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Kapitel 2

In leuchtenden Bildern stehen mir die Taten meines Großvaters vor Augen; ich höre seine laute, barsche und manchmal heisere Stimme. In unbestimmten Abständen vergiftete sich mein Großvater mit großen Mengen Alkohol.

Oft versammelte er ein paar Leute um sich, bewirtete sie mit Schnaps und setzte ihnen reichlich Essen vor. Die Wohnstube des Hauses in Wendisch-Rietz enthielt allerlei Gerümpel aus den alten Tagen, die Sägen großer Fische, ein präpariertes Krokodil, Muscheln und Buddelschiffe. In seinem Ohrenstuhl saß der alte Mattias, die tätowierten Unterarme aufgestützt, richtete einen unbarmherzigen Blick auf einen seiner Gäste, und sicher kam die Stunde, wo er anfing zu singen: Oh, this is the tale of John Cherokee/ Alabama John Cherokee!

Er verlor den Faden, es dauerte, bis, er sich eingesungen hatte. Seine Freunde unterbrachen ihn mit nebensächlichen Fragen, meine Großmutter sah, dass ihr Mann den Punkt überschritten hatte, wo er sich unterhalten wollte. Jetzt suchte er Leute, die ihm zuhörten, Publikum. Leise begann er zu summen: Oh, die Zeit war hart und die Heuer klein, / Hau ab, Jonny, hau ab ...

Noch immer hatte er keinen Ton, kein Lied gefunden, aber in ihm summten und brummten die Melodien seiner Jugend. Dann fiel er mit tiefer Stimme, die Tischgespräche übertönend, ein: De Hoffnung war hundert Tag unterwegs. / To my way, hay, hooday, / Se seilt von Hamburg na Valparais, / A long time ago. / Se seilte good, se seifte hart, / Se haar so ne gode un kostbare Fracht. / Un as de 0ol nu flucht un gnattert, / Dor keem de Düvel över de Reling klattert...

Seine Hände schlugen den Takt, es hielt ihn nicht mehr auf seinem Stuhl, er sprang auf und begann zu tanzen. Vor meinen Augen verwandelte sich der trinkende hemdsärmlige Bauer in einen unternehmungslustigen Piraten.

»Was glotzt du«, fuhr er einen der Männer an, die er kannte und schätzte; jetzt hasste, verhöhnte er sie und feuerte sich selbst immer neu an: Wie klein und wie hübsche war Ane Madam. / Oho, Ane Madam, Ane Madam. / Sie hatte ein Kind und dazu keinen Mann, / Oho, Ane Madam ...

Meine Großmutter fasste ihn unter, sie wollte ihn wieder auf seinen Stuhl setzen, aber der schwer bezechte Mann machte sich sanft los, umfasste sie mit plumper Ritterlichkeit und zwang sie, mit ihm zu tanzen. Es kamen immer mehr Leute, Frauen und Halbwüchsige, setzten sich, bekamen ihren Teil an Essen und Trinken; meiner Großmutter hing feuchtes Haar in die Stirn, Hände krachten auf die Tische, draußen sank die Nacht, der eine oder andere stand auf, um zu füttern oder um zum Angeln zu fahren, aber die Mehrzahl der Leute blieb, wenn der alte Mattias seine großen Stunden hatte.

Ich lag vergessen auf dem Sofa in der Wohnstube, schlief manchmal ein, wachte auf und sah die Lampe über dem Tisch schwanken, dahinter das leuchtend rote Gesicht des Alten ...

Anderentags schlief er länger, stand auf und schlurfte träge durch das Haus, auf Suche nach einer Tätigkeit. .Es war leicht, ihm etwas einzureden.

»Ein Schiff mit Segeln, bau ein Schiff mit Segeln.«

Ich sah zu, wie er mit der Stichsäge die Form des Rumpfes ausschnitt, wie er mit Schleifpapier den Rumpf glättete, ihm Gestalt gab, und bekam eine Ahnung von den Schwierigkeiten planmäßiger Arbeit. Mattias ruhte nicht eher, als bis er das Spielzeug fertig hatte, es drängte ihn, seine Arbeit zu erproben.

