur zur Hälfte, damit ich sie überhaupt bewegen konnte. Dafür musste ich aber dann alles zweimal machen, um auf dieselbe Menge zu kommen.
Weiterhin gehörte es einmal in der Woche jeden Mittwoch zu meinen Aufgaben, unseren Hühnerstall auszumisten. Eine Arbeit, die mich anwiderte und die ich als ekelig empfand. Ich wünschte mir in Gedanken, dass direkt auf den Dienstag der Donnerstag folgen sollte, damit ich mich vor dieser unangenehmen Tätigkeit drücken konnte. Das Tragen von Gummistiefeln war dabei unbedingt erforderlich, weil man sonst mit den Schuhen im Mist versank, dieser über deren Rand in die Schuhe schwappte und fürchterlich stank. Aber auch die Stiefel mussten anschließend wieder mühevoll von Hand gereinigt werden. Fließend Wasser gab es nicht. Also musste frisches Wasser anstrengend mit einem Eimer vorher aus dem Brunnen gezogen werden, um damit die Stiefel kräftig abzuwischen.
Natürlich musste ich mich auch weiterhin wie schon seit langer Zeit um unsere 10 Kaninchen kümmern, sie mit Futter versorgen und auch deren Ställe reinigen.
Ich war über meine vielen Pflichten sehr unglücklich und unzufrieden. Meine Kindheit wurde mir genommen!
Die anderen Schulkinder, selbst wenn es Bauernkinder waren, brauchten nicht auf dem Hof mitzuhelfen. Sie hatten Freizeit und konnten miteinander spielen und die Welt entdecken. Ich bedauerte mich selbst und ärgerte mich immer mehr über meine Situation.
So entstand nach und nach das Gefühl von Neid und Eifersucht auf alle, die es besser hatten als ich. Ich fühlte mich wertlos und immer mehr von den anderen ausgeschlossen und an den Rand gedrängt.
Daraus hatte sich dann Frust und eine gewisse Bockigkeit entwickelt, die, je älter ich wurde, immer öfter dazu führte, dass ich die mir zugeteilte Arbeit nicht erledigte, sondern lieber Dinge tat, die mir mehr Freude machten.
Der Fluss Hamme durchzog ganz in der Nähe die Wiesen und Felder und verführte mich bei schönem Wetter dazu, darin zu schwimmen.
Wenn es nicht ganz so heiß war, dann ging ich auch schon mal zum Angeln zum Fluss. Das machte mir großen Spaß. Die Angel hatte ich mir selbst aus einem passenden Stock gebaut. Die Schnur und den Schwimmer sowie die Haken schenkte mir mein Bruder Herrmann, mit dem ich oft zusammen zum Angeln gegangen bin. Der Fluss war sehr fischreich, so dass wir immer einen guten Fang mit nach Hause bringen konnten.
Ich weiß noch, ich hatte mich einmal von meinem siebzehn Jahre älteren Bruder getrennt, weil dann jeder von uns bessere Chancen auf einen guten und reichen Fang hatte, als wenn wir beide zusammen hocken würden.
Deshalb angelte ich einige hundert Meter weiter flussabwärts als er. Ich hatte schon reichlich Beute gemacht und bereits zwei Rotaugen sowie zwei Plötze aus dem Wasser ziehen können. Darauf war ich sehr stolz und freute mich unbändig. Das sollte mir mein Bruder erst mal nachmachen! Trotzdem wollte ich es noch einmal versuchen. Es lief heute einfach zu gut. Ich warf erneut die Angelschnur weit aus und wartete ein Weilchen. Plötzlich zog die Angelrute kräftig an. Der Schwimmer verschwand unter der Wasseroberfläche. Ich musste mich kräftig anstrengen, um mit meinen damals acht Jahren die Angel hochzuziehen.
Was ich da sah, erschrak mich so sehr, dass ich alles habe fallen lassen und einfach weggelaufen bin hin zu meinem Bruder. Ich hatte doch tatsächlich eine dicke, lange Schlange am Haken. Herrmann hörte sich meine aufgeregte Schilderung genau an, und er ging dann mit mir zurück zu meiner Angelstelle, um sich das Untier anzuschauen.
An meinem Angelplatz angekommen hat er erst das Monster, dann mich angesehen. Lobend stieß er hervor: „Petri heil, Helmut! Herzlichen Glückwunsch, da hast du einen wunderschönen Aal erwischt!“ Ich hatte vorher noch nie in meinem Leben einen so großen lebenden Aal gesehen. Ich wurde rot vor Stolz.
Das waren zwischendurch immer mal wieder kleine Erlebnisse, die mir mein Leben ein wenig erträglicher machten, und mir zeigten, dass ich ja doch auch mal etwas richtig machte und Erfolg hatte.
Abends bereitete meine Mutter den Aal zu, und ich bekam dann auch ein Stückchen davon ab. Er schmeckte mir ausgezeichnet.
Aber weil ich ja mit dem Angeln etwas getan hatte, was ich eigentlich nicht durfte, wurde trotz der üppigen Beute kräftig mit mir geschimpft. Manchmal gab es auch Schläge oder zusätzliche Verbote, wie zum Beispiel nicht spielen zu dürfen, wenn ich trotz des Verbotes angeln war. Dennoch aßen alle den Fisch dann gerne zum Abend.
Durch all diese Umstände, die harte Arbeit, wenig Freizeit, all die Misshandlungen und keinerlei liebevolle Zuwendungen, begann ich immer mehr zu rebellieren, wurde zunehmend sturer und bockiger.
So wollte ich trotz Verbotes unbedingt einmal ins Moor gehen und mir ansehen, wo, wie und was meine Mutter dort arbeitete. Ich wollte mit meinen eigenen Augen wahrnehmen und erleben, wie die Umgebung aussah und ob wirklich alles so gefährlich war, wie man hier erzählte.
Meine Mutter fragte mich: „Was meinst du wohl, warum das Moor den Namen Teufelsmoor trägt?“ Ich kannte zwar viele Geschichten von diesem mysteriösen Gebiet, aber zuckte nichtwissend die Schultern. „Im Moor treibt der leibhaftige Teufel sein Unwesen. Deshalb heißt unser Dorf ja auch Teufelsmoor“, verriet sie mir geheimnisvoll.
Weiter warnte sie mich eindringlich: „Der Teufel holt im Moor nur Kinder!“
So schürte sie meine Angst vor dem Teufelsmoor. Sie wollte mich unbedingt daran hindern, jemals einen Fuß in dieses Gebiet zu setzen.
Warum das so war, weiß ich bis heute nicht. Ob es einen besonderen Grund dafür gab, den ich nie herausgefunden habe oder ob sie sich wirklich ernsthaft Sorgen um mich gemacht hatte, konnte ich nie ganz klären.
Ich war ja schon immer ein kleiner Rebell und habe mir wenig sagen lassen. So habe ich trotz des Verbotes im Alter von etwa 9 Jahren einfach einmal den Versuch gemacht, allein ins Teufelsmoor zu gehen. Schließlich arbeiteten meine Mutter und meine Schwägerin Wilma dort. Das konnte doch wohl so gefährlich nicht sein! Im Moor angekommen, traf ich bereits schnell auf die ersten Arbeiter. Ich fragte sie nach meiner Mutter und wollte wissen, wo sie denn arbeitet. Sie haben mir den Weg dorthin beschrieben und mich gewarnt, davon abzuweichen, weil es wirklich richtig gefährlich werden konnte. Daran habe ich mich gehalten und bin vorsichtig den genannten Weg zu meiner Mutter gegangen. Wie oft habe ich mich umgeschaut, um so früh wie möglich den Teufel zu entdecken, falls er irgendwo auftauchen sollte. Etwas mulmig war mir schon. Ich hatte, ehrlich gesagt, viel mehr Angst davor, dem leibhaftigen Teufel zu begegnen als irgendwo einzusinken, wenn ich vom festen Untergrund abkam. Aber ich war jederzeit bereit, sofort die Flucht zu ergreifen. Bestimmt konnte dieser schreckliche Teufel mit seinem langen Dreizack in der Hand, dem Sack auf dem Rücken, den er dafür mit sich trug, um die eingefangenen Kinder darein zu stecken und den zwei Hörnern auf dem Kopf nicht so schnell laufen wie ich. So war ich sicher, ihm rechtzeitig entkommen zu können. Das stellte ich mir jedenfalls damals in meiner kindlichen Fantasie so vor.
Ich erinnere mich noch gut, es war ein sehr heißer Tag mitten im Sommer. Es war so warm, dass ich mich zwischendurch erst einmal auf einen Torfstapel setzte, der neben dem Weg aufgeschichtet war, um ein wenig auszuruhen. Auf einmal spürte ich unten an der rechten Wade einen heftigen stechenden Schmerz. Da ich ja eine kurze Hose trug, konnte ich sofort einen Blick auf die schmerzende Stelle werfen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie eine Kreuzotter davonschlich. Sie schlängelte sich in schnellem Tempo in das Gebüsch und war auch schon wieder aus meinem Blickfeld verschwunden. Aus der Schule kannte ich die Kreuzotter, dort haben wir sie im Fach Naturkunde ausführlich behandelt. Daher wusste ich auch, dass ihr Biss giftig ist. Mich überkam eine furchtbare Angst, und ich lief panisch den Weg, so schnell ich konnte, zurück. Bald schon sah ich wieder die Arbeiter, die ich vorher nach dem Weg gefragt hatte. Laut weinend rannte ich zu ihnen und erzählte von meinem Unglück. Ich hatte inzwischen Todesangst, denn die Wunde brannte ganz fürchterlich. Ein Arbeiter nahm mich sofort an die Hand und befahl mir: „Komm schnell!“ Er eilte mit mir zu einem Schuppen. Dort hatte er sein Motorrad abgestellt. Er ließ den Motor an, setzte mich auf den Sozius, natürlich ohne einen Helm, das war damals noch nicht vorgeschrieben und raste mit mir so schnell los, dass ich fast das Gleichgewicht verlor und hintenüber zu kippen drohte. Bereits im Fahren rief er mir laut zu: „Ich fahre dich jetzt zu Dr. Bock nach Hüttenbusch. Der wird dir sicherlich helfen können!“ Obwohl die Fahrt nicht allzu lange dauerte, kam sie mir dennoch ewig vor. Der Arzt spritzte mir sofort ein Gegenmittel. Diese Spritze hat mir sehr weh getan, aber ich habe die Zähne zusammengebissen, denn ich wollte noch nicht sterben. Anschließend versorgte der Herr Doktor dann die Bisswunde. Er hat mir noch Tabletten mitgegeben und mir gesagt, wie ich mich weiter verhalten sollte. Der nette Arbeiter hatte so lange draußen auf mich gewartet und mich dann mit seinem Motorrad wieder zurück nach Teufelsmoor gebracht. Ich war ihm so unendlich dankbar für das, was er für mich getan hatte.
