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VIERTES KAPITEL
ОглавлениеAn diesem kalten düsteren Dezembertag im Jahre 1967 als sich Niederschlag, Schnee und Eisregen mit Nebel abwechselten, nahm um die Mittagstunde etwas seinen Anfang, das sich zur Katastrophe steigern sollte. Hartmann, damals Oberleutnant und Kommandant eines Raketenschnellbootes und der Wachhabende suchten, auf der Außenbrücke stehend, mit dem Glas bei Schneetreiben die aufgewühlte See nach dem Schatten des gegnerischen Kampfschiffes ab, einer Fregatte der Bundesmarine, die in die Hoheitsgewässer der DDR eingedrungen sein sollte, um deren Durchfahrt zu begleiten. Kommandant und Wachoffizier tauschten Vermutungen aus; hinter den grauen Vorhängen aus matschigem Klumpschnee und dicken Eisschloßen auf ihrem Seezeug nach dem Schatten eines fremden Kriegsschiffes zu suchen, das versprach kaum Erfolg. Der Auftrag war schlicht Blödsinn, denn bei diesem Wetter blieben selbst Kampfschiffe im Hafen. Das Wasser lief in hellen Bächen an den Schutzanzügen herunter, es suchte und fand Wege genug in den Nacken, trotz des Südwesters. Vom Innerraum der Brücke, wo einer der Funkgasten den Bildschirm des Radar nach Objektbewegungen absuchte, kam keine Meldung nach draußen. Sie kreuzten auf etwa vierundfünfzig Grad Nord und dreizehn Grad, fünfzehn Minuten Ost mit Südkurs vor der Prorer Wiek. Der Wachoffizier setzte das Glas ab, klaubte den Schneebrei vom Okular und bemerkte sarkastisch, diese fragliche Fregatte sei offenkundig ein Geisterschiff des warm und trocken sitzenden Oberkommandos. Innerlich stimmte ihm Hartmann zu, hielt es selbst auch für wenig wahrscheinlich, dass sich eine Fregatte im Dezentralisierungsraum, so die militäramtliche Bezeichnung des Operationsgebietes, aufhalte, verkniff sich aber eine Bemerkung und machte einem weiteren Beobachter auf der Außenbrücke Platz, seinem Politstellvertreter. Zu dritt erwarteten sie den Befehl, die Begleitfahrt abzubrechen.
Das Wetter verschlechterte sich eher noch; sie duckten sich unter den Schneeschauern und wendeten die Köpfe ab vom schneidend kalten Wind. Mit erhöhter Fahrstufe, um das harte Aufsetzen des Schiffes zu mildern, kreuzten sie weiter auf der befohlenen Position. Hartmanns Erinnerungen an jene Tage waren widersprüchlich. Einerseits mochte er den Befehl zum Rückmarsch erwartet haben, andererseits hatte er eine Ahnung, dass dieser Einsatz noch nicht zu Ende war, vielleicht noch nicht einmal wirklich angefangen hatte und mit einer überraschenden Wende enden würde. Mit einem Schlage änderte sich denn auch die Situation, als der Messgast ein Objekt meldete; bei der Position Nordperd an der Ostseite Rügens kam auf seinem Schirm ein kleineres Fahrzeug auf.
„Was hat der denn bei diesem Wetter gesehen?“, fragte der Wachhabende ungläubig, aber sein Kommandant hatte dieses Erstaunen nicht teilen wollen. „Den hat’s überrascht, bei diesem Wetter, unglaublich, will nach Hause“, er machte, sich gegen den Wind stemmend, im Schutz der Jacke auf einem Spickzettel Notizen, hielt die Zeit und die Koordinaten fest.
