Читать книгу Dame in Weiß - Helmut H. Schulz - Страница 4

Оглавление

Kapitel l

Die Welt damals war von Düften erfüllt und von Geräuschen. Hinter den Fenstern zur Straße standen Bäume mit dichten, im Sommer grüngoldenen Laubkronen. Vom Balkon aus war die Hochbahn zu sehen, und der Stadtverkehr, der durch die Schönhauser Allee toste. Von der Hallandstraße her wirkte der Ausschnitt wie das Riesentor zu einem lärmenden Universum. Sonst war die Welt, in die hinein ich geboren wurde, leise und friedlich.

»Aber du warst alles andere als friedlich«, behauptete Verena, meine Mutter. Häufig nannte ich sie beim Vornamen, was ihr gefiel, weil es die Frau in ihr ansprach.

»Ich verdanke dir einen Dammriss und monatelanges Nierenbluten.«

Verena, eine kleine alte Frau, blauäugig, mit zarten Gelenken und weißem Haar, das sie manchmal unter einer Perücke versteckte, goss Tee in dünnwandige Tassen, den Rest eines Service Hutschenreuther. »Meine Niederkunft ist schrecklich gewesen. Schön war die Schwangerschaft; einen rücksichtsvolleren Mann als deinen Vater hätte ich mir nicht wünschen können.«

Es war eine ihrer alten Geschichten, in denen sie immer die Hauptrolle spielte. Sie ließ sich leicht dazu bringen, von vergangenen Zeiten zu sprechen; ihre Erzählungen variierten je nach ihrer Verfassung. Mich verstimmte, dass sie es mit der Wahrheit nicht genau nahm: Ich hätte gern alles über uns gewusst.

Auf der Messingplatte des Teetisches, an dem wir saßen, lag eine Zierdecke aus seidig glänzendem Garn. Verena liebte es, als Fachmann für diese kunstvolle Stricktechnik zu gelten. Tatsächlich hatte sie sich jahrelang mit der Anfertigung solcher Decken geplagt.

»Mama, könntest du es heute noch?«, fragte ich.

»Ach was, wir sind ja damals verrückt gewesen, uns damit zu plagen.« Sie wünschte es sehr, für besonders robust zu gelten, obwohl ihre Schwäche sie häufig sogar am Ausgehen hinderte.

»Ich kann nur nicht laufen, das ist es«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Als junges Mädel wurde ich überfahren; ich weiß den Namen noch wie heute Erich Amende hieß der Mann. Ich war vierzehn. Mein Vater brachte mich jeden Tag ins Krankenhaus. Trotzdem heilte das Bein nicht richtig. Man musste mir anstelle des Knochens ein Silberrohr einsetzen. Solange ich jung war; machte mir das gar nichts aus. Ich trug eben lange Kleider.«

In meinem Kopf löste ihre Erzählung eine Reihe von Bildern aus, wie von einem laufenden Film. Schon als Kind hatte ich diese Geschichte gehört. Der Name Erich Amende klang mir vertraut wie der eines nahen Verwandten. Dazu gehörte ein Bild, das Bild einer jungen, schlanken Frau, weiß gekleidet bis zu den Füßen. Ich hatte nie begreifen können, dass diese Dame meine Mutter gewesen ist, und ich konnte es heute noch nicht.

»Du bringst alles durcheinander. Diese Aufnahme stammt aus einer viel späteren Zeit. - Es war sechsunddreißig«, sie trank Tee, tupfte mit Daumen und Zeigefinger an ihren Mundwinkeln herum und fuhr fort: »Als dein Vater zum Bau des Westwalles nach Pirmasens ging - ich glaube, der Ort hieß so -, gab es irgendeinen Ball. Ach, es war ein netter Abend.«

Ich berechnete ihr Alter, damals hatte sie die Dreißig schon überschritten.

»Ich war ein Erfolg, darf ich sagen.«

»Und wie war ich?«

»Du warst natürlich nicht mit«, erklärte sie. »Und natürlich ging es dir gut. Allen ging es gut.« Sie zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen.

»Ich kann nur davon ausgehen, wie wir gelebt haben«, verteidigte sie sich. »Und wir sind nicht die. Ausnahme, sondern die Regel gewesen.«

Ich nickte. Das Thema war heikel, weil Verblendung nicht mit Schuld gleichzusetzen ist.

Die Wohnung, in der Verena lebte, war unverändert. Ich geriet auch heute, Jahrzehnte später, wieder in den Sog der Stille, der Ruhe vor der Welt draußen, wo dem Klang eines geflüsterten Wortes Bedeutung zukam.

Von den Zimmern lagen zwei zum Hof. Eines war damals das Schlafzimmer meiner Eltern gewesen; ein weiteres daran anschließendes Zimmer hatte mir gehört; bis ich nach dem Krieg endgültig ausgezogen war. Damals stand die Zwischentür meist offen. Tagsüber hörten wir nur den Schlag des Westminstergongs einer Standuhr im Schlafzimmer.

Es gab noch zwei oder vielleicht nur anderthalb Zimmer, durch eine Tür miteinander verbunden. In dem halben hatte mein Vater seinen Schreibtisch und seinen Bücherschrank, hier stand das Telefon, das erste Radio, das wir besaßen, ein Mende-Super, der erste Fernseher, den wir kauften. Und jetzt saßen wir im großen Balkonzimmer mit Möbeln aus der Gründerzeit, Vorhängen aus Samt und den goldgerahmten Ölbildern der Arzts, meiner Großeltern. Nichts war verloren gegangen oder zerstört worden; Sachen schienen dauerhafter zu sein als Menschen.

»Wir hatten Glück; da es sich in beiden Fällen um Durchgangszimmer handelte, setzte man uns keinen Mieter rein.«

Sie vergaß oder verdrängte, dass sie monatelang in der Angst gelebt hatte, aus der Wohnung gesetzt zu werden. Wir hatten als belastet gegolten. - Die Böcke sollten von den Schafen getrennt werden, und einige Leute waren auf unsere Wohnung scharf. - Einen besseren Vorwand, uns hinaussetzen zu lassen, hätten sie 'kaum gefunden.

Ich öffnete den Klavierdeckel, suchte einen Dreiklang, aber ich fand kaum noch die Töne des C-Dur-Akkordes. Das Instrument war verstimmt, wie immer. In all den Jahren klangen falsche Töne mit; stets sollte es gestimmt werden.

»Es war ein Mann hier«, sagte sie, »der wollte es stimmen, aber er war ungeschickt.«

Angelockt durch meine Spielversuche, trat sie heran, spielte ein paar Takte, und ihr Spiel ließ mir die Nachmittage meiner Kindheit neu erstehen. Die beiden Zimmertüren blieben damals immer offen, oder ich öffnete sie selbst. In jenen Tagen spielte Verena gut, besser als heute. Gelegentlich geriet sie aus dem Takt, ich hörte es an einem verzögerten Anschlag. Hin und wieder legte sie Noten auf und kämpfte verzweifelt mit den Schwierigkeiten des Primavistaspiels. Ihr Ehrgeiz griff zu hoch. Meist endeten diese Versuche mit einem zornigen Glissando und dem Knall des Deckels.

»Du hättest dir ruhig ein bisschen Mühe geben können. Unbegabt bist du nicht gewesen, aber zerstreut. Zumindest, als du ins Reifealter kamst.«

»Ins Reifealter bin ich nie gekommen, Mama.«

Unser Glück oder Unglück bestand darin, eine Generation mit Zukunft ohne Vergangenheit zu sein. Unsere Eltern waren uns 1945 fremd, fremder als sich zu anderen Zeiten Jung und Alt gegenübergestanden. Unsere Entwicklung riss ab, als sie noch kaum begonnen hatte.

