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ERSTES KAPITEL
ОглавлениеBlank wie ein leergegessener Teller lag der Bodden vor dem Bug des Bootes, dessen Vorsteven den Weg durchs Wasser in zwei Hälften teilte. Das Fahrzeug wurde von einem schwerfällig nagelnden Diesel angetrieben; die Bugwellen wuschen längs und verwirbelten achtern am Spitzgatt, um sich wieder in die gläserne Ebene einzufügen. Das Boot war aus dem Breetzer Bodden gekommen, hatte den Wittower Fährhaken hinter sich gelassen, den Rassower Strom etwas querab, und hielt jetzt hart an der Kante des Tonnenweges auf die Südspitze der Halbinsel Bug zu. Schließlich war der Schiffsführer dem angesteuerten Ankerplatz so nahe, dass er die Drosselklappe schloss und das Boot auslaufen ließ. Achtern lugte der Schornstein am alten Marinehafen Rennort über die Wipfel der niedrigen Bäume. Zwei Fischereifahrzeuge lagen beigedreht in Höhe des alten, längst nicht mehr genutzten Posthauses am Fischerhaken und die Kraft der Bugwelle reichte aus, um die großen Kutter in schaukelnde Bewegung zu versetzen. Zwei Mann auf dem einen der beiden Boote stapelten Kisten auf oder um, offenbar den Fang, nicht viel, obschon die See noch ausgab. Einer sah kurz auf, als das kleine Boot den Kutter passierte und grüßte, indem er träge die Hand zum Mützenrand hob. Es war die Zeit vor Sonnenuntergang. Das dem Mann vertraute Feuer Dornbusch flammte und erlosch in der Wiederkehr seiner Kennung. Endlich schaltete er den Motor ab und steckte Kette; das vor Anker liegende Boot schwojte sachte und lief schaukelnd weich auf. In der Dunkelheit hier zu liegen, unter dem Schutz des Südbug und des Großen Bären, in einer der langen Nächte vor dem Sommersolstium lag in der Absicht des Bootsfahrers. Der Bug, die schmale bewaldete Landzunge, war noch immer oder schon wieder verbotene Zone, aber der Mann hatte gar nicht vor, die Insel zu betreten. Tiere und Pflanzen holten sich das Land zurück, einst nichts weiter als ein kahler, spärlich bewachsener Sander, Poststation und gelegentlich Schafweide, in der alles überwuchernden chaotischen Art und Weise, mit der sich konkurrierende Organismen Lebensraum erobern. Zu dieser Stunde ließen sich schon die leisen Stimmen nachtmunteren Getiers vernehmen, der Schrei vereinzelt fliegender Möwen verschiedener Art, die ungeschickt fliegenden Krähen, und die stummen schwarzen Fischer, die Kormorane, hockten unbeweglich wie Statuen mit halb aufgesperrten Schnäbeln und ausgebreiteten Flügeln auf erhöhten Plätzen, um ihr vom letzten Tauchgang nasses Gefieder zu trocknen, Kolonien von Räubern, deren Ausscheidungen ihre Ruheplätze mit einer kalkartigen harten weißen Schicht markierten und die Bäume bald zum absterben brachten.
Der Mann hatte seine ruhige Nacht gehabt; früh ging er Anker auf und brachte sein Boot wieder in den Rassower Strom. Mit der weit in den Bodden hineinreichenden Seebrücke von Dranske bildete die bis in den Hafen des Wieker Boddens einlaufende Wasserstraße von oben gesehen einen stumpfen Winkel. Als Mann und Boot den Scheitelpunkt des Winkels erreicht hatten, kam der Turm der Kirche Wiek im Frühdunst in Sicht; der Bootsführer legte Ruder und das Fahrzeug drehte in die Ansteuerung ein. Bei halb geöffnetem Standgas und schäumender Bugwelle – der Knochen zwischen den Zähnen – kam die lange Boddenseite, flach und an manchen Stellen mit Steinen wie gepflastert, schnell näher. Die Hafeneinfahrt war wegen der Pfahlreste, einer Steinaufschüttung in West und dem stillgelegten Ladeviadukt nicht groß, aber recht gut passierbar. Wie sie in diesen Gewässern einst Marinemanöver durchgeführt hatten, erschien dem Mann heute seltsam und fern. Nahe der Bootswerft, an der Werftpier waren einige für alle freie Liegeplätze und eine Fischereifahrzeugen vorbehaltene Anlegestelle. An der langen Binnenseite des Viaduktes sollten Fähren ankern; allein der Hafen sah aus, als sei er von Nutzfahrzeugen aufgegeben.