Während sie mit Kurs in Richtung des Fahrzeuges die Verfolgung aufnahm, setzte der Funkgast auf Weisung Hartmanns die Meldung an das Marinekommando und zugleich an die Grenzbrigade Küste ab, mit der Bitte um Befehle. Somit war getan, was notwendig; er erwartete, nein, er hatte gehofft, dass ihm eines der Wachboote die Arbeit abnehmen würde. Allein es kam der Befehl, an dem ausgemachten Objekt hängen zu bleiben. Das Bild aber, das er schließlich im Sichtfeld des Glases hatte, war Hartmann doch als unwirklich erschienen. Ein gegen den Seegang ankämpfender Kutter, von schweren Brechern achtern überrollt, dass die Speigatten nicht ausreichten, um das Wasser abfließen zu lassen, diese vom Sturm hin- und hergeworfene Nussschale drohte jeden Augenblick zu kentern. Auf dem schnellen Raketenboot mit automatischen Bordwaffen durften sie sich sicher fühlen; er setzte also die Aufklärung fort. Sie lagen auf Ostsüdost, kreuzten etwa an der Kante der Ansteuerung Oderbucht.
Heute, mehr als dreißig Jahre später, rief sich Hartmann die Lage ins Gedächtnis; kein Fahrzeug hatte sich unerlaubt unter dem 55. Breitengrad bei 12 Grad Länge aufhalten dürfen, aber der Nervus lag auf der Westseite der Insel, der Seegrenze zur Bundesrepublik. Der Weg nach Fehmarn etwa war kürzer, der Verkehr dichter. Selbst vom Darß aus ließ sich die Distanz zu Gedser selbst schwimmend überwinden, wie die Praxis bewiesen hatte. Aus diesem Grunde war Hartmann auch im Zweifel, was der Kutterführer vorhatte, wenn nicht die offene See gewinnen. Noch nie war Hartmann in die Lage gekommen, ein Fluchtboot oder Flüchtende im Schlauchboot aufzubringen, zuständig für das Aufbringen waren die Küstenwachboote. Sie hatten den Kutter vor sich, zwei, drei Kabellängen querab. Das Boot hisste gerade die polnische Nationalflagge vor, was den Wachhabenden zu der Feststellung veranlasste, einen Polen vor sich zu haben. „Aber wo will er hin? Sollen sich die Polen um ihn kümmern“, schlug er vor, sah seinen Kommandanten fragend von der Seite an, bei dem schließlich die Entscheidung lag. Selbst ein kleineres Boot als dieser Kutter konnte die Distanz bis in dänische Gewässer durchaus bewältigen, und hatte überdies Aussicht, von der Bundesmarine oder eines unter fremder Flagge fahrenden Schiffes aufgefischt zu werden. Unter fremder Flagge fahrenden Schiffen stand nach Seerecht das Durcheilen anderer Hoheitsgewässer zu; dass sie überprüft wurden, stand auf einem anderen Blatt. Nur, Fluchten wurden in der wärmeren Jahreszeit unternommen, nicht im Dezember, und nicht bei solchem Wetter, bevorzugt auf der anderen Seite der Insel, zwischen Darß und Falster, der Wismarer Bucht oder Fehmarn mit der größeren Wahrscheinlichkeit unter den Schutz der Bundesmarine zu kommen. Das Mare Baltikum der östlichen Seite gehörte den Warschauer Verbündeten.
Aber weshalb eigentlich war er, Hartmann, damals von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass dieses Boot unter falscher Flagge fuhr? Die Antwort, die er sich auch heute nur geben konnte, war einfach; einmal hielt er den Kutterführer für einen guten Seemann, der sich zutraute auch bei Schlechtwetter die Sperre zu brechen und zweitens wurde sein Denken durch den „Kalten Krieg“ gesteuert, als nicht wenige in Ost wie in West den Umschlag in die heiße Phase befürchtet hatten. Die Mauer stand sechs Jahre, jede Bewegung im Grenzraum wurde als Provokation und als feindliche Handlung aufgefasst. Sein, politisches Weltbild, das eines Soldaten an der Grenze, ließen kaum eine andere Haltung zu. Er, wie alle aktiven Befehlshaber, ob zu Lande oder zur See, behandelten den Versuch, die DDR illegal zu verlassen, wie ein aktives gegnerisches Unternehmen, das zum Waffeneinsatz zwang.