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte sie, den Deckel über den Klaviertasten schließend. »Du konntest von Glück sagen, du hattest ein Zuhause. Für dich sorgten Vater und Mutter. Du durftest auch nach fünfundvierzig zur Schule gehen, dich auf das Abitur vorbereiten. Mein Gott, du warst vierzehn, was ist das schon für ein Alter!«

Verärgert lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück.

»Na also, da haben wir es ja wieder mal geschafft, uns zu streiten«, sagte ich.

»Haben wir uns gestritten?' Davon weiß ich nichts. Nur darfst du nicht so tun, als hätte ich schuld, dass alles kam, wie es leider Gottes gekommen ist.«

Ich wollte ihr erklären, dass ich sie keineswegs beschuldigte, alles verursacht zu haben, aber sie unterbrach mich.

»Und im Übrigen kannst du dich heute nicht beklagen. Es geht dir gut. Dummheiten, die du nicht unterlassen konntest, darfst du dir getrost selber zuschreiben; ich will dir etwas sagen, du bist einfach zu empfindlich.«

Ich war empfindlich, und mir lag viel daran, mit ihr zu einer Verständigung zu kommen. Mir schien, sie habe nie über sich und über ihre Irrtümer nachgedacht. Seit Jahren gab sie sich oberflächlich, tat, als wären die besten Jahre ihres Lebens einigermaßen glimpflich verlaufen.

Und dieses Charakterbild meiner Mutter passte nicht zu ihrem Verhalten, später, nach dem Krieg, zu dem Kampf ums Überleben, den sie bestanden hatte.

»Ich bin nicht mehr der kleine Junge, für den du mich noch immer hältst.«

»Zu halten scheinst«, sagte sie prompt, »sonst pflegst du dich so auszudrücken; zu halten scheinst, wenn du mir beibringen willst, wie dumm ich bin im Gegensatz zu dir.«

Ich hasste ihre Stichelei, doch ich schwieg auch deshalb, weil es, sinnlos gewesen wäre, auf ihre Ausweichmanöver einzugehen.

»Aber ich rede, wie es mir passt, das merk dir, mein Sohn.«

»Ob ich es noch schaffe, dich zur Vernunft zu bringen?« Sie überlegte' eine Weile, zuckte dann die·Schultern und fragte: »Bevor ich sterbe? Meinst du das?«

Ich nickte.

»Wären die Verhältnisse geblieben, wie sie waren, würden wir reich sein, oder sagen wir: wohlhabend. Wir hätten unsere Italienreise, unseren Wagen, unser Haus, ähnlich dem in der Wilhelmshagener Straße, kannst du dich erinnern?«

Ihr Gerede enthielt ein Programm. Jenseits der Grenze in Richtung Westen hatte man geschafft, was meine Mutter für den Gipfel des Erreichbaren überhaupt hielt. Der Volkswagen war zur handfesten Wirklichkeit geworden, hatte die Welt erobert, ein Symbol deutscher Tüchtigkeit, Strebsamkeit, Beständigkeit. Die Italienreise gehörte zum Alltag, Fortsetzung des Kraft-durch-Freude-Wunders, an welchem Verena als junge Frau teilhatte, und das eigene Haus war mehr als der Glückstreffer in einer spektakulären Lotterie. Es war die Krönung eines mühevollen bürgerlichen Lebens.

Sie lebte mir etwas von ihrer Norm vor, indem sie beharrlich auf ihre Fähigkeit hinwies, mit solchem Glück zufriedener zu sein als andere mit einem Ideal, das sie entweder nie erreicht oder im Laufe der Zeit wieder verloren hatten.

»Oder willst du leugnen, dass Wohlstand gut ist?«

»Sehe ich so verrückt aus, Mama?«

Sie sah mich prüfend an.

»Immerhin hast du das Haus in der Wilhelmshagener Straße mehr gemocht als dein Zuhause hier bei uns. Selbstverständlich hat meine Schwester auch alles darangesetzt, dich zu sich herüberzuziehen; Barbara, das Neutrum mit dem Mutterkomplex. Ich könnte dir ...«

Mit dem Haus in der Wilhelmshagener Straße verbindet sich die Vorstellung eines sonnendurchglühten Paradieses, des Duftes von durchwärmter feuchter Erde, einer Fülle von großen und kleinen Blumen, die dem Boden verschwenderisch entsprossen wie bunte Hefepilze. Selbst das. Haus war von wildem Wein grün umsponnen, ungehindert trat man von der Veranda ins Freie, drinnen herrschte die gleiche Temperatur wie draußen.

Sumpfkalla, Schilf, Riedgras wuchsen in einem Teich, eine Weide ließ die Vorhangschnüre ihrer Zweige vor einer Bank herunterhängen, und immer noch eine andere Art schob sich durch das Blumengefilz. Rittersporn und Goldlack, Margeriten und Fingerhut standen bei den gutmütigen runden Gesichtern der Sonnenblumen. Ebereschen und eine kleine Blutbuche drängten sich in diesem Garten, der bei Sommerhitze alles erschlaffen ließ. Im Herbst glich er einem bunten Park, um im Winter in ein Bild aus schwarzem Astwerk zu erstarren.

Über der Veranda - ein einziger Raum, der die untere Etage ausfüllte - lagen zwei Schlafzimmer. Nachts stiegen berauschende Düfte zu mir empor, ein Geruch von Verwesung und Zeugung. Das Streichkonzert der Zikaden drang herauf, der Ruf eines Kiwitts, mit lang gezogener klagender Endsilbe, Froschquaken und andere, undeutbare Nachtstimmen ließen mich lange wach liegen, bis ich endlich wie berauscht einschlief.

Tagsüber lebten wir allein in dem kleinen Haus, ich und meine Tante Barbara, für die ich eine heftige, unklare Leidenschaft empfand. Sie hatte die strahlendblauen Augen der Familie Arzt, deren hohe Backenknochen und einen vollen, weichen Mund. Lachte sie, so schien ihr Gesicht aufzuleuchten. Ihr Haar ließ sie lang wachsen, steckte es irgendwie oder ließ es ungekämmt. Groß war ihre Gestalt nicht. Im Sommer trug sie bei der Arbeit - sie zeichnete Buchillustrationen, eine Kunst, die ich bewunderte - einen hellen Kittel mit aufgekrempelten Ärmeln. Ihre nackten Beine sahen unter dem Kittelsaum hervor. Beugte sie sich bei der Arbeit herunter, so fiel manchmal eine Haarsträhne über die blau geäderten Schläfen; ich wartete jedes Mal auf die rasche unbewusste Handbewegung, mit der Barbara das Haar wieder zurückstrich.

In der Veranda stand auch ein Klavier. Obwohl meine Tante es gelernt hatte, spielte sie selten, aber sie hörte mit Andacht Musik, und ich übte meine Sonaten ihretwegen, um etwas mit ihr gemeinsam zu haben. Eine ihrer Eigenschaften, die sonst kein Familienmitglied besaß und die ich besonders schätzte, war eine Schweigsamkeit; die nicht trennte, sondern mir Zeit ließ, etwas auszudenken, zu spielen und zu träumen.

Sie besaß ein Pony und einen langzottigen Hund, der unter der Sommerhitze litt, dafür aber wie ein Otter schwamm und tauchte ...

