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SECHSTES KAPITEL

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„Wo bist du die Nacht gewesen?“, fragte sie, als er den Aufwasch des Geschirrs beendet hatte und im Begriff stand sein Zimmer aufzusuchen. Er hielt es nicht für nötig, ihr Rede und Antwort zu stehen und von seinem Kauf zu berichten. Sie erwartete auch keine Auskunft, sondern sagte, dass sein Sohn geschrieben habe; dies war eine erfreuliche Nachricht. Sie gab ihm den Brief. Um beim Lesen ungestört zu sein, zog er sich in sein Quartier zurück. Sein Zimmer war ein schmaler einfenstriger Raum, auf der einen Seite mit Buchregalen, einem Schreibtisch, auf der anderen mit einem Klappbett versehen. Es war so eng, dass er sich zum Fenster durchschlängeln musste, wenn er es öffnen wollte. Außerdem besaß er einen Stuhl; er brauchte keinen zweiten, da ihn niemand besuchte. Von seinem Schreibtisch aus, eigentlich nur eine Arbeitsplatte, sah Hartmann über eine Gartenanlage und dem Spüldeich hinweg auf einen Teil der gegenüberliegenden Insel mit dem Leuchtturm Dornbusch und hatte in sternhellen Nächten die Bilder des Himmels vor sich, leider nicht die des sternenreicheren Südhorizont. Auf den Regalen vor seinen Büchern, Fachliteratur zumeist, standen die Fotos seiner Kinder in Wechselrahmen. Sie waren die wichtigsten Beziehungen zu seinem alten Leben, die Brücke zum Leben überhaupt; von Leonore, seiner herrlichen Tochter und frei streifenden Amazone, hatte er zwar seit Monaten keine Nachricht, was ihn aber nicht beunruhigte. Im Notfall würde sie sich mit einem Mayday melden, wenn das Lebensschiff zu sinken drohte. Sein Sohn Harald, der ihm näher stand, meldete sich regelmäßiger. Leonores letzter Brief, in London aufgegeben, zeigte ihre Abreise in die Mongolei an, wo sie nachgezüchtete Pferde einer untergegangenen Rasse auszuwildern hatte, eine Sache, die ihm sinnlos erschien, aber übrigens ganz nach seinem Geschmack war und als Versuch, die Uhr zurückzudrehen, seinen Respekt hatte. Nicht ohne Stolz sprach er sich selbst den größeren Anteil an diesem Erziehungserfolg zu, obschon seine Frau das Kind einst in ihrem Gut zur Ausbildung als Tierzüchterin untergebracht und zum Studium nach Leipzig geschickt hatte.

Sohn Harald, Zögling einer sportlichen Förderschule, konnte in der Tat als ein Produkt seines Vaters und der Fürsorge des Staates für die nachwachsende Generation gelten, den Auszeichnung und Medaillen nach, die er als junger Leichtathlet auf Spartakiaden eingesammelt hatte. Heute dachte sein Vater mit wehmütigem Spott, welch eine Musterfamilie sie einst gewesen waren; Vater Korvettenkapitän und Lehrer der strebenden Jugend, Mutter, promovierte Agraringenieurin, zeitweilig Parteisekretär ihrer Grundorganisation, die Tochter Wildbiologin, der Sohn Fallschirmjäger und Elitesoldat, höher und noch höher hinauf, bis zum Fall. Nach Auflösung der Volksarmee, von der Bundeswehr nicht übernommen, womit er das Schicksal seines Vaters teilte, nach vergeblichen Bewerbungen als Sportlehrer hatte sich Harald zur Fremdenlegion abgesetzt, eine Entscheidung, die sein Vater sowohl mit Beifall als auch mit Verdrossenheit aufgenommen hatte. Jedenfalls aber wartete er immer dringend mit hangen und bangen auf Nachricht seines Sohnes, seit er wusste, dass sich Harald in einem Kriegsgebiet, in Afrika, aufhielt.