Mit gedrosseltem Standgas hatte der Steuermann die Hafeneinfahrt forciert und ließ sein Boot bei langsamer Fahrt nahezu einen Kreis beschreiben; es war die beste Art, in diesem Falle die einzige, Schub aus dem Fahrzeug zu nehmen und an einen freien Liegeplatz aufzukommen. Sorgfältig, obgleich im geschützten Hafen, belegte der Mann die beiden Polder achtern mit Festmachern; dann stieg er breitbeinig nach vorn und kletterte auf die Pier, um sein Boot auch vorn festzumachen. Es war Klock sieben geworden, die Sonne arbeitete sich durch den Frühdunst, wärmte jedoch schon kräftig. Und der Wind lebte etwas auf und bewegte die Blätter an den Bäumen der Uferpromenade; es würde ein schöner, vielleicht ein heißer, ein verheißungsvoller Sommertag werden. Dafür sprachen der Sonnenaufgang und die Morgenfrische. Hartmann war erst kurze Zeit im Besitz dieses Bootes; er hatte es am Vortage, einem Mittwoch, rasch entschlossen gekauft, ohne zu handeln und ohne eine genaue Vorstellung, was er mit diesem Boot anders anfangen wollte, als auf einem Bodden der wasserreichen Insel oder auf einer der Seewasserstraßen zu liegen und zu kreuzen, um Zeit totzuschlagen. Das Angebot, der niedrige Preis hatten seine Kauflust kaum geweckt und ihn veranlasst den Handel abzuschließen. Gewiss brauchte er sich vor keinem zu rechtfertigen und zu fragen oder um etwas zu bitten, war seine Sache ohnehin nicht. Ein reaktivierter Seeoffizier, der sich nach seiner Entlassung aus dem Dienst im Zivil wie verkleidet, seiner Würde beraubt und sehr überflüssig vorkam, blieb er schließlich doch was und wie er einmal gewesen war. Das Boot hatte bei den Fischkuttern im Hafen von Breege abseits der Marina unterhalb der neuen Häuser und dem Fährkai gelegen; es stand zum Verkauf laut handgeschriebener Anzeige, einem Pappschild und ein Junge und ein paar Fischer, die schweren Fäuste unter die Lätze ihrer Overalls gesteckt, standen bei ihren Kuttern auf dem Kai, beobachteten gelassen die schmökenden Räucheröfen auf den Pötten und hielten Klönschnack, während sich eine Frau damit beschäftigte kleine Dorsche und Flundern und ein paar Aale aus dem Frischfang auf Stangen zu spießen und zum Räuchern vorzubereiten.
Grauer, sich kräuselnder Rauch entwich den mit duftendem Wachholder geheizten Blechkisten. Auf Hartmanns Frage nach dem Verkäufer des Bootes hatte sich der Junge als Eigner von der Gruppe Fischer gelöst und auf die weitere, wiewohl verfrühte Frage Hartmanns nach dem Preis, eine nicht sehr große Summe genannt. Unter den Blicken der Männer, die sich in keiner Weise eingemischt, aber still interessiert an der Sache gezeigt hatten, jumpte Hartmann in die Plicht, um sich auf dem Fahrzeug umzusehen.
