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DRITTES KAPITEL
ОглавлениеDie Sonne hatte sich durchgesetzt; an einem Himmel aus Königsblau zeigten sich Kumuluswolken, endlich auch die zu langen Ketten aufgereihte Wolken, Gebilde mit quellender Struktur eines Hochs, vom auflebenden Wind wie aus einem Trichter angetrieben, eine Flottenparade majestätischer Segler in Kiellinie. Gewohnt, dem Wetter volle Aufmerksamkeit zu schenken, betrachtete Hartmann diesen prächtigen Aufzug, der ihn an eine seiner Ausbildungsreisen in tropische Gewässer zurzeit des Passat erinnerte. Vielleicht stand es in seinen Sternen dorthin zurückzukehren; er schüttelte das Bild ab.
Auf dem Marktplatz sammelten sich die Fahrgäste. Einheimischen, die ihn grüßten, ohne dass er sich ihrer erinnerte, nickte er zu. Mit Wiek verbanden ihn Erinnerungen an sein altes Leben; die Kirche, in der seine Kinder getauft worden waren, Kinder eines amtlichen Atheisten immerhin, der Markt, die Schule und der Kindergarten, die Neubauten in anderer Richtung zur Wittower Fähre, dazwischen viel ebenes Land unter einem blauen Glassturz, früher Nutzland, heute viel Brache; all dies war ihm vertraut. Die ausgedehnten Flächen der Insel ließen ihn an das allgegenwärtige Meer denken, auf dem er einen gut Teil seines Lebens verbracht hatte. In der Vorstellung aufgewachsen, dieser Teil der Welt gehöre ihm nicht nur symbolisch, sondern wirklich, hatte ihn der wirtschaftliche Niedergang unvorbereitet getroffen. Er verstand nicht, was in den Zentren des Landes DDR vor sich ging, Aufläufe, Demonstrationen genannt, bis es endlich offiziell geworden war, Reisefreiheit für alle, die weg wollten, der Dreh- und Angelpunkt, die Schlussphase des Staates einleitend. Die Folgen der neuen Passgesetze waren hier im Grenzbereich noch kaum spürbar gewesen; eine zeitlang ging alles seinen Gang, bei gespürter Unsicherheit und der Hoffnung, alles werde gut ausgehen oder wirklich besser werden. Ein Jahr später war das Aus für die Streitkräfte gekommen, der Große Zapfenstreich das endgültige Einholen der Staatsflagge, ein feierlicher Augenblick mit letztem Zeremoniell, mit tiefer Erschütterung, mit Tränen und die schmähliche Entlassung aus dem Dienst, für ihn der Ruhestand, das Versorgungsamt.
Wie früher auch herrschte an der Haltestelle Gedränge; das Erholungsheim pflegte die kleinen Gäste und deren Mütter für ein paar Stunden in die Freiheit an die Schaabe zu entlassen. Wiek lag am Bodden, nicht an der See und weißen Strand gab es erst an jener geschwungenen Bucht auf der Ostseite der Insel, der Tromper Wiek, zwischen Kap Arkona und Lohme. Lächelnd sah Hartmann den eingeborenen Gören zu, die sich auf dem Platz tummelten; als ihn einer der Bengels um Geld anging, fuhr er ihn aber wie beleidigt an. Das Kerlchen verzog sich rasch. Aus dem Konzept gebracht, rief Hartmann den Jungen zurück, griff in die Tasche und fischte ein paar Münzen heraus, obschon ihn die Schnorrerei der Kleinen kränkte. Während die Jungen davon stoben, lachte ihn eine in der Nähe stehende, zur Schar junger Weiber mit Kindern, mit Strandsachen, Schaufeln und Bällen beladen, an; er wendete sich ab und wartete auf die Ankunft des Linienbusses aus Bergen, der auch pünktlich eintraf. Hartmann stieg ein und belegte den Einzelplatz rechts vom Fahrer mit freiem Blick durch die Windschutzscheibe. Die Junge, die ihn angelacht hatte, drückte sich an ihm vorbei und plazierte ihre Kinder auf die Sitze hinter ihm. Für einen Augenblick sah er Haarbüschel in ihren Achselhöhlen, als sie die Arme hob, um das Strandzeug über seinen Kopf hinweg in der Ablage zu verstauen. Eine Welle von Schweiß traf ihn. Sie nahm schräg hinter ihm Platz und sah häufig zu ihm hinüber, offenbar kontaktsuchend.