»Das alles muss nach sechsunddreißig gewesen sein«, sagte Verena, »mein Vater war schon Schuldirektor in Hammelspring. Er zog weg, und so blieb meiner Schwester das Haus. Gott mag wissen, wie sie wirklich gelebt hat. - Ganz recht, du bist gern dort gewesen, du hingst mit einer wahren Affenliebe an Barbara.«

Wie sich Mutter ausdrückte, darin lag etwas Verächtliches. Heute, runde dreißig Jahre später, standen mir die Bilder von damals vor Augen: das Haus, der Garten, meine Tante.

»Sie war eine Künstlerin, gewiss. Wir sind uns immer darüber im Klaren gewesen, dass ihr bürgerliche Norm nicht genügte. Wir ließen ihr ihren Willen.«

Immer wenn die Rede auf Barbara kam, fiel Verena in einen nörgelnden, moralisierenden Ton, redete in dunklen Andeutungen oder in banalen Formen.

»Sie hatte viele Männer, wechselte oft? Ist das gemeint, Mama?«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Wenn es so gewesen sein sollte, dann nahm sie jedenfalls Rücksicht auf ihren und auf den Ruf ihrer Familie, aber sie hatte; was ihre Männer betraf, keine glückliche Hand. Sie war zu problematisch.«

Sie redete um die Sache herum. Sicher wusste sie mehr über ihre Schwester als ich, der sie nach den Kinderjahren nur noch selten zu sehen bekommen hatte. Ihr Urteil über ihre Schwester oder bloß die Andeutung eines Urteils schien mir ungerecht. Dass Barbara anders gelebt hatte als die Familie, dass sie sich etwas abseits hielt, berechtigte keinen zu einer abfälligen Bemerkung, zumal alle vor ihrer eigenen Tür zu kehren gehabt hätten:

»Heuchelei hat es wahrhaftig genug bei uns gegeben. Barbara ist tot, du kannst also ruhig darüber sprechen. Ich werde ihr sicherlich gerechter als du.«

»Du? Gerecht?« Verena verzog ihr Gesicht. »Du warst ein frühreifes Kind. Was du bei meiner Schwester gesehen hast, konntest du kaum verstehen. Barbara schlug aus der Art. Zuerst ging sie ihren eigenen Weg, hielt sich von uns fern. Dann zog sie einen scharfen Trennungsstrich zwischen sich und uns.«

»Man kauft sich kein Pony, wenn man seine Miete nicht bezahlen kann?«

Sie nickte zustimmend. »Mein Vater erhielt sie schließlich am Leben, was in seiner Stellung nicht ganz leicht gewesen ist.«

Ich dachte, dass der Hammelspringer Schuldirektor seine Tochter ebenso erhalten hatte wie der alte Mattias Stadel uns. Mit dem Namen Stadel tauchte in meinem Kopf die Gestalt eines meiner Großväter auf; ich kannte die Männer meiner Familie eigentlich nur in verschiedenen Uniformen. Mattias zuerst als Schwedter Husaren mit dem Totenkopf an der Mütze. In das Bild, einen gerahmten Druck, klebt man sein Porträt ein.

»So lange ist das schon her«, warf Verena, befriedigt über unsere gemeinsame Entdeckung ein.

Später, während des Ersten Weltkrieges, ließ sich der alte Mattias in feldgrauer, tristgrauer Uniform fotografieren, ein spitzes, bartgerahmtes Gesicht, ein sitzender Soldat, die Hände im Schoß wie zum Gebet übereinandergelegt, und eine Frau, hinter dem Stuhl stehend, das Haar in der Mitte gescheitelt, leicht naturkraus, zu den Ohren hin gekämmt. Der Kopf - Marta Dorothea Stadel, geborene Bittner, die Kohlkoppen - schaut aus einem weißen Spitzenkragen heraus, und die Gestalt ist unter einem fußlangen Rock und, einer faltenreichen: Bluse verborgen.

Jetzt betrachtete ich meine Mutter. Ihre kleinen, zartknochigen Hände hatten den Ausdruck von Kraft und Ruhe; ich stellte mir ihr Leben plötzlich in Zeitraffertechnik vor, eine Kette von Bewegungen, auf wenige Momente zusammengedrängt. Kindheit - in einem plustrigen Kleid und einem Blumenhütchen, mit Lackschuhen und Strümpfen; die junge Frau in dem weißen Ballkleid; und jetzt die alte Frau, deren Gesicht sich durch alle diese Phasen nach rückwärts durcharbeitet, bis hin zu dem weichen runden, Babygesicht der Tochter des Schuldirektors Friedrich Wilhelm Arzt, 1904 imstande, der Unschuld geboren.

»In eben jenem Haus in der Wilhelmshagener«, sagte Verena, »Barbara wurde zwei Jahre später geboren und Gusti Nullacht. Die Ersten werden die Letzten sein; sie heiratete von uns Dreien zuerst.«

Ich lebte in dem Glauben, Barbara sei unverheiratet geblieben, es passte wenig zu ihr, eine Ehe zu gründen.

»Sie hat sechsundvierzig geheiratet, einen Maler. Diese Ehe war schrecklich, und sie nahm auch kein gutes Ende.«

Aber Barbara nahm ein gutes Ende. Ich empfand eine große Befriedigung oder Rechtfertigung ihres Lebens in der Tatsache, dass meine Tante nicht in einer Ehe verkommen war.

. »Ich frage mich, weshalb du nicht weißt, dass sie verheiratet war, du, der so in diese Frau vernarrt gewesen ist.«

Meine Erklärung hätte wieder zu dem Thema zurückgeführt, das wir für diesen Teenachmittag hinter uns gebracht glaubten. Im Jahre 1946 war ich zu stark mit mir selbst beschäftigt gewesen. Wie in den Kinderjahren vor der Hochbahn in der Schönhauser Allee stand ich damals vor dem siebenfach gesiegelten Tor zum Leben.

»Ich habe deine Tante während ihrer Ehe oft besucht. Barbara war, wie soll ich es nennen, sorgenvoller geworden. Und dann: Sie tat etwas Unmögliches. Es war die endgültige, absolute Trennung von uns.«

Verena blickte mich streng an. Sie wechselte von der einen zur anderen Rolle, und es klang wie ein unumstößliches Urteil, als sie Barbaras Vergehen mit einem Wort bezeichnete, das für sie selbst außerhalb jeder Betrachtung lag.

In meiner Familie war Kommunismus ein Schreckwort; es bezeichnete jede Dummheit, jede Abgefeimtheit und jedes nur denkbare Verbrechen. Wir glaubten damals noch an alle jene Werte, die in einer alten Tradition standen: an Gott, an eine solidarische Glaubensgemeinschaft, identisch mit Gesellschaft und Staat, an ein deutsches Vaterland, als ein zwar unfassbares, aber heiliges Gut, an Heimat, als ein uns zugehöriger ethischer Besitz. Wir glaubten an geheime Verbindungen zwischen diesen Begriffen, die Abstraktes unlösbar mit unserem Dasein verknüpften. Wir befürchteten, dass alles, was uns teuer, durch den neuen Wert -den Unwert- in Gefahr kam. Kommunismus hätte unserem Leben seinen Sinn genommen. Meine Tante Barbara tat einen Schritt aus diesem Kreis hinaus, sie suchte nach einem Neubeginn.