Wieder zurück zu Hause angekommen, hatte mich meine Schwester Erika bereits vermisst und bei den Nachbarn nach mir gefragt, weil sie sich schon Sorgen um mich machte. Sichtlich erleichtert, weil ich wieder da war, nahm sie mich dann in den Arm und sprach mir Trost zu, weil ich ja noch immer Angst davor hatte, vielleicht doch noch sterben zu müssen. Am Nachmittag kam meine Mutter von der Arbeit, und da brach es aus mir heraus. Ich habe ihr alles erzählt. Sie wurde sehr böse, weil sie mir ja das Betreten des Moores verboten hatte und schimpfte kräftig mit mir. Aber ich habe diesmal keine Schläge bekommen!
Unser Haus stand in etwa 400 Metern Entfernung zur nächsten Straße. Hinter dieser führte vom Moor bis nach Neu Sankt Jürgen eine kleine Bahnstrecke her, die sogenannte Moorbahn. Die Lokomotive, die ganz viele Waggons voll mit Torf beladen hinter sich herzog, hatte ausschließlich die Aufgabe den im Moor gewonnenen Torf zur weiteren Verarbeitung ins Werk zu transportieren. Personen durften und konnten damit nicht befördert werden! In Neu Sankt Jürgen wurde der Torf, den man in Weiß- und Schwarztorf trennte, weiterbehandelt, verpackt und mit der großen Eisenbahn zum Güterbahnhof gebracht. Von dort aus wurde er dann weiter in alle Richtungen verteilt.
Wenn die Moorbahn auf ihren Gleisen ins Moor fuhr, war sie unbeladen. Alle Waggons waren leer. Aber wenn sie vom Moor ins Torfwerk nach Neu Sankt Jürgen unterwegs war, dann war sie schwerbeladen. Alle angehängten Wagen waren voll mit Brenntorf und Schwarztorf.
Mein Freund Herbert und ich fuhren hin und wieder unerlaubter Weise mit der Moorbahn vom Flüsschen Hamme zurück nach Hause. Das Mitfahren für Personen war strengstens verboten und ziemlich gefährlich. Wir taten es trotzdem und versuchten, uns nicht erwischen zu lassen. So sind wir dann auf der Rückfahrt auf irgendeinen der Gitterwagen aufgesprungen. Wir achteten darauf, keinen Wagen zu nehmen, der sich zu dicht hinter der ziehenden Lokomotive befand, damit uns der Lokomotivführer nicht sehen konnte. So brauchten wir nicht zu Fuß nach Hause zu gehen, sondern konnten uns bequem fahren lassen. Kurz vor unserem Haus bremste der Zug einmal plötzlich aus irgendeinem Grund stark ab, den ich bis heute nicht kenne. Durch diesen abrupten Stopp verlor ich mein Gleichgewicht und stürzte mit dem Kopf auf eine Ecke des Waggons. Ein starker Schmerz durchfuhr mich. Ich wusste gar nicht, was mit mir genau geschehen war. Ich fasste an meinen Kopf an die Stelle, die mir am meisten weh tat. Als ich die Hand zurückzog war sie voller Blut. Nun spürte ich auch, wie das Blut vom Kopf herunter auf meine Kleidung tropfte. Wir sprangen sofort vom Zug hinunter. Voller Panik lief ich weinend zu Fuß das letzte Stück nachhause zu meiner Mutter. Ich erzählte ihr, was passiert war, und natürlich fing sie wieder an, mit mir kräftig und laut zu schimpfen. Wie konnten wir nur auf die Bahn springen! Ich bekam Schläge auf den Po. Das war für sie alles wichtiger als mir zu helfen oder sich, um mich zu sorgen. Aber irgendwann hatte sie sich dann doch endlich mal dazu entschlossen, meine Stirnwunde zu versorgen.
Ich war sehr traurig und enttäuscht über das Verhalten meiner Mutter. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass sie mich mal in den Arm genommen und getröstet hätte, oder wie ich es bei meinen Freunden gesehen hatte, mir mal über den Kopf gestreichelt und etwas Liebes zu mir gesagt hätte. Aber wieder erhielt ich keinerlei Zuwendungen oder Liebkosungen von ihr. Sie war einfach hart und gefühllos zu mir.
Später fiel mir dann auf, wie viel Pech ich jedes Mal hatte, wenn ich irgendwie mit dem Moor Kontakt hatte. Vielleicht gab es ja doch diesen furchtbaren Teufel, der Einfluss auf dieses Gebiet und das Geschehen rundherum nehmen konnte.
Das alles war mir eine große Lehre. Ich betrat nach all diesen Vorfällen jedenfalls nie wieder das Moor – bis heute nicht! Der Schock war zu groß und saß einfach zu tief.
So wuchs ich langsam heran, wurde immer selbständiger und machte mir meine eigenen Gedanken über mein Leben und meine Welt, in der ich lebte.
Gern hätte ich mir auch mal etwas gegönnt und selbst eingekauft, wie die anderen Kinder in meinem Alter das so taten. Sie verfügten über ein kleines Taschengeld und konnten sich davon Kleinigkeiten wie Bonbons oder andere Süßigkeiten leisten. Manchmal gaben mir meine Schulfreunde gönnerhaft etwas ab. Denn natürlich erhielt ich kein Taschengeld von meinen Eltern, nicht einen Pfennig. Obwohl ich so viele und schwere Aufgaben zu erledigen hatte, bekam ich nie eigenes Geld in die Hände. Meine Eltern konnten sich das nicht leisten. Wir waren einfach zu arm und mussten irgendwie über die Runden kommen. Meine Schulfreunde verstanden das nicht und hänselten mich noch zusätzlich zu meinem Kummer und meiner Scham, dass ich über kein Geld verfügte, als „armer“ Helmut. Das tat mir sehr weh und verletzte mich zutiefst.
Ich begann darüber nachzudenken, wie ich zu Geld kommen könnte, denn ich wollte nicht immer als der Außenseiter und Habenichts dastehen, der nicht zu den anderen passte. Mir wollte aber so recht nichts einfallen.
Ich erinnere mich noch daran, als eines Tages mein Freund Heinz zu mir kam und mir einen entscheidenden Vorschlag machte, wie wir an ein wenig Bargeld kommen könnten.
„Du Helmut,“ riet er mir gutgemeint, „ihr haltet doch auch Hühner im Stall! Lass uns doch einfach ein paar Eier von ihnen nehmen, und die verkaufen wir dann beim Krämerladen in Hüttenbusch!“ Die Idee fand ich super. Endlich ein paar Groschen eigenes Geld! „Ich mache das schon seit ein paar Monaten so!“, gestand Heinz mir offen. Ich zögerte nicht, das Gleiche fortan nun auch zu tun und hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei.
So stahl ich dann heimlich jede Woche 10 Eier aus unserem Hühnerstall und machte mir keine Gedanken darüber, was ich da eigentlich gerade tat.
Gemeinsam mit Heinz zusammen verkaufte jeder von uns beiden die gerade geklauten Eier in Hüttenbusch beim Krämer. Das Geld, das wir dafür erhielten, setzten wir sofort an Ort und Stelle meist in Süßigkeiten um. Die wurden natürlich mit größtem Genuss sofort in den Mund gesteckt und aufgegessen, bis nichts mehr da war. So hatte jeder eine „Win-Win-Situation“, wie man es heute nennen würde. Der Kaufmann gleich doppelt, weil er die Ausgaben für die von uns erworbenen Eier gleich wieder als Umsatz zurückerhielt.
Ich wusste, dass ich etwas Unrechtes tat und bekam dann auch mit der Zeit doch ein schlechtes Gewissen. Aber dennoch freuten wir uns, wie gut das System funktionierte und waren richtig stolz auf uns. Wir hatten eine Lösung gefunden, wie wir uns Geld beschaffen konnten.
Natürlich ist das dann irgendwann aufgefallen. Schließlich konnte ich in der Zeit viel weniger Eier sammeln und meinen Eltern geben als bisher.
Und nach einigen Monaten passierte es dann. Meine Mutter erwischte mich auf frischer Tat beim Eierklauen als sie einmal etwas früher von der Arbeit heimkam. Ich bekam von ihr wieder heftige Schläge. Als mein Vater am Abend nach Hause kam, erhielt ich dann von ihm für meine Untaten gleich nochmals Prügel. Zweimal für dieselbe Tat bestraft zu werden, fand ich sehr ungerecht.