Politisch lagen die Dinge komplizierter, wie ihm durchaus klar gewesen ist. Als Offizier, durch Eid verpflichtet die Grenze zu bewachen und alles andere der Politik, der Justiz zu überlassen, durfte er es sich privat leisten, über das Warum und die Folgen zu philosophieren, aber auf seine Handlungen hatte das keinen Einfluss und ein dermaßen zugespitztes Grenzproblem, nämlich die Bürger vom Verlassen des Landes zu hindern, hatte keines der befreundeten Mächte. In der Tat wurde das Delikt „Republikflucht“ schwer bestraft, gegen alle internationalen Regeln und Abkommen, ganz weil es sich um eine Lebensfrage der DDR handelte. Auf dem Landwege war die Flucht infolge der Mauer und Grenzzäune erheblich eingeschränkt worden, über See erschien es manch einem weniger gefährlich als der Landweg, der durch Hindernisse wie Mauer, Draht und automatische Schießeinrichten gesicherter war. Selbst auf dem sogenannten Todesstreifen lauerten Tretminen.
Eins zog das andere nach sich; die Bundesmarine ließ es sich angelegen sein, diese Jagdszenen in den Hoheitsgewässern der DDR zu beobachten. Hartmann entsann sich einer früheren Begegnung als er dumm genug gewesen, einer Bundesfregatte den Flaggengruß zu entbieten, was drüben mit dem Vorheißen einer Galgenschlinge beantwortet worden war und ihm im Übrigens auch noch einen scharfen Verweis eintrug. Ihm war also klar, dass es sich um keine abstrakte Grenze handelte, und die Marineführungen beider Seiten betätigten sich scharfmacherisch genug. Dass sich die Bundesrepublik als alleinigen deutschen Staat sah und der DDR das Existenzrecht abstritt, hatte auf die Ausübung der Hoheitsrechte des östlichen deutschen Staates kaum Einfluss; kurz, Hartmann hatte damals über die Absichten des Kutters vor sich keinen Zweifel gehabt. Ein Fischer auf der Heimreise, gleich welcher Nationalität, benahm sich anders, zumal ihm nichts passieren konnte, sollte er aufgebracht werden. Dieser Kutter suchte offenbar in neutrales Gewässer zu entkommen.
„Na, dann los, fangen wir uns diesen Vogel mal ein“, am gereizten Ton, den er sonst nicht anschlug, mochte die Brückenwache seine Entschlossenheit gespürt haben, das Boot aufzubringen. Nach dem Befehl, auf die höhere Fahrstufe zu gehen, Mannschaften unter Deck zu befehlen, sie also auf ihre Gefechtsstationen zu schicken, röhrte die beschleunigte Maschine auf; der Bug des Schiffskörpers hob sich aus der See und die vielen Pferdestärken brachten das Raketenboot, auf dessen Manövrierfähigkeit sie stolz waren, in kurzer Zeit in Rufweite an den Flüchtling heran. Die Marine, in der Hartmann gedient hatte, besaß wie die Landstreitkräfte der Volksarmee eine besondere Befehlsstruktur. Sein sogenannter Politstellvertreter stand zwar im Rang unter ihm, hatte aber einen bestimmten Einfluss auf die Handlungen seines Vorgesetzten; innerhalb der Parteiorganisation des Bootes und der Besatzung konnte er eventuell Befehle des Kommandanten zur Disposition stellen, falls er es für erforderlich hielt, konnte, ein bloß theoretischer Fall. Persönlich lagen Hartmann und sein Politstellvertreter in keiner Konkurrenz, was auch kaum denkbar gewesen wäre. Hartmann galt als scharf, aber korrekt, ein Kommandant, der viel verlangte, aber auch