»Rücksichtslos und beinahe ohne Gefühl für das, was wir empfanden«, sagte Verena, »meine Mutter war im selben Jahr wie ein Stück Vieh in einem Güterzug auf dem Wege nach Sibirien umgekommen, oder sie ist ermordet worden. Mein Vater saß im Konzentrationslager in Oranienburg; in diesem Augenblick tat es Barbara, wie ich glaube, mit voller Berechnung, um sich von uns endgültig zu scheiden. Unsere Schwester Gusti verlor ihre Stellung als Lehrerin; sie musste neuen Frauen und Männern weichen. Es waren elende Jahre, auch du bist mir damals nicht gerade eine Hilfe gewesen. Wie uns mitgespielt wurde, ist dir bekannt.«

Das konnte ich nicht leugnen, ich bin ihr wirklich keine Hilfe gewesen. Mich interessierte die Familie damals nicht, soweit es ihre Weltanschauung betraf. Mein Misstrauen machte vor meinen Verwandten nicht halt. Gerade nicht - die Schuldigen hatten kein Gesicht. Unsere Ratlosigkeit konnte sich gegen keinen anderen wenden als gegen die Frauen und ihre Männer, die uns gezeugt, von deren Tischen wir aßen, deren Feigheit wir unsere Lage anscheinend zu verdanken hatten. Bequemer ist eine junge Generation noch nie zu einem Grund für ihren Konflikt gelangt.

»Komm schon zum Ende«, sagte ich, »wie es ausging, weiß ich zwar, aber du willst es wieder einmal loswerden, ich seh es dir an.«

Es klang tief überzeugt, als Verena sagte: »Es ging natürlich schief.«

Ich hätte hinzufügen können: Aber es mussten zehn Jahre vergehen, ehe Barbara sich aufgab.

»Sie ging nach Amerika.«

Mit diesem Stichwort verbindet mein Gehirn die Vision eines unheimlichen und imponierenden Spektakels. Unser Respekt vor dieser anderen Welt war groß. Dort borgten wir, was unser Weltbild von technischem Fortschritt künftig ausmachen sollte, und es geschah 1946, dass uns der erste, in einer Mathematikstunde umständlich enthüllte und gekaute Gum, die erste in Gemeinschaft gerauchte Camel ein Gefühl von Unabhängigkeit und Überlegenheit vermittelten.

»Ich erkläre es mir so«, schloss Verena, »sie hatte hier nichts mehr verloren. Sie war mit all ihren kommunistischen Wachträumen gescheitert, gab ihr schönes Atelier am Kurfürstendamm auf, verkaufte, was sie besaß, und ging, ohne uns um Erlaubnis zu bitten und ohne Abschied zu nehmen, in dieses andere Land.«

Ich schob den Fensterflügel auf, und sofort schlug der Lärm der einst so stillen Straße wie eine Brandung über uns zusammen, eine Wolke von Dunst und Abgasen stieg zu uns herauf.

Vor dieser rauen, brutalen Wirklichkeit, vor der Welt der Tatsachen, erloschen die Bilder.

»Ich komme mir vor wie ausgeliefert«, sagte Verena müde, »ich hätte die große Wohnung auch längst aufgegeben, wüsste ich, dass es woanders besser ist. Man hat die Städte unbewohnbar gemacht, im Namen des Fortschritts. So werde ich hier wohl sterben.«

Allen ging es gut; heute erscheinen mir diese Tage wie ein ferner leichter Kindertraum.

Ich war ein sauberes Kind.

»Solange ich 'auf dich achtgab«, sagte Verena, »man kleidete die Kinder damals gern in helle Stoffe. Man schnitt ihnen die Haare kurz und zog ihnen glänzend schwarze oder braune Schuhe an, aus Boxcalf, von Leiser oder von Salamander.«

Wer Kinderschuhe in einem Salamandergeschäft kaufte, bekam eine Zeitung dazu mit einer Bildergeschichte in Fortsetzungen, eine Art Comicstrip. Ein aufrecht gehender Salamander, von der Fabrik beschuht, erlebte die überraschendsten Abenteuer und bestand sie dank der Güte seiner Stiefel.

Ich war ein nachdenkliches Kind.

Verena widersprach nicht. »Einen Träumer will ich dich trotzdem nicht nennen. Du besaßest die hartnäckige Fähigkeit, dich in Vorstellungen hineinzusteigern. Ich meine, über das normale kindliche Vermögen hinaus, sich als Trapper oder Indianer, als Räuber oder Gendarm zu fühlen. Mich

ängstigte manchmal die Intensität, mit der du deine Wünsche durchzusetzen suchtest. Ich erinnere mich an einen Fall. Du verlangtest heftig eine Feuerwehr. Aus irgendwelchem Grunde wurde diese nicht sofort gekauft, oder wir wollten sie dir überhaupt nicht kaufen. Du wurdest geradezu hysterisch. Als du die Feuerwehr dann hattest, warfst du sie in die Ecke, um sie nie wieder anzusehen. Deswegen sprach dein Vater eine Woche lang nicht mit dir.«

Obwohl diese Episode sehr weit in meine Kinderzeit zurückreichte, entsann ich mich bei Verenas Darstellung daran; nicht an die Feuerwehr, sondern an die Aufregung, in die mich die Nebenumstände versetzt hatten. Auch jetzt überkam mich ein Gefühl der Leere, des Verdrusses und Betrogenseins, wie damals, als ich die Feuerwehr in der Hand hielt und nichts mehr damit anzufangen wusste,

»Es ist das Problem deines Lebens geblieben, in Besitz zu nehmen und wieder aufzugeben, zu wünschen, zu verzichten und neu zu wünschen«, sagtet Verena. »Ich würde dich introvertiert nennen.«

»Schokolade, Schlagsahne und Bonbons soll ich nicht gemocht haben, aber Äpfel und Brot?«

»Das Brot bekamen wir damals vom Lande, es war steinhart, und so dicht gebacken, dass, ein Messer darin knirschte. Es könnte monatelang liegen, ohne zu schimmeln oder ungenießbar zu werden. Nur härter wurde es. Der alte Stadel sorgte für solche Kost, Dich verwöhnte er auf seine Weise.«

Mattias Stadel, mein Großvater - ich lernte ihn in vielen Verkleidungen kennen, die häufigste war die eines Häuserverwalters und Maklers. In seinem Arbeitszimmer versammelten, sich täglich alle möglichen Leute. Mieter und Spekulanten, Handwerker und Hausbesitzer. Auf den muskulösen Unterarmen des ehemaligen Schmiedes, Husaren; Seemanns und Skagerrak-Helden ringelten sich in Blau und Rot tätowierte Schlangen um Anker und Herzen. In Wendisch-Rietz besaß er ein kleines bäuerliches Anwesen, das er selbst bewirtschaftete. Aus den Erträgen versorgte er uns und andere Familienmitglieder. Wir bezogen Obst und Fleisch, Brot und Hülsenfrüchte von Mattias. Ich ritt auf einem Gaul, der Lotte hieß, eine mächtige, kluge Rappstute, die geduldig stehen blieb, wenn ich über eine Leiter oder einen Tritt auf ihren Rücken kletterte. Aus dem Fell der Stute stieg feuchter, tiergesättigter Geruch, den ich gierig einsog. Auf der Kruppe sitzend, kniend, hockend, kam ich mir geschützt vor wie auf einem Turm, während Mattias die Stute durch Zurufe lenkte ...

Das Pferd ist für mich die liebenswürdigste und leibhaftigste Form, des Tieres geworden; weshalb ertragen Tiere die Quälereien durch Kinder mit solchem Gleichmut?