Ich habe danach aber niemals wieder Eier aus unserem Hühnerstall weggenommen und verkauft!
Allerdings hatten meine Eltern dann ein Einsehen, und ich bekam hin und wieder auch mal Süßigkeiten von ihnen.
Später, im Alter von etwa 11 Jahren, hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen meiner Mutter und unserer Nachbarin Hilde mit. Die beiden bemerkten mich aber nicht. Sie nahmen an, sie seien allein und keiner würde ihnen zuhören.
Mutter sprach zu Hilde: „Den Helmut wollten wir ja gar nicht mehr!“ „Ich habe alles versucht, damit er erst gar nicht geboren wird“, verriet sie weiter. Sie gestand leise: „Sogar vom Heuwagen bin ich gesprungen, damit der Fötus abgeht!“
Ich war fassungslos. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich war zugleich wütend und unendlich traurig. Es dauerte einige Zeit, bis ich überhaupt richtig verstand, was Mutter da gerade gesagt hatte. Meine Eltern wollten mich nicht! Ich war ihnen eine Last! Deshalb also bekam ich keine Zärtlichkeiten und keine Liebe. Das war der Grund für die vielen Schläge und Misshandlungen. Ich fiel in ein tiefes Loch. Das musste ich erst einmal verarbeiten, was mir bis heute noch nicht ganz gelungen ist. Meine Eltern wollten mich nicht! Meine Eltern liebten mich nicht! Es war ihnen egal, was mit mir passierte! Ich war ihnen egal! Unfassbar, wie sollte ich jetzt bloß weiterleben? Was sollte ich jetzt tun? Mit einem Schlag war ich um Jahre älter und reifer geworden.
Ich begriff, ich war allein auf dieser Welt. Gott sei Dank, gab es da noch meine Schwester Erika, die ich über alles liebte und die mir auch Liebe und Sympathie zurückgab. Nur so habe ich es ausgehalten, weiter zu leben.
Das, was ich da zufällig mitbekommen hatte, hat mich mein ganzes Leben bis zum heutigen Tage geprägt. Wie oft habe ich heimlich und allein in der Scheune bitterlich und verzweifelt geweint.
Seitdem habe ich auch nie mehr meine Eltern mit Mama und Papa angesprochen, sondern ich habe die direkte Ansprache immer vermieden. Es waren nicht mehr meine Eltern!
Meine Eltern konnte ich nach diesem Zwischenfall einfach nicht mehr lieben. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt – so weiß ich heute – die Liebe und das Lieben verloren. Niemals mehr habe ich damals wirkliche Liebe zu meinen Eltern in meinem Herzen spüren können. Wirklich niemals mehr!
1957 wurde in Teufelsmoor ein Fußballverein, der SV Teufelsmoor, gegründet, dem auch eine eigene Abteilung für Kinder angegliedert war. Ich wollte gern dort im Verein mitspielen. Meine Mutter war jedoch absolut dagegen. Aber diesmal setzte mein Vater sich durch, weil er das gut fand. So wurde ich Mitglied und Spieler im SV Teufelsmoor. Die Spiele waren immer ein kleiner Höhepunkt in meinem Leben.
Ich hatte schon als 6-jähriger mit meinen Freunden Heinz und Herbert Fußball gespielt. Dabei hatte ich erste Erfahrungen gesammelt. Den Ball hatten wir selbst aus Stroh gebastelt und mit Schnüren zusammengebunden. Wir hatten riesigen Spaß damit gehabt.
Auch in der Schule hatten wir in den Pausen die Möglichkeit, Fußball zu spielen. Dort konnten wir uns sogar mit einem richtigen Ball austoben.
Im Verein spielte ich in der Position des Mittelstürmers. Ich war ein ganz guter Spieler, möchte ich behaupten. Das konnte man an meiner Torbilanz sehen. Viele Tore wurden von mir geschossen. Ich setzte mich meist gegen meine Gegner durch, obwohl die körperlich fast immer viel größer waren als ich. Durch meine Schnelligkeit und mein Geschick gewann ich viele Zweikämpfe. Auch war ich sehr kopfballstark und erzielte das ein und andere Tor per Kopfstoß. So schafften wir es, in unserer Liga sogar einmal Kreismeister zu werden. Das war unser größter Erfolg, auf den wir ziemlich stolz waren.
Eines Tages rief mich mein Vater in die Scheune. Ich bekam einen Schreck und überlegte, was ich nun schon wieder angestellt haben könnte. Mir fiel nichts ein. Ich war mir keiner Schuld bewusst, und ich befürchtete, wieder verprügelt zu werden. Doch die Überraschung war groß. Als ich die Scheune betrat, sah ich sofort das Fahrrad, das dort an der Wand lehnte. Vater trat zu mir und versprach mir: „Damit kannst du ab jetzt zur Schule fahren und musst nicht mehr laufen!“
Ich konnte es nicht fassen. Ein Fahrrad für mich, ein eigenes Fahrrad! Spontan umarmte ich meinen Vater vor lauter Freude. Das war allerdings auch die erste und letzte, und damit einzige Umarmung, die ich je in meiner Kindheit habe erleben dürfen.
Mit dem Fahrrad hatte ich anfangs große Probleme. Es war überhaupt nicht auf meine Größe abgestimmt und eher für größere und ältere Fahrer ausgelegt. Zudem handelte es sich um ein Herrenfahrrad, das als solches natürlich eine Querstange hatte. Eigentlich war ich viel zu klein dafür. Ich kam mit meinen kurzen Beinen gar nicht über die Querstange und damit an die Pedale heran. Aber ich fand eine Lösung für das Problem. Ich stieg mit einem Bein unter die Querstange hindurch und versuchte so, in die Pedale zu treten. Das war nicht so ganz einfach, denn der Schwerpunkt verschob sich dadurch, und das Fahrrad war immer in einer Schräglage. Aber mit einiger Übung und nach etlichen, zum Teil auch schlimmen Stürzen, schaffte ich es dann so einigermaßen damit zurecht zu kommen.
Hauptsache, ich hatte ein Fahrrad! Ich war selig!
So manches Mal bin ich später, als ich ganz gut mit dem Rad umgehen konnte, an die Hamme gefahren. Ich setzte mich dort auf die Uferböschung und genoss den herrlichen Ausblick. Dort hielt ich mich sehr gern auf, denn ich konnte hier alles vergessen und die Seele baumeln lassen. Das Wasser hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Die Hamme wurde auch von der Schifffahrt genutzt. Gedankenverloren schaute ich den vielen Torfkähnen zu, wie sie ihre wertvolle Fracht an ihre Ziele transportierten und gemächlich an mir vorbeizogen. Immer wieder war etwas Neues zu entdecken.
Gelegentlich begleitete mich mein Bruder Herrmann, der auch gern diesen Ausblick genoss. Wenn es sehr warm war, haben wir uns ausgezogen und nur in Unterhemd und kurzer Hose am Uferrand die wenige Zeit, die uns zur Verfügung stand, gemeinsam verbracht. Ich ahnte vorher nichts, als er mich einmal fasste, hochhob und einfach in den Fluss warf. Ich bekam einen Riesenschreck und Panik, denn ich konnte doch noch gar nicht schwimmen. Ich prustete, paddelte und ruderte panikartig mit den Armen, um nicht unterzugehen und schnappte verzweifelt nach Luft. Wie konnte Herrmann das nur tun? Er wusste doch, dass ich Nichtschwimmer war! Mein Bruder grinste nur und sprang sofort hinter mir her ins Wasser. Er riet mir: „Schwimm einfach weiter! Ich passe schon auf dich auf. Keine Angst, es wird nichts passieren!“
Oje, ich hätte ihn in dem Moment umbringen können, so verzweifelt und wütend war ich! Prustend und viel Wasser schluckend, gelang es mir dann doch an der Wasseroberfläche zu bleiben. Wütend und stolz zugleich schaffte ich es, ans Ufer zu kommen – immer begleitet von meinem Bruder, der mir jederzeit hätte helfen können, wenn es nötig gewesen wäre. Erschöpft krabbelte ich mit letzter Kraft bis ans Ufer und ließ mich einfach auf den Boden fallen. Hechelnd und nach Luft schnappend erholte ich mich nur langsam von diesem Schrecken. Die Angst und Wut verwandelten sich in Stolz, dass ich es geschafft hatte. Nun war ich ihm sogar dankbar, dass er mir auf diese Art und Weise das Schwimmen beigebracht hatte. Nach und nach wurde ich mit der Zeit immer besser und entwickelte mich so zum leidlich guten Schwimmer.
Ich liebte schon immer die Natur und hielt mich gern draußen auf. Mit meinem Freund Heinz war ich hin und wieder zu Fuß oder mit dem Rad im Wald unterwegs. Wir haben dort die Vögel beobachtet. Fasziniert sahen wir ihnen zu, wie sie Futter suchten und Baumaterial für ihren Nestbau sammelten. Geschickt schichteten sie daraus Lage für Lage aufeinander, bis das Nest fertig war. Wir kannten auch die Bezeichnungen für die Vögel, weil wir uns dafür interessierten. Wir haben eine Liste geführt und die Vogelarten, die wir gekannt haben, mit Namen notiert. In der Schule haben Heinz und ich im Unterricht dann ganz stolz darüber berichtet.