Er zog den Brief aus dem Umschlag, drei eng beschriebene Seiten, erfreut über die Länge, was auf ausführliche Mitteilungen hoffen ließ. Zuerst aber betrachtete er verwundert das Bild einer lachenden jungen Frau in Militärbluse und Tropenhut; mit diesem eingelegten Foto verband sich die Nachricht von einem Verlöbnis. Als Schwiegervater wollte Hartmann an seiner künftigen Schwiegertochter Nathalie Georges, von Harald im Hospital kennengelernt, wie er schrieb, die Züge entdecken, die er an einer jungen Frau, an Jugend überhaupt schätzte. In Lebensgröße würde er diese Nathalie nur kennenlernen, wenn er selbst Europa in Richtung Afrika verließ. Er hätte nun immerhin einen Grund gehabt, auf die Reise zu gehen. Den Sohnesbrief las er gründlich. Als er mit der Lektüre durch war, machte ihn das Mitgeteilte eher bedenklich als glücklich.

Zunächst hatte sich der junge Mann mit einer Malariainfektion ins Krankenhaus nach Brazzaville begeben, um dort das Ende des Bürgerkriegs abzuwarten, der in verschiedenen Ländern tobte. General Dallaire, bei seiner Friedensmission von den Vereinten Nationen im Stich gelassen, wollte retten, was zu retten war. Man müsse wissen, schrieb Harald, dass ein friedensstiftender Blauhelm bewaffnet in den Kampf geht, während ein friedenserhaltender nur einen Schreibblock mitbekomme; der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mische sich in keinen Bürgerkrieg. Der Vater möge nachschlagen; unter Kapitel 6 der Charta sei all dies geregelt. In der Praxis komme man aber leicht damit durcheinander. So habe denn Dallaire dem Völkermord an den Tutsi tatenlos und hilflos von seinem Hauptquartier in Kigali aus zusehen müssen und Telegramme nach New York gesendet, mit der Bitte, sein Mandat zu erweitern. Über diesen Völkermord rege sich die vereinte humanistische Welt hinreichend und heuchlerisch auf, aber ihrer aller General sei ein ehrenwerter Befehlsverweigerer, der seinen Posten auch dann nicht verlassen habe, als die Lage für ihn aussichtslos geworden war. Er könne seinen Alten aus dem finstersten Herzen Afrikas versichern, persönlich nur mit einer Malaria, aber auch mit reinen Händen herauszukommen. Seine Einheit werde nach Französisch Guayana verlegt, unter der allgemeinen Legionsdoktrin: Um nichts zu bitten und niemals zu danken. Der Brief schloss mit einer Liebeserklärung von der Hand seiner Schwiegertochter an den lieben Papa; so war denn offenbar die Heirat schon vollzogen und Hartmann hatte Grund stolz und verärgert zugleich zu sein.

Das namenlose junge Weib, die Schielende aus dem Bus, seine zufällige Bekanntschaft, die ihn ausgelacht und später beim aussteigen Sympathie für ihn bekundet hatte, sie gesellte sich nun als vierte dazu. Weshalb aber verstimmte ihn die Nachricht von der Verlegung des Jungen nach Zentralamerika? Hier hätten die Alarmglocken schrillen sollen. Falls er eine Ausfahrt in den Kongo oder dort herum geplant, ins Herz Afrikas des Kameraden Joseph Conrad, war seine Verdrossenheit verständlich; mit Amerika verschwand das Reiseziel. Er zog die Schublade seines Schreibtisches auf; dass er nach etwas Bestimmten gesucht hatte, wurde ihm klar, als er seinen Reisepass in Händen hielt, sein Gesicht auf dem Foto begutachtet und die zweifelhafte Ähnlichkeit mit seinem heutigen Aussehen festgestellt hatte. Wofür aber hatte er den Reisepass gebraucht, da er gar nicht reisen durfte, unter besonders strengen Regeln lebte, dem nicht einmal Briefkontakte mit all und jedem gestattet waren? Wie auch immer, er beschloss, einen Reisepass zu beantragen und wendete sich als nächstes seinen Konten zu.