Das Gesicht des jungen Weibes interessierte ihn; blassblaue Augen standen dicht beieinander an der Nasenwurzel; sie schielte etwas, was nicht störte, sondern nur auffiel. Ihr mittelblondes Haar wirkte stumpf und ungepflegt. Zwar wirkte sie verwahrlost auf ihn, aber zugleich auch verlockend. Auf dem bloßen Körper trug sie ein eng anliegendes dünnes, von zwei Trägern über den Schultern gehaltenes Hemd, unter dem sich die flache Brust abzeichnete. Von dieser bunten, nach der Mode gekleideten plappernden Frauen und den laut lärmenden Kindern stach sie ab. Auch ihre Kinder, zwischen sieben und neun, wie Hartmann schätzte, waren ernste und auffallend stille Zeitgenossen. Wie auch immer, als Gruppe wirkten diese Drei isoliert von den anderen Gästen des Genesungsheims. Die Schielende war nicht ihresgleichen.
Was ihn eigentlich an diesem Wesen reizte, wenn nicht Neugier, hätte er erfahren, wäre er seinem Gefühl gefolgt, sie anzusprechen. Dann vermied er es, sie anzusehen. Nachdem sich ihre Blicke einige Male getroffen hatten, sprach umgekehrt sie ihn an; ihre Stimme hatte einen überraschend tiefen Klang. Ehe sich ein Gespräch entspinnen konnte, sagte der an seinem Zahlgerät herumtippende Busfahrer: „Sie kennen einen wohl nicht mehr, Hartmann, watt?“
Vergeblich versuchte er sich dieses Mannes zu erinnern, den er kennen sollte, mit grauem Stoppelbart und schwimmenden wässrigen Augen im gedunsenen Gesicht des Trinkers. Aber in mehr als dreißig Dienstjahren hatte Hartmann viele Menschen kommen und gehen sehen, ohne ihr Gesicht in sein Gedächtnis aufzunehmen. Er gab vor, sich zu erinnern und nahm mit einem Seitenblick wahr, dass die junge Frau dem Gerede aufmerksam folgte.
Hartmann tat erstaunt. „Zeit vergeht, und Sie? Landfahrer geworden?“ Der Busfahrer hatte sich auf dem Sitz halb zu ihm herumgedreht, warf einen wütenden Blick auf seine lauten Fahrgäste im hinteren Teil des Fahrzeuges, um mitzuteilen, dass man in dieser jämmerlichen Zeit halbwegs zufrieden sein müsse, wenn man überhaupt arbeiten dürfe, zum Beispiel einen Bus fahren. „Wissen ja, eine Insel mit viel Bus, steht ja überall dran, von wegen!“ Hartmann wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass sie, das Eheweib des Fahrers, ihn oben unterhalb des Kap festgemacht habe, mit Schloss und Riegel und einem Haus für zweieinhalb mal hunderttausend; demnach Schulden wie Sand am Meer und bis in die aschgraue Ewigkeit abzuzahlen, was alles auf einem Bus verdient werden sollte. Nun erinnerte sich Hartmann an Putgarten, der kleinen Ortschaft, ehemals von einem Gut beherrscht. Neuerdings schleppte eine kleine Bahn, neben den Pferdekutschen die Touristen in bestürzender Menge vom Bushalteplatz hinauf zu den beiden Leuchttürmen, den alten, von Schinkel erbauten und den neuen. Übrigens hielt er selbst die Hohe Dielen und Gellen Ort für die schönsten und ruhigsten Plätze der Insel.
„Immerhin“, erwog Hartmann, Interesse an den Lebensumständen des anderen bekundend, „das Haus gehört Ihnen ja doch eines Tages.“ Im Stillen aber stimmte er zu; alle Frauen zog es magisch zu Haus und Garten, Rittergut oder Kate. Er hätte mit ähnlichen Erfahrungen aufwarten können. Auf Drängen Fraukes, seiner Frau, hatte er in den frühen achtziger Jahren in Saßnitz ein Haus erworben, für eine menschlich denkbare Ewigkeit, die er bald nach der Wende und der Prüfung seiner Lage für beendet erklären musste. Sie hätten beide die Kosten für den Unterhalt nicht mehr aufbringen können. Haus und Garten, wo sie eine glückliche Zeit gehabt hatten, war verkauft worden. Nach flügge werden ihrer beiden Kinder zogen sie wieder in die Mietwohnung des ihnen wohlvertrauten Dranske, wo mittlerweile Lehrstand in der „Platte“ herrschte. Um gerecht zu sein und um reinen Tisch zu machen, wurde der Erlös von Hartmann – eine für seine Verhältnisse beträchtliche Summe infolge der hochgetriebenen Grundstückpreise – in vier gleiche Teile geteilt. So hatte er seine Pflicht gegenüber der Familie getan und sich zugleich von ihr befreit und sich Freiheit zurückgekauft. Seither lebte er mit seiner Frau in Güterrennung auf der Grundlage eines sogenannten Ehevertrages, der sie beide gegen Ansprüche des anderen sichern sollte. Aber die Vermengung ihrer ohnehin nicht sehr guten, eher brüchigen menschlichen Beziehungen mit Geld, hatte ihnen nicht gut getan, sondern ihr Verhältnis nur noch mehr verschlechtert. Dass der Notar auf Vor- und Nachteile des Ehevertrages pflichtgemäß vor der Beurkundung hingewiesen hatte, mochte das Misstrauen gegeneinander nur noch vertieft und aus halbwegs nachsichtigen Partnern sich belauernde Feinde gemacht haben.