Wir waren noch in die Volksschule gegangen, eine Schulform, die es heute nicht mehr gibt. Heute würde das der Grundschule entsprechen. Allerdings gab es damals viele Fächer noch gar nicht, wie zum Beispiel Englisch. Stattdessen gab es andere Schulfächer als heute. Sport hieß damals Turnen oder Leibesübungen. Es gab Schulfächer, die hießen „Naturlehre“ oder „Heimatkunde“. Wie ich anfangs schon einmal erwähnt hatte, gab es an dieser Volksschule zwei Lehrer. Das waren der Herr Lehrer Minde und der Herr Lehrer Steffens. Die ersten Jahre wurde ich von Herrn Minde unterrichtet und erst später, in der zweiten Klasse (Jahrgänge 5-8), von Herrn Steffens. Deshalb habe ich auch nie in meinem Leben die englische Sprache erlernt, ein Manko, unter dem ich später immer wieder gelitten habe.
Zwar versuchte ich viel später das in der Volkshochschule nachzuholen und habe auch einige Seminare durchgehalten. Gut sprechen und verstehen kann ich aber diese Sprache nicht wirklich. Es war einfach zu spät dafür. Der richtige Zeitpunkt wäre jetzt hier in der Schule gewesen, aber englisch wurde leider nur in den weiterführenden Schulen unterrichtet.
Herr Steffens war ein sehr strenger Lehrer, vor dem wir Kinder allen Respekt und Angst hatten. Wenn nach seiner Meinung ein Schüler oder eine Schülerin seinen Unterricht störte, in dem er beispielsweise mit seinem Nachbarn leise tuschelte oder es sogar wagte zu kichern, rastete er aus.
Der betreffende Sünder musste dann allein in den nahegelegenen Wald gehen und so lange nach einem passenden abgebrochenen Zweig suchen, bis er einen geeigneten gefunden hatte. Zu lange durfte das aber auch nicht dauernd, denn dann wurde Herr Steffens noch viel wütender. Diesen Stock musste der Schüler dann im Unterrichtsraum vor allen anderen Klassenkameraden an den Lehrer übergeben. Anschließend hatte sich der arme Schüler tief zu bücken. Lehrer Steffens schlug dann mehrmals mit dem Stock kräftig auf den Po des Kameraden und hatte offensichtlich noch Spaß daran, ihn so zu quälen und vor allen zu demütigen, was eigentlich das Schlimmste war. Natürlich war dieser Lehrer bei den Kindern äußerst unbeliebt.
Mein Freund Heinz, der in der Schule neben mir saß, wohnte ganz einsam und ziemlich weit draußen irgendwo in den Wiesen. Auch er hatte genauso wie ich häufig Ärger mit seinen Eltern. Er wurde ebenfalls von ihnen geschlagen – nur vielleicht nicht so oft wie ich. Vielleicht verstanden wir uns ja auch deshalb so gut, weil wir ein ähnliches Schicksal durchleben mussten? Wir erzählten uns unsere Erlebnisse im Unterricht vom Fußball und anderen Dingen leise flüsternd. Natürlich bekam unser Lehrer das mit. So kam es dann, dass wir beide auch bei Lehrer Steffens in Ungnade fielen, und er uns besonders beobachtete. Diesmal musste Heinz den Stock aus den Büschen holen. Wir mussten uns bücken und jeder bekam zehn Stockschläge auf den Po. Das hatte schrecklich weh getan, aber wir haben uns nicht die Blöße gegeben und geweint. Das haben wir heldenhaft mit zusammengepressten Lippen ausgehalten, und damit die anderen Schüler sehr beeindruckt.
Herr Steffens erwischte uns dann immer wieder mal und hat uns dann als Konsequenz daraus, nicht mehr zusammensitzen lassen. Jeder bekam einen anderen Platz und damit einen anderen Nachbarn zugewiesen – jeweils weit auseinander. Das fanden wir beide nicht gut und haben uns sehr darüber geärgert. Ändern konnten wir letztendlich aber nichts daran. Unseren Eltern haben wir aus lauter Angst vor deren Reaktionen nichts von diesen Vorkommnissen erzählt.
Auch ich musste das Prügeln von Herrn Steffens noch einige Male allein am eigenen Leib erleben. Mein Ego war stets zutiefst verletzt. Bei meinen Eltern habe ich mich über Herrn Steffens bitterlich beschwert. Ich bat sie dringend, dem Lehrer das Schlagen zu verbieten.
Aber meine Eltern waren wohl der Auffassung, dass ich die Prügel völlig zu Recht bekommen hatte, und dass es vielleicht noch gar nicht genug gewesen war. Obwohl sie gar nicht den Grund dafür kannten. Der interessierte sie auch nicht. Wenn der Lehrer der Meinung war, dass solch eine Maßnahme erforderlich gewesen ist, dann hatte er auch wohl das Richtige getan. Ich fühlte mich von meinen Eltern nicht ernst genommen und im Stich gelassen.
Heute wäre so etwas sicher nicht mehr möglich. Der Lehrer würde sich strafbar machen, und er müsste im Extremfall sogar damit rechnen, vom Schüler zurückgeschlagen zu werden.
Ich fand das aber auch damals schon sehr ungerecht. Tiefe Enttäuschung machte sich bei mir breit, dass meine Eltern nicht zu mir standen und mir geholfen haben. Für mich passte alles zusammen. Meine Eltern liebten mich nicht, also war es ihnen völlig gleich, wie man mit mir umging und was mir passierte. Diese Gefühle brannten sich tief in mir ein und zehrten an meinem Selbstbewusstsein.
Eines Tages stand in der Schule ein Tagesausflug an. Wir wollten mit dem Bus in die Lüneburger Heide fahren. Alle Schüler freuten sich sehr darauf, aus dem täglichen Schulalltag herauszukommen und mal etwas anderes zu erleben. Natürlich kostete dieser Ausflug Geld. Allerdings weiß ich heute nicht mehr den Preis dafür. Nur wer den bezahlte, durfte auch mitfahren. Meine Eltern gaben mir das Geld dafür aber nicht, sondern meinten zu mir, dass sie dafür kein Geld übrighätten. Tief enttäuscht und unendlich traurig schämte ich mich den anderen Schülern gegenüber, dass meine Eltern so arm waren und sich das nicht leisten konnten. Ich war der einzige aller Schulkameraden, der deswegen nicht mitfahren durfte. Große Wut kam in mir auf, weil ich wusste, dass das nicht stimmte und unsere vorgetäuschte Armut nur ein Vorwand war. Ich war ihnen das Geld einfach nicht wert gewesen. Sie wollten es einsparen. Mit meinen 12 Jahren war mir klar, dass es nur am Willen meiner Eltern lag, denn beide arbeiteten den ganzen Tag und der kleine Bauernhof warf auch noch etwas ab. Sie wollten den Betrag nicht für mich ausgeben!
Am nächsten Tag traf mein Bruder Hermann wieder mal mit seinem Moped zu einem kurzen Besuch bei uns ein. Wie in letzter Zeit nahezu fast immer, war er auch heute wieder stark betrunken. Ich fasste ein wenig Mut und fragte ihn, ob er mir vielleicht die Klassenfahrt bezahlen könnte. Aber auch er lehnte ab und teilte mir mit, dass er dafür kein Geld hätte. Ich war echt sauer. Heimlich dachte ich trotzig, für seinen Bruder hat er kein Geld, aber für seinen dämlichen Alkohol reicht es immer!
Wutentbrannt rannte ich dann auf unsere Weide zu unseren Kühen, und beklagte mich bei ihnen über diese Ungerechtigkeiten. Meinen ganzen Kummer redete ich mir bei ihnen von der Seele. Sie verstanden mich zwar nicht und glotzten mich nur blöd an, aber mir tat es gut, all meinen aufgestauten Frust einmal herauslassen zu können.
Mit der Zeit ließen leider auch meine schulischen Leistungen nach. Meine Schulnoten gingen nach unten. Der Grund dafür lag sicher auch darin, dass ich immer zuerst meine Arbeiten auf dem Hof und bei den Tieren erledigen musste, bevor die Hausaufgaben an der Reihe waren. Aber mit diesen wurde ich immer nachlässiger, denn nach den anstrengenden Tätigkeiten war ich müde und erschöpft und wollte lieber herumhängen, spielen oder angeln. Lust zum Hausaufgaben machen hatte ich immer weniger.
Zwar half mir meine Schwester Erika abends immer wieder dabei, und sie erklärte mir auch die Fragen, aber oft hörte ich gar nicht richtig hin. Auch vormittags in der Schule wurde ich zunehmend lustloser und unaufmerksamer. Ich war nicht wirklich ausgeruht und fit, um neue Dinge zu lernen.
Das ging dann so weit, dass irgendwann sogar meine Versetzung gefährdet war. Nur durch den Einfluss meiner Schwester Erika schaffte ich es so gerade doch noch, in die nächste Klasse versetzt zu werden.
Im Spätherbst regnete es sehr viel. Der kleine Fluss Hamme konnte die Unmengen an Wasser nicht komplett aufnehmen, und trat über seine Ufer und wurde zum reißenden Strom. Dabei überschwemmte er die Wiesen und Weiden. Im Winter froren die überschwemmten Wiesen und Weiden regelmäßig zu. Bei anhaltender Kälte mit Temperaturen weit unter null Grad bildete sich selbst auf der Hamme eine dicke Eisschicht. Die Schifffahrt musste eingestellt werden. Das war für das Torfwerk bitter, aber wir Kinder freuten uns darüber. Nun konnten wir nämlich unsere Schlittschuhe auspacken und auf dem Eis Schlittschuhlaufen. Mir gehörten ein paar holländische Schlittschuhe, die ich bereits mit meinem sechsten Lebensjahr bekommen hatte. Damals lernte ich auch schon, auf dem Eis zu laufen.
Manchmal war es auf der Hamme richtig voll, da viele von meinen Schulkameraden ebenfalls die riesige Eisfläche nutzten.