»Sonst bist du ein ziemlich verfressenes Kind gewesen«, bemerkte Verena, »du hattest in manchen Zeiten einen richtigen Bauch.«

»War ich tapfer?«

Sie schüttelte den Kopf »Nicht im Sinne von aggressiv. Gewehrt hast du dich allerdings manchmal so nachdrücklich, dass wir dir Vorwürfe machen mussten. Einmal schlugst du einem Kameraden mit einem Steinguttopf ein Loch in den Kopf, und das Ohr musste genäht werden.«

Und das ist eine der Geschichten meiner. Kindheit, an die ich mich nicht erinnere, die nur durch wiederholtes Erzählen am Leben erhalten wurde. Heute weiß ich, dass meine Familie höchsten Wert auf streitbare Kinder legte. Wenn meine Mutter jetzt so tat, als ob ihr der Zwischenfall, mochte er sich nun abgespielt haben, wie er wollte, unangenehm gewesen wäre, so gibt es für mich genügend Gründe, dieser Haltung Verenas zu misstrauen. Sie wünschte das Löwenjunge; den Krieger, der nicht nach Zweck und Ziel eines Kampfes fragt, wünschte die voraussetzungslose Tapferkeit, die sich bedingungslos schlug. Einen Sohn, der sich nicht gewehrt haben würde - und sei es mit einem Topf -, hätte Verena als weichlich, als unmännlich empfunden.

»Man muss Knaben wagen lassen, wenn man Männer haben will, lehrt ein englisches Sprichwort, wobei ich gern einräume, dass ein geistreicher Draufgänger vielleicht ein Widerspruch ist. Ohne aufbrausendes Gefühl und ohne Spontaneität bei fehlender Verstandeskontrolle gibt es keine Handgreiflichkeiten. Und es gibt auch immer nur lachende Sieger und niemals lachende Verlierer ...«

Hinter diesem Gerede steckte ein Erziehungsideal, das zum Helden führte. Das dauernde Anstacheln, sich zu wehren, musste die Bereitschaft wecken und wachhalten, ein Held zu werden.

»Aber das gilt dann doch wohl für alle Zeiten«, wandte sie ein. »Immer wenn sich ein Moment von öffentlichem Interesse an der Erzeugung von Helden beimischt, gibt es die Achillesse und die Hagens. Zweifellos gehört der Kampf zum menschlichen Leben.«

»Ich bin nicht dagegen, sich zu wehren, sondern gegen das Training zum Heldentum, Mama. Wird einem kleinen Jungen Beifall gespendet, weil er einem anderen kleinen Jungen mit einem Topf auf den Kopf schlägt, so wird der schlagende Junge sicherlich großes Vergnügen empfinden, zumindest so lange, wie ihm nicht selbst Schmerz zugefügt wird. Dann verdoppelt der Schmerz vielleicht seine Wut, oder umgekehrt, er dämpft sie. Ein lächerlich primitiver Vorgang.«

Dass, diese Episoden im kindlichen Alter eine notwendige Vorbereitung auf das Leben sind, wusste ich so gut wie sie.

Mala guerra.

»Hirngespinste«, damit tat sie alles ab, »es war keine Kleinigkeit, dich neunzehnhundertdreißig zu empfangen. Dein Vater war arbeitslos, erst während ich mit dir ging, entschloss er sich zu einem Berufswechsel. Ich bleibe dabei, so schlecht sind die Jahre vor dem Krieg nicht gewesen.«

»Es kam unser bestes Jahr«, sagte Verena, »als dein Vater vom Bau des Westwalls zurückkehrte, mit einer Urkunde und einem bronzenen Orden.«

Bei ihren Erzählungen sprachen ihre Augen mit; meine Mutter drückte sich stets durch Zeichen aus. Ihre Gestik ist manchmal bedeutsamer gewesen als ihre Worte.

»Wann war das?«

»Es muss neunzehnhundertsiebenunddreißig gewesen sein.« Es fiel mir nicht schwer, mich in diese Zeit zurückzuversetzen. Ich verbrachte Wochen bei dem alten Stadel und hielt mich ebenso viele Wochen bei Friedrich Wilhelm Arzt auf. Wenigstens er trug einen Namen in den Farben seiner Zeit, Farben, die schon etwas verblichen wirkten. Mit der Wende zum Germanischen tauchten andere Namen auf, die Baldurs, die Brunhildes. Meine Großmutter Margarete Arzt, geborene Haubold, nannte ihren Mann einfach Fritz.

»Wieso war es euer bestes Jahr?«

»Von der Perspektive her«, sie gebrauchte einen damals unbekannten Begriff, ohne sich dieser Tatsache bewusst zu sein. Erst nach meinem Hinweis erklärte sie: »Also dann nenne es Zukunftserwartung, wir hatten eine große Hoffnung Hannes.«

Sie nannte mich selten beim Namen, schon gar nicht bei meinem vollständigen. Namen, tat sie es wirklich einmal, dann klang es sonderbar und förmlich.

»Wir reisten mit einem Schiff nach. Norwegen. Es war herrlich. Dein Vater kaufte ein Doppelgrundstück. Wir wollten in einem Jahr oder vielleicht auch in zwei Jahren ein Haus bauen.«

Sie unterbrach sich, um ihr Haar zurückzustreichen, und presste die Lippen zusammen, sodass auf ihrer Oberlippe eine senkrechte Schraffur entstand.

»Daraus wurde dann nichts.«

. Sie warf mir einen empörten Blick zu, wendete sich kurz ab, um mich sofort wieder anzusehen, eine ihrer typischen Bewegungen, mit denen sie Missfallen ausdrückte.

»Ganz recht, daraus wurde nichts«, sagte sie. »Du sprichst das mit einer Befriedigung aus, die mich befremdet.«

Wirklich empfand ich Befriedigung darüber, dass diese Hoffnungen zunichtegemacht worden waren. Unerträglich wäre es gewesen, hätte sich diese Mittelmäßigkeit mit einem kräftigen Schuss sozialem Dünkel auch noch in einer kleinbürgerlichen Leistung durchgesetzt. Wie alles gekommen war, darin lag, aus der Entfernung gesehen, etwas Korrigierendes.

Die von Verena erwähnte Urkunde musste meinen Eltern ein Gefühl des Gebrauchtwerdens vermittelt haben: Im Kampf um die Sicherung des deutschen Lebensraumes stand der Arbeitsbeauftragte des Volkes Stadel im Ehrendienst in der Westmark. Deutschland wird leben, weil sich immer Männer finden, die ihre Arbeit Deutschland weihen.

»Mein Junge, glaube ja nicht, wir hätten keine Visionen gehabt. Die Träume in Deutschland zu untersuchen hieße, eine Menge über uns zu erfahren. Man sollte den Deutschen überhaupt verbieten, zu träumen oder Tagebücher zu führen. Soldaten dürfen es ja auch nicht, und sicherlich mit gutem Grund.«

Zum ersten Mal redete sie derart entschieden und bitter über diese dunkle Seite ihrer Erinnerungen. Die Lehrerstochter hätte mit Recht von sich sagen können, dass ihr Leben in zwei Kriegen und den Krisen dazwischen vergangen war.