Es war eine solide Barkasse, dem Anschein nach ein großes ausgemustertes für die hohe See gebautes Rettungsboot. Die schlichte Ausstattung des geräumigen, später aufgesetzten Kajütaufbaus mittschiffs störte sein über das sachlich-fachliche hinausgehende Interesse; ihm stand das Bild pullender Männer vor Augen, in triefendem Ölzeug, bärtige Köpfe unter den Südwestern, in einem offenen, im Wellental versinkendem Boot, das achtern gerade einen Brecher übernahm. Er sah sich weiter um. Am Mittelschott in Nähe einer Mastspur – jemand hatte aus dem Rettungsboot offenbar einen Motorsegler machen wollen, den Versuch aber wieder aufgegeben - befand sich ein Schifferofen auf einem Steinfundament, dessen Abzugsrohr nach draußen führte. Feuerholz und ein paar Briketts lagen davor, auch eine Schachtel mit Streichhölzern, als hätte eben angeheizt werden sollen. Auf eine der beiden Brennstellen des Spirituskochers stand eine verrußte eingebeulte Kanne aus Aluminium mit den eingeprägten Großbuchbuchstaben NVA, Nationale Volksarmee. All dies gab Aufklärung genug; in dieser Gegend hatten Grenzbrigade und Marine einst alles versorgt und vielen genützt, legal und illegal; die Region war wirtschaftlich vielfach mit dem Militär verbunden gewesen, wovon etwa noch die Menge des zu Gartenpforten verarbeiteten Baustahls, einem in keinem Baugeschäft angebotenen Material, zeugte. An der Marine waren die Inselbewohner seit der Kaiserzeit gewöhnt; die Schiffe der Volksmarine hatten also nur eine ältere Tradition fortgesetzt.
Bei der Breite des Bootes hatte, wer auch immer die Umbauten vorgenommen, Platz genug für einen Weg am Kajüttisch vorbei ins Vorschiff begehbar gemacht. In dem Raum zwischen Vorderkajüte und Salon gab es die auf kleinen Booten üblichen Einbauschränke. Back- und Steuerbord sowie am Querschott waren die Sitzbänke mit Kissen, Decken und einem Schlafsack belegt, den Hartmann unschwer als zur Offiziersausrüstung der NVA gehörend erkannte. Im Vorschiff waren zwei Kojen aus Kiefernbrettern eingezimmert; dort lagerte einiges an stockfleckigem altem Zeug, das muffig roch; im Bug zwischen Vorsteven und Schott befand sich noch Raum für einen Anker und die Kettenlast.
Nun, die Geschichte dieses Bootes war Hartmann klar genug; es war gebaut, in Dienst gestellt, irgendwann als überflüssig ausgemustert, verkauft und immer wieder verkauft worden, von jedem neuen Eigentümer verändert, aber die Substanz des alten Bootes konnte nicht beschädigt werden. Von der eichenen Außenhaut, den dicken Bodenbrettern, auf die der Kajüttisch angebolzt war, bis zu den Backkisten im Cockpit und dem Diesel, den Hartmann zur Probe startete, weil der Zündschlüssel steckte, aber nicht warm laufen ließ, als der Motor, nach einem stotternden Anfang, bockend zuerst, in einen unregelmäßigen Takt gefallen war, stimmte hier noch alles. Diesem Boot fehlte die Eleganz einer Yacht, es war ein schlichtes Arbeitspferd, stark und ehrbar und verdiente allen Respekt der seefahrenden Zunft. Oben auf dem Kai hatte der Junge die Unterhaltung mit den Fischern abgebrochen; vermutend oder hoffend, dass es ernst werde mit dem Handel, stieg er in die Plicht, hockte sich auf eine Backkiste und grinste erwartungsvoll, eher verlegen, wie es Hartmann schien, der diesen Eigner unauffällig musterte, um