Heinz, Herbert und ich haben dann öfter längere Touren von der Brücke am Teufelsmoor bis hin nach Worpswede und zurück gemacht. Das war eine einfache Entfernung von etwa 6 Kilometern. Wir waren danach zwar erschöpft aber glücklich.
Der Winter war für mich überhaupt eine willkommene Jahreszeit. Es gab weniger Arbeit auf dem Hof, und ich hatte mehr Zeit für mich. Die Arbeit wurde weniger, mein Pflichtbewusstsein allerdings auch! Immer öfter habe ich es „vergessen“, die Kaninchen zu versorgen oder andere Arbeiten zu erledigen. Ich muss zugeben, dass ich es manchmal auch vergessen wollte, weil ich einfach keine Lust dazu hatte. Natürlich gab es dann wieder Prügel. Ich muss zugeben, dass ich kein braves Kind war und langsam immer fauler wurde. Mir war die Arbeit inzwischen egal. Ich wurde immer aufsässiger. Meine Freizeit war mir wichtiger als alles andere.
Ab und zu besuchte uns – vor allem aber meine Eltern – mein Bruder Heinz, der ja 17 Jahre älter war als ich. Er war mit Marga verheiratet. Sie lebten zusammen im eigenen Haus. Er war Beamter bei der Bundesbahn. Damit war man damals sehr angesehen und hatte eine sichere Arbeitsstelle mit gutem Einkommen und war eigentlich sozial für seine gesamte Zukunft abgesichert. Jedoch trank Heinz übermäßig viel Alkohol, was mir als Kind schon auffiel. Ich hatte allerdings keinerlei gefühlte emotionale Beziehung zu ihm. Er war mir fremd und völlig egal. Umgekehrt schien er wohl genauso zu empfinden. Er beachtete mich nicht und ließ mich einfach links liegen.
Etwas häufiger kam Herrmann, mein anderer Bruder, zu Besuch zu uns. Man hörte ihn meist schon von Weitem mit seinem Moped herankrachen. Er kam oft direkt von seiner Arbeitsstelle, wo er als gelernter Schuster tätig war, zu uns. Auch er sprach dem Alkohol reichlich zu und war fast immer betrunken. Inzwischen war er mit Wilma verheiratet.
Seltener war meine älteste Schwester Anni mit ihrem Mann Helmut bei uns zu Gast. Wir sahen sie nur etwa zwei- bis dreimal im Jahr. Ihre zwei Kinder, die sie inzwischen schon hatten, Petra und Hartmut, brachten sie oft mit. Dann hatte ich immer große Freude. Ich liebte meine Schwester Anni sehr und mochte auch meinen Schwager Helmut herzlich gut leiden. Mit meiner Nichte Petra und meinem Neffen Hartmut konnte ich immer gut zusammenspielen. Wenn sie da waren, war für Abwechslung gesorgt. Das fand ich großartig. Sie hatten immer eine ziemlich weite Anreise, denn sie wohnten in dem kleinen, aufstrebenden Städtchen Marl im nördlichen Ruhrgebiet.
Nur meinem Schwager Helmut hatte ich es zu verdanken, dass ich auf den Namen „Helmut“ getauft worden bin. Er drängte darauf, weil ihm der Name so gut gefiel. Ursprünglich sollte ich Fritz heißen, ein Name, den ich gar nicht mochte. Mit „Helmut“ war ich aber sehr zufrieden und ihm dafür dankbar, dass er sich mit dem Namen bei meinen Eltern für mich so durchgesetzt hat.
Mit meiner zweiten Schwester Erika verstand ich mich bestens. Wenn ich jemanden auf meine Art und Weise geliebt habe, dann sie! Aber sie war immerhin sieben Jahre älter als ich und hatte somit natürlich ganz andere Interessen als ich. Mit ihrer guten Freundin Annegret, die an dem Fluss Hamme in der Nähe der Schleuse wohnte, unternahm sie in ihrer Freizeit meist gemeinsam etwas.
Manchmal war auch unsere Cousine Henny bei uns, die zwei Jahre älter war als ich. Außer der Schule und die Arbeiten auf dem kleinen Hof hatten wir aber keine Gemeinsamkeiten. Wir waren uns mehr oder weniger fremd und auch egal.
Bei einem der Besuche von Heinz bei uns saßen wir zusammen mit ihm, meinem Vater und mir gemütlich in der Stube. Heinz erzählte meinem Vater, dass er in Hüttenbusch ein Haus bauen wollte. Während des Gesprächs fragte er ihn, ob wir vielleicht in die Dachgeschoßwohnung, die dann bei ihm leer stehen würde, einziehen wollten. So könnte er durch unsere Mietzahlungen die monatlichen finanziellen Belastungen für das Haus leichter tragen. Mein Vater überlegte nicht lange und sagte meinem Bruder recht schnell zu. Ich war begeistert, dass ich nun endlich aus Teufelsmoor wegziehen konnte, ließ mir das aber nicht anmerken. Hüttenbusch war zwar auch nur ein Dorf, aber schon etwas größer und bewohnter als Teufelsmoor. Dort war einfach mehr los. Und – was die Hauptsache war – wir müssten ja dann unseren kleinen Bauernhof aufgeben. So stellte ich mir das jedenfalls vor, und dann brauchte ich nicht mehr (so viel) zu arbeiten, und ich hätte mehr Zeit für mich und meine Freunde. Ich freute mich darauf sehr, wenn die Freude auch durch den Gedanken daran getrübt wurde, dass es ja noch einige Zeit dauern würde, bis das Haus fertiggestellt und bewohnbar war. Ich war schon jetzt ungeduldig und konnte die Zeit bis dahin kaum abwarten!
Am Wochenende setzte sich mein Vater hin und wieder in das Wohnzimmer, nahm sein Akkordeon aus der Ecke und begann darauf zu spielen. Ich kann gar nicht sagen, ob er ein guter Musiker war. Dazu hatte ich zu wenig Erfahrung und Vergleichsmöglichkeiten. Aber ich glaube, das war ihm auch egal und mir sowieso. Dann hockte ich mich vor ihm auf den Boden hin und habe seiner Musik zugehört. Ich glaube, diese Zeiten hat er richtig genießen und sich dabei völlig entspannen können. Oft sang ich auch die Lieder, die ich kannte, lautstark mit. Das waren für mich immer sehr schöne Momente, denn ich liebte schon damals sehr die Musik und das Musizieren.
Oft habe ich auch meinen Opa, den Vater meines Vaters besucht, der in Adolfsdorf wohnte und dort einen ziemlich großen Bauernhof betrieb. In den großen Schulferien durfte ich sogar mal ganze drei Wochen an einem Stück bei ihm verbringen.
Mein Vater und mein Opa hatten leider kein besonders gutes Verhältnis zueinander. Sie hatten sich wegen Erbschaftsangelegenheiten zerstritten und sprachen kaum miteinander. Ich verstand gar nicht so richtig, was da mal geschehen war, aber es interessierte mich auch nicht besonders. Ich fand es nur schade, dass sie so gut wie keinen Umgang miteinander pflegten.
Zu mir war mein Opa immer gut und ein liebenswerter Mensch gewesen. Bei ihm durfte ich viel mehr als bei meinen Eltern. Mit ihm war ich auch draußen auf seinen Feldern und Wiesen. Ich war stolz darauf, dass er mir erlaubte, die Pferde mit der Leine von hoch oben auf dem Heuwagen führen zu dürfen. Das beherrschte ich eigentlich ganz gut. Opa saß dann neben mir auf dem Wagenbock, um bei Bedarf eingreifen zu können. Das war aber fast nie erforderlich. Es war für mich sehr spannend, mit den Pferden umgehen zu dürfen.
Meine „richtige“ Oma lebte zu der Zeit leider schon nicht mehr. Sie war schon seit vielen Jahren tot. Ich habe sie nie kennengelernt, denn sie starb bereits als ich etwa 2 Jahre alt war.
Mein Opa hatte danach wieder geheiratet. Meine Stiefgroßmutter mochte ich aber nicht so besonders, weil sie immer so grimmig dreinblickte. Nie sah ich sie lachen oder fröhlich sein. Wahrscheinlich mochte sie mich auch nicht leiden. Zwar hat sie das nie gesagt oder mich das spüren lassen – aber zumindest hatte ich das Gefühl.
Dennoch war es immer wieder schön bei meinem Opa in Adolfsdorf. Ich verbrachte dort gern meine freie Zeit.
Meine Schwester Erika war zu der Zeit schon im Haushalt einer Bäckerei in Worpswede beschäftigt. Täglich fuhr sie mit dem Fahrrad zu ihrem Arbeitsplatz. Daher blieb meine Mutter nun zuhause. Sie hatte ihre Arbeit im Moor aufgegeben. Nun hatten wir ja die Einnahmen von Erika, die natürlich den größten Teil ihres verdienten Geldes für ihren Unterhalt abgeben musste.
Für mich war diese neue Situation, dass meine Mutter nun immer zuhause war, gar nicht so gut.
Sie konnte mich jetzt besser kontrollieren und achtete stets darauf, dass ich die mir aufgetragenen Arbeiten auch tatsächlich verrichtete. So hatte ich ab diesem Zeitpunkt noch weniger Zeit zum Spielen, Angeln oder Radfahren. Ich fühlte mich in meiner Freiheit eingeengt und musste noch mehr aufpassen, was ich tat.
Das Haus, an dem mein Bruder Heinz in Hüttenbusch baute, stand bereits im Rohbau und jeden Tag wurde daran weitergearbeitet, so dass es bald bezogen werden konnte. Mein Vater meinte, dass wir in etwa zwei Monaten umziehen und dort wohnen könnten. Wie vereinbart, sollten wir ja die obere Wohnung erhalten. Ich war sehr froh darüber und fuhr mit meinem Fahrrad einmal an einem Tag dorthin, um mir alles anzuschauen. Was ich sah, beeindruckte mich sehr. Alles war so schön und groß, und ich freute mich schon, dort demnächst einzuziehen.