Sie seufzte: »Neunzehnhundertachtzehn kam ich aus der Gemeindeschule, so hieß die Schule damals, zum Kriegsende und zu den Revolutionswirren«, sie gebrauchte das Wort, wie es passiver und undifferenzierter nicht geht: »Der Sieger aus solcher Art Wirren setzt dann auch immer die Norm.«

Verena erwartete einen Einwand; da ich schwieg; bemerkte sie: »Du bevormundest mich heute nicht? Bist du krank?« Und da ich weiter schwieg, »mir blieb damals keine Wahl. Ich musste arbeiten.«

Ich hätte das Gespräch gern abgebrochen, zog ein Buch aus dem Regal, das in Griffnähe stand, und las den Titel. Ein Balzac, wie sie überhaupt und ausschließlich die alten Bücher las. Seit Jahren erschloss sie sich mit berechnender Absicht keine jüngeren Autoren.

»Ich ging zu Max Hirsch, du erinnerst dich.« Als ob ich mich einer Zeit hätte erinnern können, in der ich noch nicht geboren und sie ein vierzehnjähriges Mädchen war. »Max Hirsch war ein Konfektionär; alle Konfektionäre in Berlin waren damals Juden, oder fast alle«, schneller Blick zu mir. »Ich lernte Expedientin, aber ich muss sagen, bei Max Hirsch habe ich herzlich wenig gelernt. Dafür habe ich umso öfter das Dienstmädchen gespielt.«

Sie legte eine Pause ein, um uns den Rest Tee aus der Kanne einzugießen, schüttete Zucker in die Tasse und rührte mit ihrer zarten und gebrechlichen Hand den Tasseninhalt so lange um, bis sich der Zucker gelöst hatte. »Du kennst das«, sie machte mich zum Komplizen, wie immer, und wie immer konnte ich mich nicht davon befreien, denn es war meine Mutter, die berichtete, der ich keine grobe Lüge zutrauen durfte. »Ich habe es dir oft erzählt, die Scherben im Abwaschwasser, damit ich mich schneiden sollte ...

»Was besagt das schon? Die Leute waren deine Arbeitgeber, zufällig sind es Juden gewesen. Deine Feindschaft hatte doch nichts mit der Rasse zu tun.«

Sie tat erstaunt. »Na hör mal, ich hätte eine persönliche Feindschaft gegen Juden gehabt? Nicht die Spur. Ich kann nur sagen, was ich weiß. Die ganze Sippschaft war hinter den weiblichen Angestellten her, hinter uns jungen Mädchen.« Sie ließ die Distanzierung folgen: »Es versteht sich übrigens, dass ich und niemand aus unserer Familie mit dem einverstanden gewesen ist, was dann kam. Aber der Sache nach, im Prinzip? Juden sind anders, ich habe sie erlebt. Und weshalb machen diese Leute auch heute noch und überall, selbst in Amerika, so unangenehm auf sich aufmerksam? Und in Palästina? Und auch bei den Russen - das weiß man ja alles.«

Meine Versuche, sie zu unterbrechen, wehrte sie ab: »Nein, nein, wir stimmen ja völlig überein, man ist zu weit, gegangen.« Sie nahm mir rasch den Balzac aus der Hand und leitete in stilleres Wasser über: »Ich lese noch einmal diese großen Romane, du weißt?«

»Wie oft hast du Vater Goriot schon gelesen?«

»Oft. Ich fürchte, es ist jetzt das letzte Mal ...«

In jenem Jahr ihrer Kraft-durch-Freude-Reise in die Fjorde Norwegens konnte ich noch nicht lesen, und mein Großvater richtete sein Bemühen auch nicht darauf, mir diese Kunst beizubringen. Sein Haus in Hammelspring hat sich mir fest eingeprägt: Es ist ein zweistöckiges Haus, aber anders als Bauernhäuser, im Gutsherrenstil der Gründerzeit errichtet. In der Mitte der Fensterfront liegt eine Auffahrt; zwei verputzte Säulen tragen einen vorspringenden Giebel. An den Ecken stehen oben zwei Amphoren. Im Untergeschoss ähnelt es den bäuerlichen Häusern. Arbeitszimmer, Wohnzimmer mit Flügel und Harmonium nehmen das Untergeschoss ein. In der Diele hängt ein großes Ölgemälde meines Großvaters in der Uniform eines Oberleutnants der Garde. Ein kleineres zeigt meine Großmutter. Dort steht auch ein Gewehrschrank mit dem Degen meines Großvaters.

Auf mich hat das Haus immer einen bedeutenden Eindruck gemacht, es schien mir einem Schloss ähnlicher als einem Wohnhaus, mit vielen Zimmern, Treppen, Böden und Kellern, vollgestopft mit Möbeln und unbrauchbarem Gerümpel. Bajonette, alte Grabplatten, ausgestopfte Tiere und seltsame Geräte verstaubten in diesem Haus. Es war nicht durch einen Zaun seitlich abgegrenzt, sondern durch eine Quadermasse aus Feldsteinen. In den Ritzen wucherten Efeu, Dornengestrüpp und Farne, schossen Birken hoch, und alles zusammen bedeckte die Mauer grün und undurchdringlich. Durch eine hölzerne Tür kam man in den Garten, genauer gesagt, in den Friedhofsgarten mit einer kleinen alten Kapelle, immer unverschlossen, und dem Beinhaus. Die ganze Anlage stammte aus der Zeit, wo der Lehrer das Amt des Kantors mit versah, und möglicherweise hatte das schlossähnliche Haus einmal als Pfarrei gedient.

»Dass du dich daran erinnern kannst«, sagte Verena, »aber du hast recht. Es war ein merkwürdiges Haus.«

Schulleiter oder Schulrektor, wie er offiziell hieß, war mein Großvater, ein Mann von Größe und Selbstbewusstsein, der stets korrekt gekleidet ging, in dunkelgrauen Anzügen, Zugstiefeln und dünnen, farblosen Schlipsen.

»Wo bist du eigentlich lieber gewesen, bei meinem Vater oder bei dem alten Stadel?«

»Bei Mattias Stadel.« Stadels Haus befand sich im Ausbau des Dorfes Wendisch-Rietz, unweit der alten Spree. Kam mein Großvater in sein gemütliches schilfgedecktes Haus, so schlüpfte er aus seinen Schuhen, zurück in die Pantinen. Ihn umgab ein Hauch Unternehmungslust und Spätgründertum. Er verkörperte mir damals den Begriff Autorität, wenn er mit der Sense Schwad um Schwad legte, anhielt, das Blatt schärfte, wenn er in seinem Kahn saß und die Posen der Angeln beobachtete. Und dann umgab ihn natürlich auch die Aura des weit gereisten Seemanns, nicht vergleichbar mit den Leistungen eines Dorfschullehrers.

»Wenn du nur einen Tag bei dem alten Stadel warst, hattest du beinahe alles verlernt«, sagte Verena. »Du benahmst dich am Tisch wie ein Affe, als gäbe es weder Messer noch Gabel.«

Das freilich gab es bei Studienrats nicht. Wäre nicht das Gefühl des Auserwähltseins gewesen, in diesem wunderbaren schlossartigen Bau zu leben, und wären nicht die freundlichen Großeltern Arzt gewesen, hätte ich wahrhaftig die Gesellschaft des alten Stadel für dauernd vorgezogen. Noch etwas empfand ich als lästig: die pädagogischen Übungen, die Friedrich Arzt mit mir vornahm, seine Hinweise auf einen racheschnaubenden und alles durchschauenden Gott. Religion ist ein eigenes Kapitel, soweit sie meine Familie betrifft.