»Ob es wohl schwimmt?«

Er sah mich zweifelnd an, lächelte, seiner Sache nicht ganz gewiss, und ging mit hinunter zu einer flachen Stelle am Wasser.

Dort lagen seine beiden Boote. Er löste die Persenning, wir kletterten in die Plicht. Mattias befahl, das Segel zu setzen, ich wusste schon Bescheid, schäkelte das Horn in die Fall und fierte das große Segel -ein anderes hatten wir, nicht: Mein Großvater hob die Spiere leicht an, denn ich besaß nicht genügend Kraft. So segelten wir hinaus, er am Ruder, ich auf der Ducht, das Spielzeugboot festhaltend.

Und es schwamm. Das Spielzeugboot krengte, es fuhr in unserem Windschatten. Er atmete auf.

»Die Segel müssen so bleiben«, der Alte stellte etwas an dem kleinen Schiff, es trieb ab, und wir blieben zurück.

Es war ein milchig trüber Tag, mein Großvater gähnte vor Müdigkeit, ein fauliger Geruch stieg vom Wasser zu uns auf. Im Schilf zeigten sich vereinzelt oder dicht zusammen stehend die braunen Zigarren der Rohrkolben. Er schnitt eine Anzahl davon für eine hohe Bodenvase ab, und wir fischten unser Spielzeugboot auf, um zurückzufahren. Jetzt schwang der Baum herum das Boot drehte sich im Stern, und mein Großvater ließ das große Segel weit heraus.

Instinkt trieb Mattias zur Arbeit, er reparierte Uhren und Badewannen - in einer blauen Schilfleinenjacke, den breiten Strohhut auf dem Kopf, im Korb abgeschnittene Edelreiser, machte er sich daran, seine Bäume zu veredeln. Er setzte die Reiser auf, manchmal sehr verschiedene auf einen Stamm, sodass wir vielleicht einmal verschiedene Sorten Obst von ein und demselben Baum ernten würden. Und dieser große, unordentliche Obstgarten mit Bäumen und Sträuchern wurde nur gemäht, einmal im Herbst lockerte mein Großvater die Baumscheiben, aber da die Wasserleitung nicht bis in den Garten reichte, mussten wir auf Regen warten.

Er liebte Regen, und zwar den leisen, die tröpfelnde Nässe, die bei völliger Windstille aus tief hängenden dunklen Wolken fiel.

»Warum bleibst du nicht immer hier?«

Er dachte über meine Frage nach, die er sich vielleicht selbst öfter gestellt hatte, und antwortete: »Werde ich schon noch. Ich habe bald genug.« Er schnüffelte den nassen Erdgeruch ein, »zum Leben braucht man Geld, und Geld muss verdienen, wer keines hat. Ich hatte keins, bald hab ich genug und scheiß dann auf die Stadt. Dann zieh ich hier raus, hier will ich mal sterben.«

Ernsthaft erörterte er meine nächste Frage: »Ziegen? Nee, Ziegen treten alles unter die Füße, aber Schafe, die sind genügsam, geben Fleisch und Wolle.«

Er hielt Kleinvieh, Hühner und Enten, auch Kaninchen. Wenn mein Großvater nicht da war, kümmerten sich die Nachbarn um Futter und versorgten auch das Pferd.

Kam der Tag, wo mein Großvater wieder nach Berlin zurück musste, um seine Geschäfte zu betreiben, so ging eine Verwandlung mit ihm vor. Früh zog er Hemd und Hose an, band sich eine Krawatte um und fuhr den Wagen aus der Remise.

Nach dem Frühstück setzten wir uns ins Auto. Mein Großvater steuerte mit der gespannten Aufmerksamkeit, mit der er auch am Ruder seines Bootes saß; eine Aufmerksamkeit, die auf alles vorbereitet ist ...

Ich erinnere mich an heiße Nachmittage.

Der alte Stadel hatte seinen Rausch, einen, der ihn in eine unerhörte Heiterkeit versetzte. In den angewinkelten Armen trug er einen Amboss aus der Werkstatt, setzte sich in passende Entfernung und schleuderte leer getrunkene Flaschen dagegen. Den Klang des splitternden Glases begleitete er mit Bemerkungen von biblischer Kraft.