Dinge, die bislang vom Staat – und sie hatten zu oft und zu leicht Gesellschaft gesagt und Staat gemeint – gelenkt worden waren, fielen nun in die Verantwortung jedes Einzelnen, worauf sie und er kaum vorbereitet waren. Zur politischen Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik wurde ihre Zustimmung durch Plebiszit und Parlamentswahl im Nachhinein eingeholt, als an der Sache selbst nichts mehr zu ändern war, und als sie längst ahnten, in einer Falle zu stecken. In ihrem abgelegten Raum fehlte es an Anreiz und Gelegenheiten, sich ein anderes Umfeld zu wünschen. War früher verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt, so galt nun die umgekehrte Regel; diese Un-Regel wurde als Freiheit ausgegeben. Dass man für die Anpassung und Sozialisation an Vorhandenes ein ganzes Leben braucht, wurde ihnen erst klar, als die Würfel längst gefallen waren und sie nun einer aufgeblähten Rechtsbürokratie gegenüber standen und sich nicht zu helfen gewusst hatten.
„Sie hat die Fischbräterei oben am Leuchtturm. Auf Pacht und man bloß im Sommer offen, wenn Gäste kommen, wenn sie denn man kommen; anders würde es überhaupt nicht reichen!“ Ohne die Antwort abzuwarten ließ der Busfahrer die Türen zugehen, gebot über sein Mikrophon energisch Ruhe auf dem Kutter und lavierte das für die Straßen der Ortschaft zu lange Fahrzeug um Ecken und Kanten, mit einem wachsamen Blick in den Rückspiegel und sagte: „Kaasboom übrigens, Sperrmeister im gewesenen Leben. Vor Jahr und Tag haben wir beide mal im selben Haus gewohnt, Breitscheid-Straße, Sie oben, ich unten, heute beide unten. Man nennt das die irdische Gerechtigkeit. Na, Sie erinnern sich wohl nicht mehr, sind ja auch bald weggezogen, und nun doch wieder hier.“
„Ach, ja, natürlich, Kaasboom“, sagte Hartmann, ohne dass ihm ein Licht aufging, wer dieser Mann war, ein Sperrmeister, also hatte er auf einem der Räumboote Dienst getan. Wohl möglich, dass sie gelegentlich miteinander zu tun gehabt hatten. Dennoch versuchte er, sich dieses unglücklichen Mannes Kaasboom zu erinnern, eines Unteroffiziers ja immerhin, mit dem er unter einem Dach in einem der Plattenbauten gehaust hatte; in einem gewesenen Leben, nicht übel erfunden für die Fieberkurve ihres Abstieges. Aber die Wohnanlagen, auf die Kaasboom angespielt hatte, galten damals als eine Verbesserung ihrer Lebensqualität; diese Betonbauten, je Block mit einigen Aufgängen und Stockwerken und Wohnungen, hatten für die dürftigen Quartiere der Offiziere und Mannschaften geradezu einen Luxus bedeutet. Die meisten hatten zum ersten Mal ein Zuhause mit fließendem Wasser, warm und kalt, mit Badewanne und Dusche, mit eingebauter Küche und Klosett.
Dranske, das alte Fischerdorf mit einer See- und einer Binnenseite war ein sauberer und begehrter Wohnort geworden, die Bevölkerung an Zahl erheblich gestiegen. Marine, Grenzer, Zivilangestellte in einem bunten Gemisch von Landtörzern war eingezogen. Ein Dach übem Kopf und ein sicherer Arbeitsplatz, Dienst oder Bereitschaft auf einem der damals auf dem Südbug stationierten Boote oder Dienst an Land, an der Seegrenze, dies hatte sich eingespielt. Dank Kaasbooms Hinweis auf die Imbissbude seiner Frau am Kap entsann sich Hartmann nun sogar eines Ausfluges mit der Familie seines Bruders bald nach der Wende; als ihm Karl-Friedrich erklärt hatte, dass er mit Familie in die Freie und Hansestadt Hamburg umsiedeln werde, Anstellung an einer Klinik winke ihm und der Professorentitel. Dass Hartmanns Schwägerin Solveig durch einen ihnen günstigen Todesfalls zu einem beträchtlichen Erbe gekommen sei, erleichtere ihnen hier wegzugehen. In dem leicht gebauten Kiosk aus Fertigteilen hatte eine Frau gebratene Schollen zu gut gefetteten Bratkartoffeln hiesiger Art zubereitet und sie den Fisch gehörig in Bier und Köm schwimmen lassen.