»Ich nehme an«, sagte Verena, »du warst ein wenig überfüttert mit Vorbildern. Du bist das erste Kind der neuen Generation in der Familie gewesen. Allzu viele Verwandte liebten dich. Wenn ich mich richtig entsinne, so war einer deiner Wesenszüge schon damals, sich zu entziehen, was du heute ja geradezu perfekt beherrschst.«

Meine Erklärung lautete anders: Der alte Stadel bot mir einfach freiere Möglichkeiten. Er ließ manches durch, war vor allem auf Beobachtung aus, wie ich mich in diesem oder jenem Fall verhalten würde, ohne sofort eine Belehrung einzuleiten. Vielleicht vertraute er mehr dem natürlichen Lerntrieb. Jedenfalls war der Aufenthalt bei Stadel anregender als der bei Studienrats.

Außer dem Kahn besaß Mattias ein kleines Segelboot; er besaß überhaupt eine Menge höchst seltsamer Dinge zum Gebrauch und nicht nur zum Ansehen.

»Er war ein Bauer geblieben«, sagte Verena, »du bist ja alt genug, um dir heute ein Bild von ihm zu machen. Jedenfalls war es Zeit, dass wir von unserer Seereise zurückkehrten und du wieder in Zucht genommen wurdest.«

Ich hätte sie gern veranlasst, über meinen Vater zu sprechen, zu dem mein Verhältnis merkwürdig gebrochen gewesen ist, eine Mischung aus Verachtung und Mitleid. In späteren Jahren entstand etwas wie Freundschaft. Ihm gegenüber sehe ich mich immer in der Rolle des Aktiveren, Unternehmenderen. Die Fotos, die ich von ihm besitze, zeigen zwar auch einen Soldaten, im Unterschied zu meinen beiden Großvätern aber zugleich einen körperlich schlecht entwickelten jungen Mann in schlotterndem Waffenrock und riesiger Tellermütze. Er war fünfzehn, als er zum ersten Mal eine Uniform trug; 1916, zum Andenken an meinen Bruder, steht auf der Rückseite in der gestochen scharfen Sütterlinschrift des Kaufmanns. Er stand in der Lehre bei der Firma Peek und Cloppenburg, seine Arbeitszeit dauerte von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends, zwei Stunden Pause in der Mitte, dafür erhielt er monatlich fünfzehn Mark, im letzten Lehrjahr fünfzig Mark. Aber im letzten Lehrjahr trug er kaiserliche Uniform. Unterwiesen wurde er in den kaufmännischen Wissenschaften, Briefwechsel, Buchführung, Wechsellehre und Warenkunde: Mut und Wollen jedem Streben, ernstem Wollen Heil und Preis ...

Sein spitz-ovales Gesicht ist der Kamera direkt zugewendet, die Hände liegen gekreuzt im Schoß. Aber diese mitleiderweckende Gestalt ist nicht die ganze Wahrheit über ihn; es gab auch Jahre der Zuversicht und des Einverständnisses. Er war etwas, für das mir der Begriff Mitläufer falsch erscheint, weil er den Mangel an Motiven nicht erklärt.

»Du bist ungerecht wie immer, wenn du über deinen Vater urteilst, was dir nicht zusteht«, sagte Verena, auf die Uhr blickend. Ihre Teestunde lief ab. Sie hatte für die Stunde vor dem Abendessen um achtzehn Uhr wer weiß was vorgesehen. Sie lebte nach der Uhr.

»Ich bin nicht ungerecht, ich suche nach Erklärungen für euer Leben.«

»Du und deine Generation, ihr leidet an dem Trauma, dass wir versagt haben. Ihr geht davon aus, euer heutiges Wissen hätte euch vor Nationalsozialismus, Krieg und Nachkrieg bewahrt.« Und listig fügte sie hinzu: »Die Geschichte wäre also bloß abgelaufen, damit ihr euren Komplex bekommen konntet?« »So ist es natürlich nicht.«

Aber wie war es? Stimmte es, was sie behauptete, wir litten unter dem Trauma, unseren Eltern ständig ein beispielloses Versagen bescheinigen zu müssen? Fiel gerade der Zwischengeneration die Entscheidung besonders schwer? Trug noch der Vater meines Vaters den Husarenrock mit naivem Selbstbewusstsein, trug Verenas Vater, der Studienrat und Reserveoberleutnant bei der Garde - vielleicht der Einheit, die einen Liebknecht-Mörder großzog -, trugen diese Männer noch ihre Uniformen wie Auszeichnungen, so stand sie meinem Vater, dem Nachgeborenen, wie der Kittel eines traurigen Harlekins.

Es waren, noch andere Erinnerungen da, die an einen Uniformierten in Polen: Radomsk, Kielce, Krakow. An die als selbstverständlich gehandhabte Siegergeste, an die Fresspakete, vielleicht nicht ganz so zahlreich, vielleicht mit einem Rest an schlechtem Gewissen geschickt, aber doch beteiligt. Nie ganz dafür, auch mit verletztem Rechtsbewusstsein, mit stiller Qual, einem Stück über die Zeiten geretteter Redlichkeit, Glaube an Ordnung, Recht, aber doch immer mit dabei.

»Leider«, seufzte sie, »ich habe es auch überhaupt nicht glauben wollen, als Papa mir die Aufnahmen von den Erschießungen zeigte. Ich habe ein paar Nächte lang nicht schlafen können, und ich habe es für ganz falsch gehalten, sie dir ebenfalls zu zeigen, einem Zwölfjährigen, fanatisiert bis in die Knochen.«

»Fanatisiert? Red dir nichts ein, Mama, in Wirklichkeit hattet ihr Angst, mit euren Kindern zu sprechen, sich ihnen zu offenbaren, eure Ängste bloßzulegen. Die stille Vereinbarung galt unter euch, ja den Mund zu halten, allein mit diesen Sachen fertig zu werden. Ihr konntet mit eurem Hitler nicht mehr Schritt halten.«

»Man hat ja auch gesagt, Größenwahn, und wie sich hinterher herausstellte, war Hitler Paranoiker.«

Ich musste lachen, sie sah mich mit Erstaunen an und bemerkte: »Wüsste nicht, was es da zu lachen gäbe.«

»Wegen der nachträglichen Rechtfertigung - was soll man mit einem Verrückten machen?«

Sie schwieg, hob mehrmals die Schultern, und mich reute es, laut geworden zu sein. Ich wollte sie wieder auf das Thema zurückbringen, wie mein Vater war, und sie nahm das Angebot an.

»Als ich ihn kennenlernte - ich arbeitete bei Max Hirsch -, ließ er sich bei Peek und Cloppenburg anstellen, es soll diese Firma ja heute noch geben. Er war Buchhalter, warte mal; ich schätze, er ist knapp zwanzig gewesen, trug Anzüge von C & A, er sang sogar, auf einer Werbeschallplatte mit, - drum gehen Sie, Sie wissen ja, gehen Sie zu C & A -. Wir sind schon weit in den zwanziger Jahren, wie du siehst.«

Ruhrbesetzung, Inflation, Kapp-Putsch, alles vorbeigegangen ohne eine Spur von Nachdenklichkeit?

»Die meisten Deutschen dachten nicht nach. Worüber hätten sie nachdenken sollen? Wir begriffen ja kaum, woher diese vielen Symbole kamen. Die Welt, unsere Welt, war auseinandergebrochen, das war die Zäsur, der Schlussstrich. Also dein Vater ging außerordentlich gut angezogen. Wir lernten uns in einem Theaterverein kennen.«

Das war eines der großen psychologischen Rätsel für mich, in dieser Zeit gingen sie in einen Verein, um als Laienschauspieler aufzutreten, Feste zu arrangieren, Reisen zu veranstalten, nach bester, übelster deutscher Vereinstradition, und das, wo sich auf der Straße, vor ihrer Tür ein Kampf auf Leben und Tod abspielte.

