Читать книгу Dame in Weiß - Helmut H. Schulz - Страница 7
ОглавлениеKapitel 4
Goll verschmähte es, einen Stock zu benutzen, mit einer für ihn typischen Bewegung zog er den Fuß über den Teppich, es sah aus, als verhalte er den Schritt.
»Hör zu, Weißer Adler ...«
Goll schüttelte ablehnend den Kopf, eine dunkle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn. Ohne Vorbereitung gab er unserer Fantasie eine neue Richtung: »Die Goten eroberten das Römische Reich.« Wir hatten nicht die mindeste Ahnung, worum es sich handelte: »Alarich - als ihr König Alarich gefallen war, staute ein anderer König den Fluss ab, ich weiß seinen Namen, aber der Name spielt keine Rolle.« Goll schlug mit der Hand auf ein dickes Buch. »Also, sie stauten den Fluss, gruben in sein nun trockenes Bett ein Grab und legten ihren König Alarich hinein. Dann ließen sie den Fluss ... «, er unterbrach sich begeistert, um zu zitieren: »mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.«
»Warte mal«, Schott grinste, »du hast dieses dicke Buch doch nicht etwa ganz gelesen?«
Goll nickte gleichmütig, und wir beugten uns, diesem Heroismus.
»Das sind Germanen, wir stammen von ihnen ab. Mein Vater sagt, wir sind die besten auf der, Welt. Indianer sind genaugenommen Mongolen.«
Schott blätterte in dem Buch. Er besah die Bilder und nörgelte: »Die sehen ja aus wie Weiber!«
Alle wollten jetzt die Zeichnungen betrachten. Wir rissen uns beinahe das Buch aus den Händen. »Die haben Kuhhörner am Kopf.«
»Wie die Irokesen«, bemerkte Jendokeit.
Ungeduldig erklärte Ludwig: »Das sind keine Irokesen, Mensch, sondern junge germanische Krieger. Sie ließen sich die Haare wachsen, bis sie einen Feind getötet hatten. Sie schworen einen Eid. Der größte ihrer Könige hieß Teja, schwarz, finster, todbringend ...«, wir sahen ihn an, musterten seine dunklen Haare, seine finster blickenden Augen unter der hervortretenden Stirn, und er brachte es fertig, uns vergessen zu lassen, dass wir kleine Jungen waren, die sich vor ihren Eltern fürchteten, die ihr Lehrer Zissel bis in die Träume verfolgt hatte, die Granatsplitter sammelten und verhökerten. Wir wurden selber zu langschopfigen tapferen Kriegern. Unsere Fantasie holte ins Gegenwärtige, was wir anders nicht erfassen konnten. Und selbst unser Protagonist, uns geistig voraus und überlegen, begriff kaum, was er redete: »Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt / Wir sind die letzten Goten / Wir tragen keine Krone mit / Wir tragen einen Toten ...«
»Hör zu, Weißer Adler ...«
»Ich bin Teja«, verkündete Goll. Es klang wie ein neues Gesetz; die bunte Welt der Indianer erhielt ein nordisches, helleres Pendant.
Dann erschien Ludwigs Mutter mit einem Tablett. Es gab Kakao und süßes Gebäck, wir verwandelten uns wieder in normale kleine Menschen. Ich beobachtete, wie die Blicke der Mutter sorgenvoll dem humpelnden Sohn folgten. Mir stieg die Schamröte ins Gesicht. Als wir uns auf der Diele verabschiedeten, sagte Jendokeit: »Frau Goll, wir sind ja mit dabei gewesen, als das mit Ludwig passierte, es tut uns sehr leid. Wird er nie wieder richtig gehen können?«
Sie nickte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie schob uns hastig hinaus.
Im Jahr vor der Umschulung wendete ich mich stärker meinem Vater zu. Der kindlichen Spiele überdrüssig, interessierten mich seine Spiele, die Spiele der Männer. Als Kaufmann war er ein guter Rechner, diese Fähigkeit kam seiner neuen Arbeit zugute. Vermutlich bot ihm die Beschäftigung mit mathematischen Problemen eine Möglichkeit zur Flucht vor anderen, sozialen Fragen. Es mochte seinen Grund haben, wenn er mich anherrschte: »Eben nicht sechs Äpfel, du Dussel. Das ist ja gerade der Witz dabei, a sind keine sechs Äpfel, sondern a ist einfach a. Verstehst du?«
Ich war zehn Jahre alt, hatte von Algebra keinen Schimmer und sah ihm wissbegierig über: die Schulter, wenn er konzentriert arbeitete.
Nach wie vor trug er elegante Anzüge, zartblaue Hemden und auffallende Krawatten; er zupfte an den Bügelfalten herum, um sie an den Knien nicht auszubeulen. Sein Haar war sorgfältig kurz geschnitten und gescheitelt. Auf der kleinen Nase saß eine Goldbrille, sein Bruder, von Beruf Optiker, hatte sie angefertigt; das feste Kinn mit den dünnen Lippen bildete eine erste Speckfalte, wenn mein Vater den Kopf auf die Arbeit senkte. Er verbrachte viel freie Zeit am Schreibtisch; er müsse irgendeine Prüfung ablegen, hörte ich ihn wie entschuldigend sagen, aber das Lernen schien ihm nicht schwerzufallen.
Hin und wieder gönnte er sich eine Pause, holte einen kleinen Block mit steifem, hartem Papier hervor - sein leider stets verschlossener Schreibtisch schien mir unerschöpflich an Wundern dieser oder jener Art - und begann mit Wasserfarben zu malen. Immer malte er gleiche oder ähnliche Motive, Bäume, Seen und sanft abfallende Uferzonen. Diese Malerei ging ihm rasch von der Hand. Bedeutung maß er dieser Kunst jedoch nicht bei.