ihn in eine seiner Kategorien einzuordnen: Eine junge faule alte Hafenratte und ein Strandräuber, wenn es sich ergab, zu nichts nutze und zu allem tauglich, so lautete der erste Befund des um etliche Jahre älteren Hartmann. In jedem Hafen gibt es für eine arbeitswillige Hand etwas zu tun. Immerhin zählte diese Sorte Jungmann, die er aus seiner Dienstzeit recht gut kannte, in seiner Liste zu den angenehmeren Zeitgenossen, auch wenn man bei manch einem auf der Hut sein musste. Nachdenklich, nicht ohne Sympathie sah Hartmann in das pfiffige und offene Gesicht des Burschen, der den prüfenden Blick aushielt. Auf Hartmanns Frage nach den Papieren, kramte er in einer Segeltuchtasche herum und erklärte: „Sehen ja selber, was mit dem ollen Kahn los ist, soll auch nicht viel kosten, ist eigentlich gar nicht mehr zu verkaufen. Aber ich geh hier weg, muss hier weg, wer weiß wohin. Wenn Sie wollen, dann werden wir uns sicher einig.“
Hartmann blätterte in den Papieren, der Junge hatte jedenfalls seine Sachen in Ordnung, wie er sah. Er fand einen Kaufvertrag mit dem Datum des letzten Eigentumswechsels und einen jüngeren Prüfbericht der Motorenwerkstatt; der vorherige Eigner damals hatte 1992 ebenfalls weggewollt oder weggemusst, und sein Boot einem anderen überlassen, der nun auch die Insel verließ und das Fahrzeug an einen Nachfolger abgab. Hartmann blickte hinüber zu dem neu erbauten Gebäude, Brücken und Stege, mit allen Versorgungsleitungen ausgestattet; die reichen Yachteigner hatten sich hier eingenistet und das Leben von Grund auf verändert. Während er in den Annalen des Bootes las, entdeckte Hartmann, dass er im Begriff stand, dieses alte Ding zu kaufen; er verhandelte ja bereits.
Wortkarg, nach seiner Gewohnheit, über eine Sache nicht lange nachzudenken, die irgendwo in seinem Inneren entschieden war, schrieb er einen Scheck, zeichnete den Kaufvertrag ab, den der Junge in der Kajüte nach seinem Diktat abgefasst hatte und übernahm die Raja-Tau – in seinen Ohren ein unmöglicher Name für ein Boot mit dem Heimathafen Breege – stehenden Fußes mit allem was drauf und drin, einer Schiffsuhr, die nicht ging, einem Ofen, der vielleicht nicht zog und Pott und Pfanne, auch Geschirr, einem Rest Kaffee in einer Papiertüte vom Konsum alten Angedenkens und einem Paket Zwieback nebst einer Buddel stärkenden Stoffes, den der Verkäufer großzügig und vom Glück bewegt gespendet hatte. Unter den Augen der Fischer, die ihre Fäuste unter der Arbeitskluft hervorgezogen hatten, um ihm einen Schlag Fisch, frisch und von Fett triefend aus dem Rauch in Zeitungspapier gewickelt, abzulassen, nachdem sie zu viert den Handel mit einem Schluck aus der Pulle abgeschlossen hatten, war er nun Eigner des Bootes. Hartmann, am Spätnachmittag einigermaßen verproviantiert, hatte von Breege abgelegt und sein Boot ins Fahrwasser des Jasmunder Boddens gebracht. Als er zurückblickte, sah er den Jungen wieder bei den Fischern stehen.
Dies war die Geschichte eines Sommertages, der mit Überdruss begonnen und glücklich beendet worden war. Im Grunde, dachte Hartmann, handelt es sich bei dem Kauf um einen Dummenjungenstreich; erledigt, nicht mehr rückgängig zu machen und sieben vorbei und acht verweht oder mit dem alten Gruß der Fahrensmänner: Mut voraus und eine klare Kimm.