viel konnte, was andererseits wiederum der Besatzung zur Anerkennung außerhalb der Bordatmosphäre verhalf. Aber zwischen einem Manöver und einem Ernstfall besteht ein Unterschied; bestimmte Dinge sind eben nicht zu simulieren. In den Minuten, in denen der Abstand zum Fluchtkutter verringert worden war, besaß Hartmann noch immer kein Konzept, wusste nicht einmal, wohin das andere Boot wollte, dessen Fahrt durch die Nordwestdrift nach Süd versetzt wurde, also an Weg verlor. Er beobachtete, dass der Bootsführer den Kurs änderte und auf die offene See zuhielt; damit bekam er Wind und Seegang dwars. Dass der sich drüben unter diesen Wetterbedingungen ausgezeichnet hielt, alles aus der Maschine herausholte, stand bei seinen Verfolgern fest. Etwas wie ein sportliches Interesse kam ins Spiel. Auf dieser Distanz hätten sie an das der offenen See zustrebende Boot in Sekunden längs gehen können; längs gehen, Bord an Bord, um die Überprüfung des Bootes und der Besatzung vorzunehmen, die übliche Methode bei den Kontrollen durch Seepolizei, Marine oder Zoll- und Lotsenkutter. Ein solches Manöver aber konnte nur mit Zustimmung des zu kontrollierenden Bootes ausgeführt werden, beide durften keine oder nur geringe Fahrt machen, schon gar nicht bei so schwerem Wetter. Dass der dort drüben nicht bereit sein würde die Fahrt zu stoppen, stand für Hartmann fest. Das zwang, nach einem anderen Weg zu suchen, den Flüchtling aufzuhalten. Bei Seegang und Sturm musste der Bootsführer sein Fahrzeug manövrierfähig halten, dennoch ließ Hartmann den Flaggengast Stopp signalisieren. Aber was gab es denn für Möglichkeiten? Den drüben durch Waffeneinsatz, das heißt, durch eine Drohgebärde, einzuschüchtern da ein Bord-an-Bord-Manöver unter diesen Bedingungen seiner Einschätzung nach riskant oder sogar unmöglich war. Der Wachoffizier ahnte wohl, in welche Verlegenheit sich sein Kommandant gebracht hatte; aber er schwieg. Und der Kutter tanzte voraus auf den Wellen, versank, hob sich wieder aus der schweren See. Vermutlich aber hatte er noch einen anderen Grund gehabt, weshalb Hartmann das Aufbringen nach Piratenart verwarf; ein paar seiner Leute hätten hinüberspringen müssen; mit einem Handgemenge war zu rechnen, falls der oder die sich drüben zur Wehr setzten. Wenn der oder die drüben bewaffnet waren, konnte die Aktion schief gehen und der eine oder andere seiner im Polizeidienst ungeübten Männer zu Gefangenen und sie alle zu Geiseln machen. Was dann? Blutvergießen musste und wollte er vermeiden. Noch hatte er die Möglichkeit den anderen seiner Wege ziehen zu lassen und sich eine Rechtfertigung seines Handelns auszudenken.
Unterdessen lief Zeit durchs Stundenglas; der Flüchtling hatte wiederum einen Kurswechsel eingeleitet, um ihn abzuschütteln; er hielt zurück in die Prorer Wiek. Dass sich oben etwas tat, hatte sich unter der Besatzung infolge der Maschinenmanöver herumgesprochen; ein paar Gasten lungerten trotz des Befehls unter Deck zu bleiben achtern herum und klammerten sich an den Aufbauten fest. Funkverkehr von Schiff zu Schiff war in jenen Tagen mit einem Küstenfahrer nicht immer möglich; jedenfalls reagierte der drüben nicht auf das Ansprechen über Funk und der mechanischen Klappbuchs.