»Da, peng, das war der Hohlkopf von deinem Vater oder der von deiner Mutter, dieser Lehrerziege. Eine ganze Generation von Steißtrommlern. - Komm her, mein Kind«, ich ging hin, »so wie ich, so sitzt Gottvater und scheißt auf uns, auf dich, auf mich, auf uns alle. Wo bin ich nicht gewesen? Siebenmal, siebenmal in Amerika«, eine unheimlich hohe Zahl, nicht auszurechnen, wie hoch, »untergegangen mit 'ner ganzen Ladung Kognak, vom feinsten«, mit mindestens drei f, »könnt ich jetzt trinken, könnt die Ladung jetzt gebrauchen! Damals waren die Yankees trocken.«

Er trank aus einem hohen alten Zinnbecher, hielt die Weinflasche gegen das Licht und bemerkte beiläufig: »In zehn Minuten schlag ich mein Wasser ab ...«

Er konnte eine Menge vertragen, und wenn er trank, war er ein redebedürftiger Mann, der sein Herz leicht öffnete.

»Jetzt raff ich Geld zusammen, dann kauf ich mir eine Insel, kaufe ich mir eine Insel«, er wiederholte sich, setzte zu einer machtvollen Vision an und verhieß mit starrem, Glauben heischendem Blick: »Dort bau ich ein großes Haus ohne Innenwände, mit 'nem Kuppeldach.«

Dann persiflierte er unvermutet: »Als Kaiser Rotbart lobesam besoffen aus der Kneipe kam ...« Er schleuderte eine Flasche, sie zerbrach, ihr Inhalt ergoss sich rot über den Amboss, und bedauernd sagte Mattias Stadel: »Da war noch was drin. Das nennt man einen Missgriff.«

Meine Großmutter gesellte sich zu uns, aus dem Stall trottete die schwarze Stute heraus und schnupperte dem Alten an den Ohren herum; sanft stieß er ihre Schnauze weg. Irgendein Köter erschien und ergänzte das bukolische Bild. Mein Großvater legte seine Hand auf die Schultern meiner stattlichen Großmutter, die sich ihren Teil an dem roten Saft sicherte. Übrigens besaß ich meinen eigenen Zinnbecher mit einem sitzenden Mann darauf, der seinen Arm um die Hüften einer Frau gelegt hatte und ihr zutrank. Der Wein stieg uns zu Kopf, ich kletterte auf den Gaul, der wie immer geduldig dastand. Heute erscheint mir dieses Bild so fremd, als gehörte es unter eine sorglosere Sonne. Und dann folgte ein Märchendialog eines Alten mit seiner Alten.

»Ich bau uns ein Schiff.«

»Du baust uns ein Schiff, Alter - na ja, und was dann?«

»Dann rüsten wir unser Schiff aus.«

»In Ordnung, das haben wir nun gemacht, und was weiter mit dem ausgerüsteten Schiff?«

»Dann legen wir ab.«

»Wohin?«

»Weiß der Teufel«, er dachte einige Sekunden lang nach, »in die Südsee, siebenmal, siebenmal bin ich ...« Mein Großvater zimmerte weiter an seiner Welt. Meine Großmutter lachte Tränen, er zog sie an sich. Die Stute trottete auf den Amboss zu und leckte den Wein auf.

Mein' Großvater war ein körperlich starker Mann, der Ortscheite über das Dach seines Hauses in Wendisch-Rietz feuerte, um sich zu trainieren. Kann schon sein, dass meine Mutter mit ihrer Behauptung recht hatte, dass es uns damals gut ging.

»Ach«, sagte sie jetzt, »der alte Stadel war ein Original, er hatte nicht gerade ein goldenes Herz, im Gegenteil, er war geizig und jähzornig, und man musste ihm manchmal aus dem Wege gehen, aber auf seine Weise war er ein ganzer Mann.«

Ein ganzer Mann - Vorstufe und zugleich äußerste Steigerung für Verena - musste jemand sein, den sie damals wie heute gern um sich duldete und anerkannte.