Seit Jahren hatte er wieder eigenen Kiel unter den Füßen. Während Hartmann, die eine Hand auf der Ruderpinne, mit der anderen die Düffeljacke zuknöpfend, sein Boot laufen ließ, befasste er sich mit den Ursachen für diese Anschaffung und mit den Folgen. Seiner fatalistischen Einstellung nach steckte hinter allem, was man tat, ein verborgener Sinn, so betrachtet war denn zum Beispiel der Kauf dieses Bootes mehr als ein zufälliger Entschluss er brauchte für alles einen Grund und anders hätte der Handel wohl auch nicht so schnell gedeihen können. Was außerhalb der Kontrolle durch Augenschein und Unterbewusstsein ablief, hatte für ihn stets tiefere und niemals im Vorhinein klare Gründe gehabt. Er wäre erstaunt gewesen, hätte ihn ein Menschenkenner als Fatalisten bezeichnet, mit Unsicherheiten rechnend, für die er gerüstet sein wollte, aber doch voller Erwartungen, was sein Schicksal mit ihm vorhatte. In diesem Falle gab es sogar einen Grund, nach einem Ausweg zu suchen, sich nach einer Zuflucht umzusehen. Jedenfalls sah er sich nicht als Angeklagter vor ein Gericht gestellt, wegen eines längst vergessenen tragischen Zwischenfalles, in den er seines Erachtens schuldlos verwickelt worden war. Handeln, etwas tun, um der erzwungenen Tatenlosigkeit zu entgehen; diese ungeheure, so massenhafte wie sinnlose Vergeudung von Lebenszeit, also von Leben selbst, für Freiheit ausgegeben, das war für ihn zum Stigma der politischen Wende schlechthin geworden, der Deformation alles Menschlichen, wie er ringsum beobachtet haben wollte. Wenn wir nur durch Arbeit wir selbst sein oder werden können, dann war es schlecht um die Zukunft des Volkes bestellt. Er wusste wie viel Kräfte das erzwungene Nichtstun verbraucht und schließlich lagen noch Jahre vor ihm, die nicht ohne Sinn hingehen durften, ohne Widerstand gegen dieses Gefühl der Ohnmacht.
Am Mittwoch früh war er mit dem Bus von Dranske nach Juliusruh gefahren, hatte etliche Zeitungen gekauft und sie am Strand sitzend gelesen, aber nichts gefunden, was ihn unmittelbar betraf. In einem der Zentralafrikanischen Länder tobte ein Bürgerkrieg. Hartmann wusste einen Sohn als Soldat bei der Légion étranger in dieser Gegend, Kongo, Uganda, Zaire oder sonstwo in einem dieser kleinen neuen Staaten, die sich noch nicht gefunden hatten und denen vielleicht auch keine Zeit gelassen wurde, eine moderne Zivilisation aufzubauen. Einstweilen rotteten sie sich offenbar untereinander aus. Nicht dass Hartmann wirklich beunruhigt war, die Légion schien nicht an diesem Kriegen beteiligt, aber die Tatsache, dass sich sein Sohn in der Bürgerkriegsregion aufhielt, rückte Afrika näher. Übrigens wartete er immer dringend auf einen Brief Haralds. Nun, die Massaker gingen weiter, wie die Zeitungen schrieben. Gegen Mittag war er hinüber nach Breege gewandert, ohne Ziel eigentlich. Eine Weile konnte ihn das Treiben im Yachthafen und die ein- und auslaufenden Fähren nach Hiddensee beschäftigen, die offenbar in der Hauptsache Radfahrer auf das kleine Eiland hinüberbrachten, die Hiddensee allmählich ruinierten. Hier gab es etwas zu sehen, aber nichts zu erleben; bis er auf dieses Boot an der abseits liegenden Brücke gestoßen war.
Dass ihm Achtung und Respekt von der kleinen Gruppe Fischer und dem Jungen entgegengebracht wurde, mochte er nicht einmal bemerkt haben; es stand ihm zu. Seiner Figur nach war er groß gewachsen und athletisch; sein Gesicht mit tief eingekerbten Wangenfalten sprach von frühen körperlichen Entbehrungen; offen packende, helle kaltklare Augen, alles hob ihn aus der Masse heraus, seine männlich gerade Haltung sicherte ihm überall Aufmerksamkeit. Er war im Training geblieben, trotz seines Alters gut in Form, ein schlanker Mann, was für einen höher Chargierten nicht eben häufig; ältere Offiziere neigen zur Verfettung. So kam es denn zu der Anschaffung.