„Der spielt mit uns und wir können nichts machen“, diesen Gedanken drückte der Wachhabende auf der Brücke aus, in einem Tonfall zwischen Anerkennung und Empörung und genau so empfand auch sein Kommandant. Hartmann erinnerte sich heute eines Gefühls der Hilflosigkeit. Es galt, dem da drüben das Gesetz des Handels abzunehmen. Als Soldat sah er sich herausgefordert; was hier vor sich ging, passte nicht in sein Schema von Macht und Recht und Gesetz; dass eine solche Nussschale seinem Kampfschiff Paroli bot, hatte seinen Jagdtrieb geweckt. Es war ihm eine Lehre. Der Kampf wurde von einem einzelnen Mann an der richtigen Stelle entschieden. An der Planung eines Unternehmens konnten viele teilhaben, vor Ort fiel nur einem die Verantwortung zu. Sein Wachhabender war ihm bei dem Befehl, die Buglafette klar zu machen jedenfalls nicht nur als überflüssig, sondern sogar als hinderlich erschienen. Die Haltung des Mannes drückte weder Zustimmung noch Widerspruch aus, aber einen stummen Protest, die innere Ablehnung seines Befehls, etwa in der Art: Ist der Alte wahnsinnig? Mit Kanonen auf Spatzen schießen? Will er das? Auf dem Vordeck zogen die Artilleriegasten die Plane von der automatischen Doppellafette. Für einen Moment riss der Himmel auf, ein schräger schwefelgelber Sonnenpfeil beleuchtete den weißen Schaum auf dem bewegten Lawinenfeld, einer Wellenhöhe von anderthalb Metern. Es mochte ihm damals zum ersten Male in seiner Laufbahn als Soldat die reale Lage eines vor Ort handelnden Kommandanten klar geworden sein, diese Gelegenheit der Bewährung, der schöpferischen kinetischen Entfaltung oder einfach der Macht.
Manchmal setzte das Boot drüben hart auf, das Heck hob sich und versank wieder, aber der Kutter machte immer noch Fahrt, wenn das Heck wieder einsetzte und die Schraube drehte. Sie kämpften beide, das Schnellboot und der Kutter unterdessen bei sechs, vielleicht sieben oder mehr Windstärken und Schneetreiben; der eine um sein Leben, der andere um den Sieg. Hartmann, entschlossen, dem Katz-und-Maus-Spiel ein Ende zu machen, ließ den stampfenden und rollenden Kutter überholen und legte sich dwars, um ihm den Kurs abzuschneiden. Sie waren jetzt nahe genug, um das Boot genauer zu identifizieren; es handelte sich um ein Fischereifahrzeug mit den typischen Deckaufbauten achtern bei einem hohen Vorsteven und seitlichem Fanggeschirr, für das Befahren von Küstengewässern und zum Fischen gebaut und auf allen europäischen Meeren ähnlich.
„Ein polnischer Fischer“, wiederholte der Wachhabende, auf die Flagge weisend, die im Sturm steif wie ein Brett auswehte. Kurz danach hatte Hartmann den Feuerbefehl gegeben. Das Geräusch übertönte kaum den Lärm des Sturmes. Dann geschah etwas Merkwürdiges, in dieser Situation Komisches; der Steuermann trat drüben aus dem Ruderhaus, ballte die Faust und schrie etwas, das der Wind verwehte, fuhr aber weiter. Der Umschlag vom Denken zum Handeln kam in einem bestimmten Moment aus Verblüffung, Ärger und Wut wegen der Dreistigkeit dieses Flüchtlings über Hartmann. Der nächste mit Schnee vermischte Regenschauer ging auf die in geringem Abstand fahrenden Boote nieder, der Kutter auf seinem Lavierkurs, das Schnellboot längs, manchmal eine Kabellänge voraus, dann wieder zurückfallend. Sie hätten sich von Bord zu Bord unterhalten können, ohne den heulenden Sturm. Und dreißig Jahre später rief Hartmann das Gefühl wieder auf, das ihn zum Krieger gemacht hatte, als er bebend vor Zorn und Hilflosigkeit nach einer im Rahmen seiner Möglichkeiten liegenden Antwort auf das blödsinnige Verhalten des Kutterführers suchte, der wissen musste, dass er keinesfalls entkommen und einfach versenkt werden konnte. Bei einem versuchten Grenzdurchbruch zu Lande hätte er, Hartmann, exakt und scharf schießen lassen oder selbst geschossen. Das Mittel, diesen Gegner aufzuhalten, war ihm im Sekundentakt gekommen; der Rammstoß, ungeachtet der Wirkung auf das eigene Boot. Die Befehle, nach dem Sprung in die Innere Brücke, gab er rasch, bestimmt und folgerichtig. Der Anlauf begann unter voller Kraft; der mittschiffs durch einen harten Stoß getroffene Kutter legte sich mit zersplitterten Planken langsam auf die Seite. Der Schiffsführer war aus dem Steuerhaus geschleudert worden, während das Schnellboot volle Kraft rückwärts lief, um von dem Gerammten freizukommen. Drüben trieb er im Wasser und schnell ab, hilflos mit den Armen rudernd; sein Kutter wurde auf der Steuerbordseite liegend von den Wellen überrollt. Die Jagd war zu Ende.