Danach fuhr ich mit dem Rad noch ein wenig weiter in das Dorf und wollte eigentlich meinen Bruder Herrmann besuchen. Der wohnte mit seiner Frau Wilma bei der Familie Thoden im Haus.
Dazu muss man nämlich wissen, dass die beiden Frauen meiner beiden Brüder Heinz und Herrmann gleichzeitig auch Schwestern waren. Die Nachnamen der Eltern waren eben Thoden. So waren die beiden Schwestern Wilma und Marga zugleich auch Schwägerinnen. So etwas gab es nicht so häufig.
Leider war Herrmann nicht zu Hause. Aber die Schwiegereltern meiner Brüder, Herr und Frau Thoden haben mich eingeladen, doch noch etwas bei ihnen zu trinken. Ich habe dann eine Flasche Sinalco bekommen, sie ausgetrunken und bin dann wieder zurück nach Hause nach Teufelsmoor gefahren.
Die Zeit bis zum Umzug konnte ich kaum abwarten. Natürlich habe ich auch meinen Freunden von meinem bevorstehenden Umzug und dem Ortswechsel nach Hüttenbusch berichtet. Alle waren darüber sehr traurig, denn wir konnten ja dann nicht mehr so oft zusammen sein und spielen. Da haben wir uns geschworen, uns häufig gegenseitig besuchen zu kommen. Damals war ich etwa 10 Jahre alt und mein Plan für die Zukunft stand bereits fest. Sobald ich groß und selbständig war, wollte ich wieder umziehen, weg von Hüttenbusch.
Meine Lieblingsschwester Erika hatte inzwischen ihren Arbeitsplatz gewechselt. Sie arbeitete nun zwar auch wieder als Haushaltshilfe aber jetzt bei einem anderen Bäcker in Osterholz-Scharmbeck.
Sie war bereits 18 oder 19 Jahre alt und hatte sich mit einem jungen Mann mit dem Namen Johann angefreundet. Er bewirtschaftete in Osterholz-Scharmbeck einen mittelgroßen Bauernhof. Gemeinsam besuchten sie uns am Wochenende ein paar Mal in Teufelsmoor. Johann besaß ein Motorrad, mit dem sie die Strecke zu uns gefahren sind. Erika saß dann hinten auf dem Sozius. Auch ich durfte einige Male mit Johann mitfahren. Wir drehten ein paar Runden durch Teufelsmoor. Ich hatte großen Spaß, hinter ihm auf dem kleinen Platz sitzen und die Geschwindigkeit spüren zu dürfen. Da ich nicht so besonders groß war, kam ich kaum an die Fußrasten heran, was das Ganze schon ein bisschen gefährlich machte. Nicht auszudenken, wenn ich mit den Füßen in die Speichen gekommen wäre! Aber es ist alles gut gegangen.
Mein Vater besaß zwar auch ein Motorrad, eine Zündapp, aber das hat er nur für die Wege zu seiner Arbeit und zurück benutzt. Ich kann mich leider nicht erinnern, ob ich jemals einmal mit ihm auf dem Krad mitgefahren bin.
Ich nahm mir fest vor, mir auch ein Motorrad zu kaufen, wenn ich groß bin. Um es jetzt bereits an dieser Stelle vorwegzunehmen, ich habe später niemals ein Motorrad mein Eigen nennen können.
So haben sich einige meiner Kindheitsträume nicht erfüllt.
Es gab zum Beispiel den Wunsch in mir, später einmal Lehrer werden zu wollen. Aber dafür musste ich ja studieren. Um studieren zu können, musste ich damals mindestens die Mittelschule erfolgreich abgeschlossen haben. Ja, das gab es zu der Zeit, dass man mit dem „mittleren“ Schulabschluss Lehrer werden konnte. Man benötigte damals nach dem Krieg dringend Lehrer, da ja die meisten Männer im Krieg gefallen waren oder sich in Kriegsgefangenschaft befanden.
Die Mittelschule wurde später auch als Realschule bezeichnet. Heute gibt es den Ausdruck Mittelschule nicht mehr. Allenfalls spricht man noch von der „Mittleren Reife“ oder wie es heute richtig heißt, der Fachoberschulreife.
Obwohl mein damaliger Klassenlehrer, Herr Steffens, mit meinen Eltern über einen Schulwechsel zu einer weiterführenden Schule gesprochen hatte, und zu ihnen meinte, dass ich das „Zeug“ für den Besuch der Mittelschule hätte und er dies empfehlen würde, haben meine Eltern es abgelehnt. Mit „das wäre ihnen zu teuer“ und „das könnten sie sich nicht leisten“, begründeten sie ihre Entscheidung. Die nächste Mittelschule befand sich in Osterholz-Scharmbeck. Das Fahrgeld für den Bus war ihnen zu teuer, ohne den ein Schulbesuch aufgrund der Entfernung unmöglich gewesen wäre. Dazu kam das Argument, dass man alle Schulutensilien und die Schulbücher, die man benötigte, damals selbst bezahlen musste. Außerdem hätten meine vier anderen Geschwister auch keine „Höhere Schule“ besucht. Das wäre meinen Geschwistern gegenüber nicht gerecht, wenn meine Eltern mir das nun ermöglichen würden. Außerdem bräuchte ich das nicht. Alle anderen wären auch gut untergekommen und hätten qualifizierte Berufe erlernt, mit denen sie ein gutes Auskommen hatten. Klar war das viel zu kurzsichtig gedacht, aber das war nun damals so. Man musste schnell Geld verdienen, um zum Einkommen der Familie beizutragen. An alles andere, wie zum Beispiel an eine bessere und einfachere Zukunft oder gar an einen akademischen Beruf dachte man nicht!
Und damit war das Thema erledigt! Natürlich wurde ich nicht gefragt, was ich gern gemacht hätte. Ich hätte sehr gern die Mittelschule besucht. Aber die Entscheidung war gefallen!
Doch war es auch so, dass von meiner Volksschule in Teufelsmoor nur vereinzelte, wenige Schüler zur Mittelschule gewechselt hatten. Zum Gymnasium ging kaum mal jemand.
Die meisten Eltern waren einfache Bauern, die eine Landwirtschaft auf ihrem Hof betrieben und die Kinder (vor allem die Söhne) sollten und mussten den Betrieb als Jungbauern meist weiterführen – fast immer ungelernt. Sie waren nur mit den Kenntnissen ausgestattet, die sie von ihren Eltern übernommen hatten. Eine weitere Lehre bzw. eine zusätzliche Ausbildung benötigten sie nach deren Meinung nicht.
Meine gute Freundin Christa zog später auch weg von Teufelsmoor nach Neu Sankt Jürgen, wo das Torfwerk stand, weil ihr Vater dort arbeitete und nicht jeden Tag immer wieder den weiten Weg vom Heimatort zum Werk machen wollte.
Ich bedauerte das sehr und fand es äußerst schade, dass Christa nun nicht mehr bei mir in der Nähe wohnte, denn sie war ein echter, guter Kumpel für mich. So konnte ich mit ihr über alle Probleme, die ich mit meinen Eltern hatte, ausgiebig reden. Sie gab mir Tipps und fing mich auf. Ihre Art, mich zu verstehen, beeindruckte mich sehr. Wenn ich – wie so oft - mal wieder Prügel von meinen Eltern bekommen hatte, hat sie mich immer trösten können.
Nun sollte sie also demnächst nicht mehr da sein. Der Gedanke war für mich nur schwer erträglich. Sie muss wohl genauso oder zumindest ähnlich empfunden haben.
Deshalb vereinbarten wir, dass wir uns ab und zu gegenseitig besuchen wollten. Mit dem Fahrrad brauchte man, wenn man kräftig in die Pedale trat, etwa 20 Minuten. Allerdings besaß Christa kein eigenes Fahrrad. Deshalb bin dann ich meist zu ihr gefahren. Ich hatte richtig Sehnsucht nach ihr. Wir hatten uns früher auch schon oft von Mund zu Mund geküsst, und waren so richtig verliebt ineinander bzw. das, was wir damals für Liebe hielten. Mit 7 Jahren hatten wir uns schon verlobt und wollten später dann heiraten. Das hatten wir uns damals geschworen! Selbst wenn ich später nach Hüttenbusch umziehen würde, dann war die Entfernung von Hüttenbusch nach Neu Sankt Jürgen nahezu dieselbe wie jetzt von Teufelsmoor dorthin. Ich würde Christa weiterhin in ihrem neuen Heimatort besuchen können. Das hatten wir alles schon überprüft und festgestellt, dass es passen würde. Für mich war das eine sehr schöne und lebenswerte Zeit, weil wir uns so supergut verstanden haben.
Mein Bruder Heinz, der inzwischen mit dem Bau seines neuen Hauses nahezu fertig war, kam eines Tages unverhofft zu Besuch. Ich war neugierig und wollte wissen: „Wann können wir denn endlich in unsere neue Wohnung bei dir im Haus einziehen?“ „Aus genau diesem Grund bin ich heute zu euch gekommen.“, verriet er mir. „Die Wohnung ist soweit bezugsfertig. Ich wollte es den Eltern gleich erzählen. Ihr könnt eigentlich sofort einziehen!“
Ich war erleichtert, freute mich und konnte kaum den Tag des Umzugs abwarten.