»Um auf die Schule zurückzukommen«, sie schüttelte den Kopf, schlug die Augen nieder und sah mich rasch an, »ich bin nie klug daraus geworden. Mir schien, du hättest dich sogar schnell eingelebt und angepasst. An deinen Zeugnissen konnten wir erkennen, dass du nur wenig Mühe hattest mitzukommen.«

»Ich erinnere mich daran kaum noch.«

»Nein, natürlich nicht, wie könntest du dich nach so vielen Jahren erinnern, ich meine nur, du willst mir doch weismachen, die Schule ist eine Qual für dich gewesen. Schule in dieser, also in jener Zeit«, sie deutete mit dem Zeigefinger in eine unbestimmte, historisch gemeinte Richtung, »und daran kannst du dich gar nicht entsinnen.«

Ich versuchte ihr klarzumachen, dass es nicht um Erinnerung gehe; die sich in Daten ausdrücken lasse oder in Erfahrung, dass es um Eingebungen, Instinkte, um Gefühle gehe, die sich viel länger erhalten und auf die viel eher Verlass ist als auf Erfahrung: »Intuition ist ein Sublimat aus vielen Erfahrungen.«

Sie stimmte zu. »Du hast recht. Ich will dahinaus: Du hast in deinen ersten Schuljahren eine ganz normale Entwicklung genommen, ohne Schwierigkeiten.«

»Mama, es war eine Erziehung zum Gehorsam, ich will dir erklären, dass ich allmählich ...«

»Aber du hast sogar geweint" weil du nicht zum Jungvolk durftest, du sehntest dich nach der schwarzen Hose, dem braunen Hemd mit dem Lederknoten, dem Koppel; dein sehnlichster Wunsch ist dieses Fahrtenmesser gewesen, das ein Kind ja erst nach Erreichung seiner Initiation tragen durfte. Du wolltest unbedingt eine Trommel haben oder diese große Fahne mit der Siegrune. Erinnerst du dich wirklich nicht?«

Ich erinnerte mich wohl, aber das sind Vorgriffe.

»Und wie ist es bei deinem Kind gewesen? Nicht doch ähnlich? Von einem bestimmten Punkt an entwachsen uns die Kinder, suchen andere Kreise und Beziehungen.«

»Mama, wirfst du jetzt nicht zu viel in einen Topf? 'Beschönigt muss ja nicht auch noch werden, was passiert ist, was so natürlich und so logisch aussieht, als hätte es nicht auch anders kommen können.«

Sie nickte abwesend, ihre Geduld war erschöpft, wie ich sah.

»Aber ich bin sicherlich normal gewesen, mit Ängsten und Ahnungen, nicht dumm, wie du sagst, und so weiter, erst durch diese ...«

»Da haben wir es, wieder ist dein Komplex am Werke. Kannst du dich nicht endlich beruhigen? Du hast doch erreicht, was, du wolltest. Wir haben uns damals nicht viel wehren können und uns schließlich seufzend gebeugt – ausgenommen vielleicht der alte Stadel; ich glaube, du hast ihn richtig beurteilt -, und zum Schluss hörte man gar nicht mehr hin. Ganz wie heute. So ist es eben.« Sie schwieg. Dann leiser: »Sterne verlöschen, Sterne gehen auf, wir sind eben nichts.«

Sie hatte mich zum Schweigen gebracht, und ich frage mich, warum es ihr immer gelang, ihren Fatalismus auf mich zu übertragen. Weil sie auf einem Hort an Bewusstsein saß und weil -je länger, desto mehr- ihre Position als die sicherere erschien?

»Du tust mir leid«, bemerkte sie noch, »vor vierzig Jahren konntest du dich noch auf eine Hoffnung berufen. Es ist alles anders gekommen, nicht wahr? Von der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit ist nicht mehr viel übrig geblieben. Der Überfluss bleibt aus, und er wird sich nicht einstellen, solange du lebst, und besser ist der Mensch auch nicht geworden. Im Grunde hat sich nicht viel verändert. In dieses Zeitalter der getäuschten Erwartungen traten wir schon neunzehnhundertvierzehn ein, das ist die Wahrheit.«

Sie brach ab, ging zum Fenster und sah hinaus. Ich wusste, was sie dachte, dieser Blick aus dem Fenster, die Straße hinunter und hinauf, belehrte uns über Tatsachen.

Schweigend stellte sie das Geschirr auf ein Tablett und trug es in die Küche.

Dame in Weiß

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