Mit Bootshaken zogen sie den schon leblosen Mann heran und verholten ihn an Bord. Die Aktion war geglückt und Hartmann erinnerte sich wieder der Ruhe, die über ihn gekommen war, ob der Befriedigung über diesen Ausgang. Der Wachführer, den er nach vorn geschickt hatte, meldete einige, dem Augenschein nach unbedeutende Schäden am eigenen Bug. War auch die Schwere des Rammens nicht voraus zu berechnen gewesen, so war das Manöver im Großen und Ganzen gut ausgegangen, das eigene Boot manövrierfähig geblieben, das fremde gestoppt und der Grenzverletzer gestellt, somit der Auftrag erfüllt. Dass diese Geschichte ein Nachspiel haben würde, war ihm, Hartmann, allerdings klar gewesen; alles würde auf die Bewertung seiner Handlungen durch die Führung ankommen. Nun, in diesem Augenblick mochten die positiven Empfindungen überwogen haben, gleich, was danach kommen würde. Er musste sich dann wohl dem nächstliegenden zugewendet haben, der Rettung des Bootsführers; ihn zu töten oder schwer zu verletzten, hatte nie in seiner Absicht gelegen. Der kräftige junge Kerl, den sie aus dem Wasser gefischt hatten, war unter den Händen der Helfer in der Messe rasch wieder zu sich gekommen; er würde das kalte Bad unbeschadet überstehen, wie der Stellvertreter meldete. Zeit und Ort des Ereignisses, die Schilderung der Umstände dieser Aktion schriftlich festzuhalten, die Landbasis zu informieren, Befehle abzuwarten, der Mannschaft zu danken; dies war noch zu leisten und auf Heimatkurs nach Saßnitz zu gehen oder wohin der Chef das Boot geführt haben wollte. Übrigens entsann sich Hartmann seiner Verwunderung damals, dass dieses Holzschiff ein Fahrzeug wie das seine aus bestem Schiffsstahl beim Rammen überhaupt zu beschädigen vermocht hatte; aus einem zu spät bestoppten Anlauf hätte leicht ein Überlaufen des Kutters werden können mit erheblich größeren Schäden an den eigenen empfindlichen Schrauben. Dass im letzten Seekrieg Rammstöße häufiger waren, wusste er aus dem theoretischen Unterricht, hatte aber nie damit gerechnet, ein solches Manöver einmal ausführen zu müssen.