Sein Vertrauen in dieses Boot war übrigens technisch begründet. Eine alte Barkasse aus gediegener Mooreiche, über robuste stählerne Wrangen aufzubauen, das hatten die Alten gekonnt. Bauweise und Material deuteten auf ein anderes, ein vielleicht besseres Jahrhundert hin, in dem alles dauerhaft sein wollte, nicht auf Verschleiß gearbeitet. Seit vierzig Jahren war dergleichen sicher nicht mehr auf Kiel gelegt worden. Halb in den Niedergang hineingestellt, von allen Seiten zugänglich, stand ein Motor älterer Bauart, dessen hart rotierenden Welle unter der Gräting den Bootskörper vibrieren ließ, dies war für einen Ingenieur wie Hartmann ein wunderbares Gefühl der Sicherheit. Auf dem Kompass in einem transportablen Kasten neben dem Steuerstand schien die Blase unter dem Deckglas und der träge einschwingenden Nadel nach zu urteilen, kein Verlass mehr. Diesen Schaden zu beheben war eine Kleinigkeit und eine angenehme Fummelei. Die kräftige Pinne aus Eiche mit einem geschnitzten Fabelwesen am Griff im Ruderjoch, die Backkisten in der Plicht; Hartmann fühlte sich rasch heimisch auf diesem seinem Boot, seiner Rettungsinsel, sollte es denn zum Äußersten kommen.
Vor der Nase der Südspitze der Halbinsel Bug vor Anker liegend, hatte Hartmann die letzten Fähren dieses Tages vorüberziehen sehen, von Hiddensee kommend, bis an die Reling vollgepackt mit Fahrrädern, ein paar Yachtensegler auf Heimatkurs nach Breege oder Schabrode, dann war endlich Stille eingetreten, die Stille vor der sommerlichen nordischen Nacht mit ihrer zauberhaften Helle. Er setzte Ankerlicht, eine alte petroleumgespeiste Schiffslaterne, die trotz ihrer Jahre noch Dienst tat, und er war daran gegangen, sich in der Kajüte einzurichten, Feuer für Grogwasser auf dem Schifferofen aufzusetzen, Räucherfisch mit Zwieback zu essen und mit Rum nachzuwachen. Das hatte sich gut angelassen und bis tief in die Nacht hinein gedauert. Auf der Bank im Salon ruhend, den Gestank des Dieselöls in der Nase, vermischt mit Fischgeruch, ein Aroma, das ihn nicht störte, im Gegenteil, ließ er sich in den Tag hinüberdämmern. Jedenfalls würde das Boot den alten Geruch nicht verlieren. Recht so dachte er im Einschlafen. Dann war die Glut in dem Ofen und in seiner Seele erloschen, die Nacht hatte ihre Schatten in den Salon gesenkt und Hartmann war mit einem kleinen Rausch hinübergegangen. In der Morgenfrische fröstelnd, von einem Rest Schnaps mehr benebelt als belebt, hatte er den Liegeplatz wieder verlassen, bei trübem Dunst und einer milchigen Sonnenscheibe. Auf seinem dümpelnden Boot gab es Kaffee, der jedes Aroma verloren hatte. Schmeckte das Zeug schon nicht nach Kaffee, so war es immerhin bitter genug, um ihn ganz aufzuwecken. Bei lose belegter Pinne lag das Boot trefflich auf dem Ruder; es steuerte sich gleichsam selbst, wie ein Ochse, der seinen Weg kennt. Immerhin hatte Hartmann auch die Unregelmäßigkeiten im Klang der Maschine gehört. Gründliche Durchsicht und Reparatur standen an und Ölwechsel war sicherlich dringend nötig. Aber ein ganzer Tag mit Arbeit oder zumindest Tätigkeit lag vor ihm; er war hungrig und fühlte sich frei wie lange nicht mehr. Und er hatte einen Entschluss gefasst; das Boot sollte vollständig überholt werden, und zwar vom Fachmann.