Die Erinnerung an diesen Ausflug löste ein tiefes Missbehagen in Hartmann aus. Mit diesem, an Jahren nur wenig älteren Bruder hatte sich das Schicksal sozusagen selbst übertroffen. Er hatte immer alles, und er hatte alles bekommen, was er wollte. Sein Abgang zu den Fleischtöpfen Ägyptens war Hartmann damals wie Verrat erschienen, diese uns angeborene Eigenschaft, wie Hartmann unerschütterlich glaubte. Aber dieser Bruder wurde demnächst fünfundsechzig und rief ihn zur Jubelfeier. Ob er, Hartmann, zur Heerfahrt nach Hamburg rüsten werde, das stand noch in den Sternen. Die Einladung galt übrigens nur ihm, nicht seiner Frau, der Schwägerin des erfolgreichen Bruders. Durch die Geschwister Solveig und Frauke waren sie miteinander versippt; diese beiden Frauen lebten in heißer Feindschaft miteinander. Sie waren übereingekommen, sich in diesem Leben aus dem Wege zu gehen und ihre Aussöhnung in die bessere Welt zu verlegen. Standen die Schwestern schlecht miteinander so liebten sich die Brüder Hartmann um so mehr. Die Sippe Hartmanns hatte eine kurze aber achtbare Biographie. Der Vater, nach der Vertreibung aus dem Ostpreußischen, Lehrer und Rektor an einer Dorfschule, hatte von niemand Widerspruch ertragen. Den einen seiner Söhne, Hans-Hinrich, als den robusteren und weniger bildungsfähigen bestimmte er zum Seeoffizier, steckte ihn nach eingeprügeltem Abitur in die Uniform; den anderen, Karl-Friedrich, hieß er den weißen Kittel anlegen und in Greifswald an der alten Pommernuniversität das medizinische Handwerk erlernen. In beiden Fälle war seine Entscheidung richtig, den Erfolg in Sichtweite, starb er, ein Haustyrann, der alles mögliche las und sammelte, aber seinen Söhnen nichts vermachte, ausgenommen den herberen Teil seiner Natur, Selbstvertrauen und den Bestand eiserner Normen. Die Offizierschule auf der Schwedenschanze entließ ihn, Hartmann, 1959 mit dem Rang eines Fähnrich. Karl-Friedrich hatte das Physikum schon hinter sich, als sein chirurgisches Geschick durch seinen Lehrer entdeckt wurde, womit beide Brüder in den Familienkreis des alten Professors eintraten. Geformt durch die Doktrin der Zeit, der sozialistischen Gesellschaftslehre, waren sie zwar beide nicht eben erfolgreiche Klassenkämpfer geworden, standen aber immerhin zu einigen der erhabenen Grundsätze dieses Traumes von einem besseren Staat, der sozialen Gerechtigkeit. Der eine hieß nun Professor, war wohlhabend und geachtet, der andere stand mit leeren Händen da, niemand brauchte ihn mehr.
Die Garde stirbt, sie ergibt sich nicht, sagte man in einem anderen Zeitaltern. Die Garde hatte keinen Schuss abgegeben und sich still verhalten. Sozialistisches Militär putscht nicht, es lässt sich aufs Arbeitsamt schicken oder umschulen und in den Ruhestand. Die Garde hatte von den historischen Vorgängen nichts wirklich begriffen und sich des Eides entbinden lassen. Kurz, Hans-Hinrich Hartmann fürchtete sich mit gutem Grund vor einem Besuch in Hamburg. Wohl möglich, dass dort sein Leben eine neue und andere Richtung nahm. Zwischen dem Jetzt und der Reise lag ein drohender Prozess, der den Jahren, die er noch zu leben hatte, ebenfalls seinen Stempel aufdrücken konnte. Bemüht sich die Vorgänge an jenem fernen Wintertag ins Gedächtnis zu rufen, war er erstaunt wie scharf er sich der Einzelheiten entsinnen konnte.