Während Hartmann seine Aufzeichnungen für den Rapport überprüfte, die Ohrmuscheln des Kopfhörers angeklemmt, erschien sein Politstellvertreter und erklärte stotternd, dass sich laut Aussage des Festgenommenen noch zwei weitere Personen an Bord befunden hatten, seine Frau und die Tochter, ein Kind, beide von ihnen unbemerkt, im Ruderhaus kauernd. Hartmann erinnerte sich nur zu gut dieses Augenblicks der Unheilbotschaft; sie starrten beide auf das inzwischen kieloben treibende, von den Brechern überrollte Boot, dessen Schicksal besiegelt war. Seit der Bergung und Wiederbelebung des Kutterführers, seit sie das treibende Kutterwrack, auf Befehle wartend, in langsamer Fahrt umkreist hatten, mochte eine Stunde vergangen sein, eine für Schiffbrüchige im eiskalten Ostseewasser absolut tödliche Zeit. Zwar hatte er zwei Männer, Freiwillige, zum Tauchgang hinübergeschickt; sie kehrten bald an Bord zurück; die Suche nach den Toten wurde aufgegeben. Endlich konnte er, Hartmann, das Unternehmen mit dem Befehl zur Heimfahrt abbrechen; bei Schneetreiben und Sturm herrschte in dem auf Heimatkurs liegenden Boot, den Kutter im Schlepp, eine bedrückende Stille. Die junge Mannschaft stand unter dem Eindruck des Geschehens. Der Tod fuhr mit diesem, ihrem so energischen wie glücklosen Kommandanten. Nach außen gelassen und gleichmütig taten die Stabsmatrosen ihren Dienst, vermieden aber laute und private Gespräche. Als die Backschafter in der Mannschaftsmesse auftischten, kauten und schluckten die Männer, was man ihnen vorsetzte wie an einer Henkersmahlzeit. Hartmann sah vorwurfsvolle und verschlossene Gesichter, als er die Messe betrat, um ein paar Worte zu sprechen. Bei den Offizieren auf der Brücke war die Stimmung anders, aber kaum besser, keiner sprach, wie naheliegend, über den Vorfall. Um etwas zu tun, hatte sich Hartmann den Gefangenen vorgenommen und ihn zum Sprechen gebracht. Der Mann saß in trockenen Sachen vor ihm und schluckte heißen Tee, während er berichtete. Seine Geschichte fügte sich zu diesem Bild zusammen.
Er wollte in Eberswalde eine gut gehende Reparaturwerkstatt betrieben, einen Einmannbetrieb, und Fahrzeuge für Behinderte umgebaut und damit gut verdient haben. Einen materiellen Grund abzuhauen, hatte er nicht, wie ja übrigens die Mehrzahl der Flüchtlinge aus gesicherten Verhältnissen heraus die Flucht in den Westen antraten, in guten Verhältnissen gelebt hatten. Von der polnischen Küstenwache unbemerkt oder nicht aufgehalten, war er in See gegangen, mit dem von ihm im Tausch gegen ein Auto und einer Zuzahlung erworbenen Fischkutter. Polen wollte er aus geschäftlichen Gründen öfter besucht haben, was ihm auch erlaubt worden war, trotz der angespannten staatlichen Beziehungen zum sozialistischen Brudervolk. Die Jahreszeit erschien ihm wegen der häufigen Schlechtwetterphasen günstig für eine Flucht, aber seine Frau hatte er doch erst an Bord zur Flucht überredet. Sie hatte geglaubt, auf einer kurzen Probefahrt zu sein. Die Frage des Gefangenen, ob er seine Frau sprechen könne, ließ Hartmann unbeantwortet. Aufgrund seines früheren Dienstes bei der Marine hatte sich der Gerettete für befähigt genug gehalten, ein Boot siebzig oder einiges mehr an Seemeilen auch bei Schlechtwetter mit Frau und Tochter nach Bornholm zu bringen.
Er markierte Stumpfsinn, als ihm Hartmann Schuld am Tode der Frau und seines Kindes vorhielt; brabbelte etwas von Weihnachten in Spanien und von einer Tankstelle, die er sich einrichten wolle. Den Gefangenen Handfesseln anzulegen, wie ihm Hartmann befahl, war der Stellvertreter zögernd nachgekommen; Hartmann mochte es, nach dem, was vorgefallen war, gereizt haben, herauszukriegen, wie weit er gehen konnte, bis ihm widersprochen wurde. Er hatte vielleicht der berüchtigte Master next God sein wollen, für eine kurze Zeit. Über seinen Befehl dachte er heute wie damals; Fesselung war bei einem so unternehmenden Mann zu ihrer aller Sicherheit vernünftig gewesen und hatte natürlich nur solange gedauert, bis sie den Mann abgeliefert hatten.