Bei dem dann folgenden Gespräch zwischen meinem Bruder Heinz und meinem Vater durfte ich dabei sein. Vater sagte zu Heinz: „Wir ziehen nächste Woche bei dir ein!“ Weiter erfuhr ich dann, dass mein Vater wohl schon erste Vorbereitungen für den Umzug getroffen hatte. Einige Dinge waren bereits geregelt worden, ohne dass ich davon etwas mitbekommen hätte. Das überraschte und freute mich zugleich. Jetzt konnte Vater mit den Männern, die ihm beim Umzug helfen sollten, endlich einen festen Termin vereinbaren.
Am nächsten Tag erlebte ich die nächste Überraschung, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ein mir bekannter Großbauer aus Teufelsmoor fuhr mit einem imponierenden Traktor vor, der einen großen Wagen hinter sich herzog. Ich überlegte angestrengt, was der denn bei uns wollte. Das konnte doch noch nicht das Fahrzeug für unseren Umzug sein!? Der Bauer stieg vom Traktor und begab sich direkt in den Kuhstall, wo sich mein Vater aufhielt. Er hatte sich extra Urlaub von seinem Arbeitgeber geben lassen.
Es dauerte ein wenig und ich fragte mich schon, was die da im Stall bloß machten. Plötzlich ging die Tür auf, und der Bauer und mein Vater kamen jeweils mit einer Kuh aus dem Stall.
So langsam ahnte ich etwas. Der Bauer hatte unsere fünf Kühe gekauft und holte sie nun ab, um sie auf seinen Hof unterzubringen. Die Tiere wurden alle zusammen auf den großen Wagen verladen und abtransportiert. Mir machte das nichts aus. Ich empfand eher Freude und Erleichterung als Wehmut, weil ich ja nun die Kühe nicht mehr beaufsichtigen und versorgen musste. Natürlich machte ich ein Pokergesicht und ließ mir meine freudigen Gefühle nicht anmerken.
Der Tag darauf wurde für mich genauso spannend wie der letzte und der darauffolgende.
Der Bauer von gestern stand wieder vor der Tür - allerdings mit einem anderen Anhänger als am Vortag. Diesmal hatte er einen geschlossenen Planwagen an den Traktor angehängt. Heute holte er unsere sechs Schweine und die restlichen Gänse und Hühner ab. Für das Federvieh hatte er extra einige Käfige mitgebracht, in die er die Tiere sperrte und auf den Wagen verlud. So konnte er alle restlichen Tiere, Schweine, Gänse und Hühner zusammen abtransportieren und musste nicht mehrfach hin- und herfahren.
So bekam ich rein zufällig mit, dass der Bauer unser gesamtes Vieh gekauft hatte.
Ein anderer Bauer von nebenan kaufte unsere Landmaschinen und -geräte, so dass nun bei uns auf dem kleinen Hof nichts mehr vorhanden war, was an einen landwirtschaftlichen Betrieb erinnerte. Ein neues anderes Leben als bisher würde jetzt beginnen, und ich freute mich darauf.
In meinen Gedanken lebte ich schon in Hüttenbusch. Das Haus war mir ja bekannt, weil ich es mir schon einmal angesehen hatte. Auch meine Eltern waren mit dem Motorrad schon ein paar Mal nach Hüttenbusch gefahren, hatten sich das Haus angeschaut, ausgemessen und erste Planungen, wo unsere Möbel zukünftig stehen sollten, vorgenommen.
Endlich kam der Tag des Umzugs. Mein Vater hatte immer noch Urlaub. Der Arbeitgeber meines Vaters, die Firma Drettmann, stellte ihm einen großen LKW mit Fahrer für den Wohnungswechsel zur Verfügung.
Seit längerer Zeit hatte ich schon meine wenigen Sachen, die ich besaß, in einen alten großen Koffer gepackt, weil ich so ungeduldig war und diesen Tag kaum erwarten konnte. Spielsachen hatte ich eh nur wenige. Außer meinem Kreisel und einem richtigen, echten Lederball, auf den ich besonders stolz war, besaß ich nicht viel. Dazu kamen meine Sportsachen wie Fußballschuhe, Trikots und Sporthosen. Soweit ich konnte, habe ich dann aber auch meiner Familie beim Packen geholfen.
Der Umzug lief dank der großen Hilfe, die wir hatten, reibungslos ohne größere Probleme ab. Er begann früh morgens und alles, was in die neue Wohnung zu transportieren gewesen war, befand sich bereits am späten Mittag in Hüttenbusch.
Meine Brüder und Schwägerinnen haben am Nachmittag, als der ganze Hausrat sich bereits in der neuen Wohnung in Hüttenbusch befand, beim Einräumen und Aufstellen der Möbel kräftig mitgeholfen. Trotzdem hat es schon ein paar Tage gedauert, bis alles verräumt war.
Auch in der neuen Wohnung gab es kein eigenes Zimmer für mich. Ich schlief wie bisher auch weiterhin bei meinen Eltern im Schlafzimmer. Wir hatten in unserem neuen Zuhause nur 3 Zimmer zur Verfügung und deshalb stand mein Bett mit im elterlichen Schlafzimmer. Da sich für mich diesbezüglich nichts an den räumlichen Verhältnissen verändert hat, war das alles auch kein Problem für mich. Außerdem war das damals nichts Besonderes und allgemein üblich.
Begeistert waren wir alle darüber, dass wir nun ein eigenes Badezimmer in der Wohnung hatten. Darin gab es ein weißes Waschbecken mit fließend kaltem Wasser und eine prächtige Badewanne, die wir als reinen Luxus empfanden. Ganz besonders stolz waren wir auf die eigene Toilette, die ab jetzt unser Leben deutlich einfacher machte.
Bisher hatte es das bei uns in Teufelsmoor nicht gegeben. Stattdessen stand draußen im Hof ein altes unästhetisches Plumpsklo, das vor allem im heißen Sommer fürchterlich stank. Bei jedem Wetter, bei Kälte, bei Regen, bei Schnee oder auch wenn es einem nicht gut ging, musste man nach draußen einige Meter über den Hof laufen und diese ungemütliche Einrichtung nutzen. Das neue Bad war dagegen für uns richtiger Luxus und eine unglaubliche Erleichterung.
Natürlich musste ich seit dem Umzug auch von hier aus in die Schule gehen. Der Weg war gar nicht so weit, sondern viel kürzer als der von Teufelsmoor aus.
Hier war sowieso alles feiner und schöner als vorher in Teufelsmoor.
Helmut Feldmann mit seiner Schwester Erika vor dem Elternhaus
In Hüttenbusch stand ein kleiner, aber netter Bahnhof, es gab eine Kirche mit einem angrenzenden Friedhof, einen praktischen Arzt, viele verschiedene Handwerksbetriebe sowie mehrere Krämerläden und sogar einen Schlachter, der in anderen Regionen als Metzger bezeichnet wurde. So gab es hier gute Möglichkeiten sich zu versorgen, ohne dass man allzu weit fahren musste. Es war viel bequemer als in Teufelsmoor und weil eben vieles in der Nähe war, benötigte man deutlich weniger Zeit für seine täglichen Besorgungen, die einem an anderer Stelle zugutekam.
Etwas abseits lag auch ein großer Fußballplatz, was mich besonders freute. Dem Bolzplatz angeschlossen befand sich ein gemütliches Vereinslokal mit einer Gastwirtschaft.
Da ich nun in Hüttenbusch gern weiter Fußball spielen wollte, besuchte ich dieses Sportvereinshaus, weil ich mich in dem Verein als Mitglied und Spieler anmelden wollte. Aber das war gar nicht so einfach! Man händigte mir erst mal einen Antrag auf Mitgliedschaft aus, den ich ausfüllen musste. Dazu erhielt ich ein Merkblatt, in dem alle Regeln, die der Verein aufgestellt hatte, aufgelistet waren. Das Problem dabei war, dass meine beiden Eltern diesen Antrag unterschreiben mussten. Mein Vater war sofort einverstanden und setzte seine Unterschrift unter das Formular. Aber meine Mutter wollte absolut nicht, dass ich in dem Verein Mitglied und Spieler wurde. Das verstand ich überhaupt nicht. Mir war das doch so wichtig! Ich bin zu meinem Vater gelaufen und habe mich bei ihm ausgeweint und ihm das alles erzählt. Tatsächlich bin ich bei meinem Vater auf Verständnis gestoßen. Es war das erste Mal, dass er mich getröstet hat und mir versprach, dass er „das“ mit meiner Mutter regeln würde. Ich war ihm dafür so dankbar und erleichtert, denn das Fußballspielen war eine der größten Leidenschaften von mir. Mein Vater hielt Wort. Ein paar Tage später bekam ich dann auch von meiner Mutter die so sehr ersehnte Unterschrift.
Im Verein wurde ich ganz herzlich aufgenommen. Man wies mir die Position des Außenstürmers in der E-Jugend zu. In Teufelsmoor hatte ich bisher als Mittelstürmer gespielt.
Einmal in der Woche fand das Training statt. Vater kaufte mir sogar richtige Fußballschuhe. Dafür war ich ihm sehr dankbar. Die Schuhe waren mir sehr wertvoll. Sie sollten lange Zeit halten. Deshalb habe ich sie auch immer sehr intensiv gereinigt und, so gut ich konnte, gepflegt. Trikot, Hose und Strümpfe bekam ich vom Verein FC Hüttenbusch gestellt. Zwar musste ich meine Fußballbekleidung selbst waschen, weil Mutter sich weigerte, das zu tun. Aber das nahm ich gern in Kauf, weil ich doch so leidenschaftlich Fußball spielte. Das war immer eine schöne Zeit, wenn ich diesen Sport ausüben konnte und durfte.