Der Preis für das Boot, die zu erwartenden Kosten für die Reparatur würden durch keine Zuflüsse ausgeglichen werden. Seine Übergangsbezüge erlaubten ihm keine Rücklagen. Früher hätte man das, was er jetzt tat, das Kapital angreifen genannt, nämlich das von seinem Anteil an dem Hauserlös angelegte Gelddepot aufzulösen, und auf das geschwächte Girokonto zu überweisen und ihm verfügbar zu machen. Seine Gedanken schlugen mit der Frage, ob sich die Kosten für den Umbau lohnen würden, eine andere Richtung ein. Er suchte nach einem Buch in dem Regal, das ihn als Zeugnis an Selbstvertrauen nahestand, Joshua Slocums „Weltreise auf einem Boot“. Hartmann blätterte sich durch bis zu den technischen Angaben der „Spray“, einer Ketsch von sechsunddreißig Fuß über alles, wenig Schiff für einen Ozean an Ungewissheit. Slocum war ein alter Mann, als er das Boot gekauft und umgebaut hatte; das beruhigte. Was er wissen wollte, konnte Hartmann dem Buch immerhin entnehmen. Sein Boot übertraf die „Spray“ an Größe um einiges. Als es klopfte, stellte er das Buch wieder zurück ins Regal. Dieses Zeremoniell des Anklopfens hatte Frauke eingeführt, nachdem er einmal leise, von ihr unbemerkt ins Zimmer gekommen war, was bei ihr einen Herzanfall ausgelöst und die Forderung nach sich gezogen hatte, vor Eintritt anzuklopfen und die Erlaubnis hereinzukommen, gefälligst abzuwarten. Fortan hielt er die Regel ein, wenn er ihr Zimmer, das heißt, einst ihr gemeinsames Wohnzimmer aufsuchte. Festgelege Nutzzeiten des Bades waren gefolgt, bis sein Zuhause durch scharf gezogene Grenzen in Bereiche eingeteilt worden war. In ihrem Innenleben kannte er sich heute noch weniger aus als früher; vielleicht hatte er sie überhaupt nie verstanden, ebensowenig wie sie ihn. Aber damals sah man sich seltener; man konnte sich leichter aus dem Wege gehen. Übrigens sprach er sich von einer Schuld an ihren nervösen Störungen nicht ganz frei, konnte oder wollte daran aber auch nichts ändern.

Sie nahm auf dem heruntergelassenen Bett Platz. Misstrauisch blickte er in das ihm vergrämte, fremd gewordene Gesicht seiner Frau; aber er überwand sich und fragte: „Ist etwas?“

„Nichts besonders“, sagte sie. „Wie findest du es?“

„Wie ich was finde?“

„Den Einfall, dass sich dein Sohn irgendwo in der Wildnis verheiraten will. Unsere Zustimmung braucht er wohl nicht mehr, wie?“

Wenn sie von Harald sprach, legte sie die Betonung auf dein, als ob sie den gemeinsamen Sohn verleugnen wollte. „Nun“, sagte er, „es ist doch wohl normal, dass er heiraten will und ganz gewiss ist es seine Sache, wen und wann und wo. Dass wir ihn in der nächsten Zeit kaum zu sehen kriegen, ist allerdings leider auch richtig.“

„Ich will ihm ja auch keine Vorschriften machen“, begann sie, „mag er heiraten, wen er will, meinetwegen eine Schwarze.“

„Du kannst dir ihr Foto rahmen lassen“, schlug er ärgerlich vor. „Sie ist Krankenschwester, glaube ich, weiß genug und ziemlich hübsch, du hast doch sicher den Brief vor mir gelesen! Also, was soll das Gerede? War das alles? Gibt es sonst noch was?“ Sie sah zur Seite und schwieg gekränkt. Dann erklärte sie: “Nein, viel mehr ja, ich dachte, wir könnten uns eine neue Couchgarnitur anschaffen, Hartmann. Sie schreiben was von einem Preissturz.“

„Wenn du eine kaufen willst, bitte, ich brauche keine.“

„Natürlich, dir reicht das Feldbett, aber sie kosten fast nichts, Hartmann, es ist ein Gelegenheitskauf.“ Beherrscht setzte er nach: „Hör mal, hättest du anders gewirtschaftet, dann …“, sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen und räumte eilig ein: „Ja, ja, schon recht, bloß ist das Geld eben weg und für dich handelt es sich um eine Kleinigkeit. Übrigens, mit dem Hausverkauf; mir ist erst später aufgegangen, dass du mich reingelegt hast, die Folgen habe ich nicht absehen können.“

Mit Nachdruck, als spräche er zu einem Kind, sagte er, sie seien sich einig gewesen, sich einschränken zu müssen, weil dieses Haus mit ihren Mitteln nicht zu halten gewesen wäre. Auch der Notar habe ihnen den Rat gegeben zu verkaufen. Es seien nicht allein die hohen laufenden Kosten gewesen, die ihn zu dem Entschluss trieben, ihre alte Bleibe abzustoßen; anderes war zu bedenken, Beteiligung an den Kosten für Straßenbau und Ähnliches.