Auch die Rückfahrt verlief schlecht; die schwache Schlepptrosse brach und sie mussten das Kutterwrack aufgeben; es sank sehr schnell. Die Position des Wracks hielten sie für den Fall fest, dass es geborgen werden musste. Vor dem Einlaufen in den Standort hatte Hartmann der Mannschaft seine Anerkennung für die bestandene Prüfung aussprechen wollen, um ihnen das Schuldgefühl zu nehmen. Dass auf See die Beziehungen der Menschen untereinander, auch zu einem Feind anders sind, als an Land, verstand er immerhin. Hier hatten Seeleute einem Kameraden Schaden zugefügt. Angesichts der Stimmung verzichtete er darauf, wollte sich nicht anbiedern und überließ es dem Stellvertreter, die Männer politisch wieder auf Linie zu bringen. Übrigens hatte sich wohl auch nicht nur einer unter der Mannschaft befunden, der als geheimer Informant in seinem Bericht deutlicher werden konnte. Immerhin galten die Raketniks als ausgesucht zuverlässige Kämpfer der sozialistischen Sache, und dass ihm die Anwesenheit der beiden Ertrunkenen entgangen war, die laut Aussage des Gefangenen zu seinen Füßen im Ruderhaus gekauert hatten, hielt Hartmann auch heute nach mehr als dreißig Jahren noch für sein persönliches Versagen; anders hätten alle drei vielleicht noch leben können.
Mit den Jahren verwuchs sich die Erinnerung an das Ereignis, aber nun sollte auf Betreiben des geretteten Bootsführers, damals mit ein paar Jahren Haft bestraft und bald von der Bundesrepublik herausgekauft, der Fall juristisch aufgerollt werden. Damals war er, Hartmann, abgelöst und vom Dienst suspendiert, nach Abschluss der Untersuchung aber dekoriert und befördert worden. Hätte er, wie ihm sein Wachoffizier damals vorsichtig nahegelegt, den Mann samt Kutter entkommen lassen, würde ihm vermutlich nicht viel passiert sein, wie er sich bestätigte, und jedenfalls würde er nicht mit einem Verfahren rechnen müssen, das übel für ihn ausgehen konnte. Ob einer der ihm damals Unterstellten noch lebte, und für ihn aussagen würde? Und ob er sich in dieses Verfahren hineinziehen lassen wollte, sollte er noch leben, dies alles war ganz offen.
Als der Bus bei dem kleinen Ort Kuhle hielt, um die Fahrt in Richtung Bug fortzusetzen, sprach ihn die junge Frau an; verwundert fragte sie, ob sie denn nicht nach Juliusruh führen, da sie doch einen Dauerfahrschein beim Fahrer vorgezeigt habe. Hartmann klärte sie darüber auf, dass sie in die falsche Richtung geraten war, bis zum letzten Halt mitfahren und die ganze Tour noch einmal zurück machen musste, was schade, nämlich um die schöne Zeit. Der Fahrer Kaasboom, der dem Gespräch gefolgt war, schloss mit dem trockenen Bemerken, er sei nicht verpflichtet, jeden Karteninhaber nach seinem Ziel zu befragen, und diese Dame hätte ja vielleicht auch bis zum Endhalt mitfahren wollen. Allerdings fand auch Hartmann, dass dem Kaasboom nicht vorzuwerfen war; dieses junge Weib war ein eigensinniges Wesen, das meinte ohne Hilfe durch die Welt zu kommen. Sie sagte, als er in Dranske ausstieg spöttisch bedauernd, es sei schade, dass man sich so bald trennen müsse. Er verstand und sagte: „Nun, vielleicht trifft man sich mal wieder, wenn Sie öfter solche Umwege fahren, um an den Strand zu kommen.“ Sie winkte aus dem abfahrenden Bus heraus und grüßte zurück.