Vater litt zu dieser Zeit bereits stark an Asthma. Es wurde immer schlimmer mit seiner Luftnot. Seit kurzem schluckte er oft so ein weißes Pulver. Nach einiger Zeit konnte er dann wieder besser und leichter atmen. Er fuhr nun seit unserem Umzug nicht mehr mit dem Motorrad, sondern mit dem Zug zu seinem Arbeitsplatz als E-Schweißer bei der Firma Drettmann in Osterholz-Scharmbeck. Im Bahnhof von Hüttenbusch stieg er in den Zug ein und am Bahnhof Osterholz-Scharmbeck wieder aus. Direkt daneben lag das große, moderne Firmengebäude der Firma Drettmann. Es war sehr günstig und bequem für ihn zu erreichen. Viel besser als von Teufelsmoor aus, wo er für die Fahrten von und zur Arbeit immer das Motorrad benutzen musste, weil es von dort keine vernünftige Zugverbindung gab.
Selbstverständlich besuchte ich auch die Kirche von Hüttenbusch. Schließlich hatte ich dort alle 14 Tage meinen Konfirmanden-Unterricht. Der zuständige Pfarrer hieß Pastor Pelzer. Auf den traf ich immer wieder in der Kirche. Der Posaunenchor, der dort spielte, zog meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Ich war mit meinem ganzen Herzen dabei, so großartig fand ich ihn. Gern hörte ich zu, wenn er kirchliche Lieder spielte.
Das muss dem Pastor Pelzer auch wohl aufgefallen sein. Irgendwann fragte er mich: „Sag mal Helmut, ich habe dich beobachtet und glaube, dass du großen Spaß an dem Posaunenchor bei uns hast. Wir haben gerade zu wenig Musiker und suchen dringend Nachwuchs, der den Chor verstärken würde. Hättest du nicht Lust, dort mit zu musizieren?“
„Oh ja, das würde ich schon sehr gern machen. Aber das kann ich doch gar nicht! Ich kann weder das Instrument spielen noch kann ich Noten lesen!“, antwortete ich leise und traurig. Der Pastor machte mir jedoch Mut. „Das kann man alles lernen. Du musst es nur wollen!“, beruhigte er mich.
Und ob ich wollte! Über dieses Angebot war ich sehr erfreut. „Ja, dann gern!“, antwortete ich begeistert. „Dann werde ich mal deine Eltern besuchen und alles mit ihnen besprechen.“, kündigte er an. Der Pastor kam noch am selben Abend zu uns in die Wohnung und sprach mit meinen Eltern darüber. Erstaunlicherweise haben die zu meiner großen Freude und Erleichterung sofort ihre Einwilligung gegeben.
Jeden Mittwochabend hatte ich dann seit dem Posaunenunterricht. Ab und zu dachte ich noch an früher als ich mittwochs immer den Hühnerstall ausmisten und reinigen musste. Ach, um wieviel besser hatte ich es doch jetzt!
Bereits nach ein paar Monaten hatte ich die Noten erlernt und konnte schon die ersten Kirchenlieder spielen. Ich durfte nun auch die Posaune mit nach Hause nehmen, um jetzt zusätzlich dort weiter üben und trainieren zu können. Das tat ich häufig und mit großer Leidenschaft.
Es war zwar immer ziemlich laut, aber ich störte ja niemanden damit. In der näheren Umgebung gab es keine Nachbarn, die sich hätten beschweren können.
Der einzige, auf den ich Rücksicht nehmen musste, war mein Bruder Heinz. Er arbeitete als Beamter bei der Deutschen Bundesbahn im Rangierdienst. Dieser lief rund um die Uhr, so dass mein Bruder also gezwungen war, im wechselnden Schichtdienst tätig zu sein. Wenn er dann mal Nachtschicht hatte, habe ich mit dem Üben auf der Posaune natürlich auf ihn Rücksicht genommen und gar nicht oder nicht so lange geübt.
Inzwischen hatte ich in Hüttenbusch neue Freunde finden können, mit denen ich häufiger etwas unternahm. Ich hatte nun mehr Freizeit, weil ich nicht mehr so viel arbeiten musste wie früher. Hans, Heini und Didi wurden zu meinen besten Freunden. Hans spielte auch im Posaunenchor mit. Er blies die Trompete. Wir beide haben oft zusammen in der Kirche das Spielen unserer Instrumente geprobt.
Jeden Sonntag gab es in dem Gotteshaus einen kleinen Auftritt, bei dem wir spielen durften.
Der Gottesdienst begann immer um 10 Uhr. Die Mitglieder des Posaunenchors waren dazu verpflichtet worden, sich bereits um 9:30 Uhr auf der Empore in der Kirche einzufinden.
Direkt neben den Musikern hatte auch der Orgelspieler seinen Platz. Ich bewunderte ihn neidvoll, weil er so virtuos die Orgel beherrschte. Ich liebte sein Spiel und wäre auch gern Organist geworden. Er thronte richtig über seinen Registern, Tasten und Pedalen, die er alle koordinieren musste. Trotzdem entlockte er der Orgel wundervolle Töne.
Unser Posaunenchor bestand aus 14 Musikern. Es handelte sich dabei fast ausschließlich um ältere Herren, die dort spielten. Als Ausnahme gab es da noch den etwas jüngeren Trompeter, der Peter hieß und 28 Jahre jung war. Hans und ich waren aber die einzigen Kinder im Posaunenchor.
Ich kenne das Alter von Peter deshalb noch so genau, weil Peter mir etwa ein Jahr später zusätzlich noch das Trompetenspielen beigebracht hatte.
Zwischen dem Musizieren mit Posaune und Trompete gab es schon ein paar gewichtige Unterschiede. Aber weil ich diese Blasinstrumente so sehr liebte und Spaß daran hatte, auf ihnen zu spielen, lernte ich auch das Trompeten ziemlich schnell.
Gern bin ich immer in die Kirche gegangen. Man musste mich nie dazu zwingen. Ich besuchte sie immer aus freien Stücken, langweilte mich nie und fühlte mich dort einfach wohl und geborgen. Ja, ich glaubte auch fest an Gott – so, wie ich das heute immer noch tue.
Wir waren von evangelischer Konfession. Meine Eltern sind allerdings nie in die Kirche gegangen. Das fand ich überhaupt nicht gut, es störte mich. Auch meine Geschwister besuchten sonntags nicht die Kirche, was mich schon ein wenig enttäuschte.
Seit ich in dem Posaunenchor mitspielte, habe ich auch gebetet – mit Unterbrechungen jeden Abend bis heute!
Ob meine Eltern gebetet haben, das weiß ich nicht. Ich habe sie nie danach gefragt.
Ich hatte als Kind bereits eine feste Bindung zur Kirche und zu Gott, an den ich ja ganz fest glaubte.
Betonen möchte ich noch, dass ich seit dem Umzug nach Hüttenbusch deutlich besser von meinen Eltern behandelt worden bin, und ich mich sehr viel besser und wohler gefühlt habe. Ich bekam deutlich weniger Sanktionen zu spüren als noch in Teufelsmoor. Vielleicht lag es auch daran, dass ich älter geworden war. Zwar bekam ich hin und wieder immer noch mal Prügel. Gründe dafür waren dann beispielsweise, wenn ich Fußball gespielt hatte, im Anschluss an das Spiel noch mit der Mannschaft ein wenig unterwegs war und ich dadurch zu spät nach Hause gekommen bin. Auch wurde es nicht geduldet, wenn ich nach dem Sport mit verschmutzter Sportkleidung nach Hause kam. Dann gab es doch wieder Schläge. Aber insgesamt nicht mehr so häufig wie früher und auch vielleicht nicht mehr mit solcher Heftigkeit und brutaler Gewalt.
Inzwischen war ich schon 10 Jahre alt geworden, aber leider immer noch sehr klein an Körperlänge. Die meisten anderen Kinder waren in diesem Alter deutlich größer als ich.
Ich machte mir Gedanken darüber, warum das wohl so war. Mich beschäftigte diese Frage so sehr, dass sie mir keine Ruhe ließ. Ich überlegte, wer mir wohl eine Antwort dazu geben könnte. Mir fiel mein Lehrer ein, der doch so viel wusste und deshalb fragte ich ihn danach.
Von ihm erhielt ich die Erklärung, dass das nun in der Natur ebenso ist, dass es größere und kleinere Menschen gibt und dass ich mal mehr essen sollte. Klar, dass ich mit dieser Antwort nicht wirklich zufrieden war. Aber eine plausiblere oder einleuchtendere habe ich leider nie gefunden.
Auch in der neuen Schule, die ich nun in Hüttenbusch besuchen musste, existierte eine Schülerfußballmannschaft. Besonders spannend empfand ich immer die Spiele, die wir in den Pausen gegen die 6. Klasse – ich war inzwischen in der 5. – ausgetragen hatten. Ich war immer sehr schnell im Laufen und hart im Nehmen. Aber ich spielte immer einen fairen Fußball. Da ich aus dem Stand sehr hochspringen konnte, konnte ich per Kopfball viele unerwartete Tore erzielen – genauso wie auch in meinem Verein, dem FC Hüttenbusch.
In diesen Momenten spielte meine geringe Größe überhaupt keine Rolle. Das war ein gutes Gefühl und wirkte sich positiv auf mein Selbstbewusstsein aus.
So wuchs ich heran und wurde älter und älter. Mir ging es in dieser Phase etwas besser im Vergleich zu früher. Ich konnte häufiger spielen und hatte mehr Freizeit, spielte mit meinen Freunden zum Beispiel „Räuber und Gendarm“ oder ähnliches, fuhr Fahrradrennen mit ihnen usw.
So vergingen die nächsten 3 Jahre in diesem Rhythmus, ohne dass etwas Besonderes oder Erwähnenswertes passierte.