»Du kannst das kaum beurteilen. Es war nach dem Kriege damals ganz ähnlich wie nach dem jetzigen Krieg. Die lange zurückgehaltene Lebenslust, die Not, machten sich im Frieden in einer sicherlich übertriebenen Vergnügungssucht Luft. Man wollte endlich leben. Es wird so oft von einer Scheinblüte geredet, es war keine, sie war echt. Wir lebten gut und heirateten Neunzehnhundertachtundzwanzig.«

Was sie mit wenigen Worten entwarf, darauf bauend, dass ich ihr nicht auf die Sprünge kommen konnte, war das Auswechseln der einen gegen die andere Legende. So glaubte ich nicht meine Mutter zu hören, sondern den historischen Kommentator: Zuerst brach das Kaiserreich zusammen, dann kam die Inflation, kamen die Konjunktur und die Krise, es kam Hitler, der Erretter Deutschlands. Zuletzt mussten wir eingestehen, uns in allem geirrt zu haben. So läuft eben Geschichte ab. Nichts lässt sich dagegen unternehmen.

Sie unterschlug, dass Christoph Stadel, ihr Mann und mein Vater, von Peek und Cloppenburg zum Wolffschen Telegrafenbüro gewechselt war, als Börsenberichterstatter, wenigstens der Familienlegende nach und falls es bei diesem Nachrichtendienst einen solchen Berichterstatter überhaupt gegeben hat.

»Mit Gewissheit«, sagte Verena, »mein Schwiegervater besaß gute Verbindungen, und da hast du es: Diese Zeiten ließen uns Spielraum. Wir wiegten uns in dem Traum, aus deinem Vater einen Börsenmakler zu machen. Dein Vater war Fachmann, als Buchhalter konnte er mit Geld umgehen.«

Auch eine überraschende Verkleidung, aus dem kleinen unglücklichen Soldaten, dem Laien-Hamlet und Buchhalter, der mit spitzer Feder die Positionen auf Kredit und Debet verteilte, der sich für einen Schreib- oder Rechenfehler von einem Oberbuchhalter oder vom Hauptbuchhalter rüffeln lassen musste, aus dem Werbesänger für Anzüge war in den Träumen ein Börsenmakler geworden, der Bankorders abwickelte und vielleicht auch selbst zu spekulieren vorhatte.

»Daraus wurde ja auch nichts.«

»Nein, daraus wurde nichts.« Sie schüttelte den Kopf. Eine komische Variante, ein Abschluss dieser Karriere·ergab sich Jahre später, als meine Familie zehntausend Mark Reichsanleihe zeichnete, wozu sie aufgrund irgendeiner Erbschaft in der Lage war.

»Wir hätten mit dem Geld schon nichts mehr anfangen können«, erklärte meine Mutter. Sie legte mir ihre Hand auf den Arm, zum Zeichen, dass sie etwas Wichtiges mitteilte.

»Es war kurz vor dem Krieg. In unserer Familie geschah immer etwas entweder zu spät oder zu früh, jedenfalls nie zur rechten Zeit.«

Und das war endlich eine Wahrheit, es geschah immer zum unrechten Augenblick - dieses Schicksal teilte meine Familie mit dem anderer deutscher Familien, die auch Reichsanleihe zeichneten, weil es rein gar nichts anderes mehr gab als Geld in Hülle und Fülle und einen Krieg, der vor der Tür stand.

Das also dürfte erreicht gewesen sein ...

Christoph Ernst Stadel traf die Entlassung 1929. Er bezog Arbeitslosenunterstützung. »Eine schlimme Zeit«, bestätigte Verena. »Es kam aber solch ein Arbeitslosenhilfsprogramm, und dein Vater entschloss sich, nicht auf ein Wunder zu warten, sondern sich umschulen zu lassen.«

»Warum wartete er eigentlich nicht auf ein Wunder?«

»Na, hör mal!«

Das Wunder kam nicht, aber das Hilfsprogramm, und so wurde Christoph Stadel beim Nachrichtendienst der Deutschen Reichspost Hilfsarbeiter. Er grub Löcher für Telegraphenstangen und schüttete diese Löcher wieder zu. Er zog später, als er durch Fleiß und aufgrund seiner Gelehrigkeit weitergekommen war, Leitungen; Strippen, wie er selbst sagte, er gewann über mancherlei Lehrgänge bestimmte Fertigkeiten, und er wurde, was er wurde. Beamter. Und erhielt eine Urkunde: Für gute Leistungen in der Wettkampfgruppe Energie-Verkehr-Verwaltung im Berufswettkampf aller schaffenden Deutschen ...

Aber das alles hatte einen Preis gehabt.

»Ohne Papas Entscheidung für uns wäre es nicht möglich gewesen.«

Diese Umschreibung musste für die Verschleierung eines anderen Sachverhalts herhalten. Ein Briefwechsel, der uns als arisch-herkommend ausweist, Auszüge aus pommerschen Kirchenbüchern, Fotokopien oder amtliche Beglaubigungen finden sich; die Texte kraus und in gewundenem Deutsch, wurde allhier geboren, aber sie belegen eindeutig die indoarische Abstammung meines Vaters, es rollt kein nachweisbares Tröpfchen Blut Andersstämmiger in unseren Adern, und deshalb durfte mein Vater Telegrafenbauhandwerker und Beamter und Oberleitungsaufseher werden, und in die Nationalsozialistische Arbeiterpartei eintreten.

»Himmelherrgottnochmal, wie kannst du nur so leicht darüber hinweggehen! Nie bist du auch nur einen Tag in so einer Lage gewesen wie ein Arbeitsloser. Das Arbeitslosenheer war groß, aber«, sie dehnte dieses Aber lang aus, »ich gebe zu, wir waren uns in den Zielen mit diesen Männern und Frauen einig. Niemand kann vorhersagen, wie etwas kommen wird. Und ich sehe keinen Unterschied, ob jemand seiner Rasse wegen unterdrückt wird oder wegen seiner sozialen Herkunft. Solange du einen Vater im Westen hattest, konntest du dir an den Fingern abzählen, wo deine berufliche Karriere hier enden würde, mein Sohn. Sieh endlich ein, dass da gar kein Unterschied ist. Tüchtig muss man sein, um voranzukommen. Manchmal bin ich stolz auf dich. Dein Vater war zu wenig unternehmend, ganz recht, sonst wäre eben doch alles besser gekommen oder zumindest anders. Wie die Mächtigen mit ihren Minderheiten umgehen, das ist doch das Wichtigste, nicht aus welchen Motiven heraus, Gründe finden sich immer«, sagte die Lehrerstochter, »und Schuld? Ich kann nur sagen, wer mir erläutert, für welche Schuld meine Familie mit Blut und Gut gebüßt hat in den Jahren nach dem Krieg, eigentlich bis heute, der verdient meine ungeteilte Bewunderung ...«

In ihren Glasschränken standen Tauftassen und Sammeltassen, das. Hutschenreuther, die Bowle, Kristallgläser; der warme goldene Ton der Mahagonimöbel verbreitete etwas von Geborgenheit, von den Bildern meiner Kindheit, die mit dieser Wohnung verbunden gewesen sind und bleiben werden, solange Verena hier haust und ihre Teezeremonie abhält, obwohl sie eigentlich Kaffee bevorzugt.

Dame in Weiß

Подняться наверх