„Gib doch zu, dass du mich los sein wolltest. Da hast du mich ausgesteuert und die Kinder aus dem Haus getrieben; fertig, nun seht mal zu, wo ihr bleibt. Eiskalt! Dir nahestehende Menschen.“

Diese Auslegung steigerte seinen Ärger, weil sie ein Körnchen Wahrheit enthielt. „Ach ja“, sagte er grollend, „nahestehende Menschen nimmt man immer in Anspruch, wenn es anderswo keinen Kredit mehr gibt, wie? Möchte wissen wie viele sich mit dem Appell an ihren Familiensinn ruiniert haben!“ Sie baute unbeirrt ihr Anliegen aus; die Raten für die Couchgarnitur könnten von seinem Konto abgebucht werden, er würde davon gar nichts merken und sie ihren Anteil jeden Monat einfach überweisen, mit Zinsen, wenn er es verlange.

„Was willst du denn überweisen? Du kannst doch nichts erübrigen“, sagte er, schon auf dem Rückzug. „Du kommst jetzt schon kaum über die Runden, weil du jeden Dreck haben musst, den du siehst.“

„Na und? Du leistet dir ja auch was du willst, oder? Und schließlich sind wir noch verheiratet, wenn auch unsere Ehe auf den Hund gekommen ist.“

„Und wenn du diese Couch hast, kommt alles wieder ins Lot?“, sagte er sarkastisch, aber ihm fiel ein, dass er vor einigen Stunden ein Boot gekauft, dass er sich also etwas geleistet hatte, ohne sie zu fragen. Was ihm so etwas wie ein Schuldgefühl bescherte. Diese Couchgarnitur, die er nicht brauchte, würde er wohl oder übel bezahlen müssen; er lenkte ein: „Schluss mit dem Gerede. Zeig mir den Katalog, ich will es mir überlegen.“

Sie stand auf. „Aber nicht zu lange. Diese Sonderangebote gelten nur für kurze Zeit und für entschlossene Kunden, wie sie schreiben.“ Darüber konnte er nur die Schultern heben. „Hast du übrigens etwas von deinem Prozess gehört?“, fragte sie, schon in der Tür; er schüttelte den Kopf, und da er schwieg, sagte sie mit einer Warnung in der Stimme: „An deiner Stelle würde ich diese Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen, Hartmann.“

Ihm fiel der Tonfall auf, mit dem sie ihm drohte; er kam nicht mehr zu der Gegenfrage, ob sie etwas wisse, denn sie sagte: “Wenn du vorhaben solltest mit dem Auto nach Hamburg zu fahren, sag es mir rechtzeitig, damit ich mich um Ersatz kümmern kann; ich brauche den Wagen dringender als du.“

Mit dem von ihr dagelassenen Katalog war er schnell fertig; er wählte die billigste der von ihr angekreuzten Garnituren. Das bedeutete eine unvorhergesehene Ausgabe mehr und weniger verfügbares Geld. So machte er sich noch einmal daran, seine Guthaben zu überprüfen, worin er von ihr gestört worden war. Er kam zu dem Schluss, alle Festgeldanlagen zu kündigen, sei es mit Verlust und unter Umgehung der Fristen. Bei den Sachen, die er ständig in einer Blechkiste verschlossen hielt, befanden sich ein wertvoller mechanischer Chronometer, ein zweiter, batteriegespeister, einige andere Uhren. Den im Gehäusekasten verwahrten Sextant; das Glas und einen programmierbaren Kleinrechner verstaute er in seinem Seesack. Unter seinen beiden in ölgetränkter Wolle aufbewahrten Waffen wählte er die Walter, zwei Magazine und Munition. Wäsche, Pullover und andere Sachen stopfte er ebenfalls in den Seesack. Ehe er die Wohnung verließ, legte er seiner Frau den Katalog auf die Ablage in der Diele und hinterließ ihr die Mitteilung, dass er für die nächsten Tage nicht erreichbar sei.


Das Deutsch Haus

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