»Das muss nass und ganz dünn aufgetragen werden«, er führte meine Hand, erlaubte mir, auch, seine Malerei zu kopieren, und eines Tages ließ er sich dazu bewegen, einen Indianerkopf zu malen. Glänzend entledigte er sich dieser Aufgabe; ich kopierte den Kopf etliche Male, bis mir eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vorbild gelungen war.
Er besaß auch ein kleines Schülermikroskop, mit dem wir experimentierten. Als Untersuchungsmaterial dienten uns Stubenfliegen oder Schmetterlinge und andere Insekten, die wir auf dem Balkon, fingen. Mein Vater stellte einen Heuaufguss her und zeigte mir die ungeahnt lebendige Welt, ein Gewimmel einfachen Lebens. Während des Sommers sammelte er Gräser und Pflanzen und presste sie zwischen Büchern. Sein Herbarium wuchs von Jahr zu Jahr, und sein kleines Zimmer muss ihm wie ein Refugium erschienen sein. Er ging kaum aus, und manchmal hörte ich meine Mutter darüber klagen.
»Wir können doch nicht immer zu Hause sitzen.« Sie häkelte an ihren Decken; eine Arbeit, bei der sie immer gereizt war.
Er nickte seelenruhig. »Doch. Wohin willst du denn gehen?«
»Hast du keine Angst, ich könnte mal allein gehen?«
Manchmal wurden Türen geknallt, meine Mutter hämmerte auf dem Klavier herum, und mein Vater sagte: »Sie hat wieder ihren Vogel.«
Im Winter betrieb er eifrig Astronomie, er kaufte Bücher von Bruno H. Bürgel, verschaffte sich Karten und Sternenabbildungen. Gelegentlich, wenn es nicht zu spät werden würde, durfte ich mit nach Treptow in die Sternwarte. Es gab Fachleute und Laien, die sich stundenlang in grimmiger Kälte vor dem Spiegelteleskop aufhielten, um den Lauf der Gestirne anzusehen.
»Papa, wie weit sind die Sterne weg?«
Seine Ruhe und Geduld paarte sich mit Ehrfurcht. »Unvorstellbar weit, ungeheuer weit.« Er suchte nach einem Bild für mich, nach einem Ausdruck, der kosmische Größe hätte erklären können. »Man rechnet da nicht mehr in Metern oder so, sondern - das verstehst du nicht.«
Ich verstand nicht, aber wir berechneten die Entfernung zwischen Erde und Sonne, da ich immerhin schon multiplizieren konnte. Mein Vater zerlegte mir die Aufgabe in eine Reihe von leichten Multiplikationen.
Meine Mutter bemerkte: »Was soll denn der Blödsinn?
Was hat das Kind davon? 'Meinst du, es hat jetzt einen besseren Begriff vom Universum als vorher?«
»Wenn er keine Lust hat, kann er ja aufhören.«
Überstieg, was ich tat, mein Begriffsvermögen, so tat ich es doch gern, denn der Kontakt zu meinem Vater befriedigte mich sehr. Ich wollte von ihm anerkannt werden und suchte ihm natürlich auch Fertigkeiten abzusehen, die mir bei meinen Freunden ein besseres Ansehen gaben. Seinen Indianerkopf hatte ich kopiert, ich kam aber nicht auf den Gedanken, seine Arbeit für meine auszugeben; es war mein Vater, der das alles schuf, und ich hatte daran teil, weil ich sein Sohn war. Bald durchschaute ich auch, dass meinem Vater unter allen Vätern, die ich mit der Zeit kennenlernte, ein besonderer Rang zukam - nicht in der sozialen Welt, sondern in der Welt des Geistes. Er war für mich etwas Besonderes. Auf Schritt und Tritt erwartete ich Auskünfte von ihm, und meistens bekam ich sie auch.
Vielleicht wählte er bei unseren Ausflügen oder Beschäftigungen immer die Situation, die ihm Gelegenheit gab zu belehren. Allmählich stieg mein Respekt vor seinem Drang nach Wissen ins Unermessliche. Mochte es mit seiner gelehrten Bildung wenig auf sich haben; für meine Erziehung war die Vermittlung empirischer Methoden, das Erwecken von Neugier wichtig.
»Mama, glaubt Papa an Gott?«
»Hm, er sieht Gott in der Natur.«
»Papa, glaubst du an Gott?«
»Hm, als Materie, als Geist - später, mein Sohn, alles hat seine Stunde.«
Meine Tante Barbara legte das widersprüchliche Gerede so aus: »Das haben sie gesagt? Natur ist Sünde, Geist ist Teufel, sie tragen zwischen sich ..., ach, kleiner Mann, wenn du wüsstest, wie viel Zeit du noch hast.«
Meine Tante Barbara und mein Vater waren sicherlich der denkbar größte Gegensatz, er missbilligte ihr Leben, sie dagegen respektierte ihn, und in diesen Haltungen drückten sich ihre und seine Grenzen aus. Sein Moralbegriff war eng.
»Papa, Barbara ist meine Lieblingstante.«
Er schwieg, und ich wollte ihm Zustimmung abringen.
»Wirklich.«
Er gab keinen Laut von sich.
Meine Mutter: »Mein Gott, ist das eine überspannte Familie. Nun sag doch schon, dass du sie magst.«
»Ich mag sie aber nicht.«
»Ich kann meine Schwester Barbara auch nicht ausstehen, aber du kannst doch trotzdem ...«
Ich lief aus dem Zimmer und ging in meine Hinterstube, durch die Türen hörte ich, wie sie weiter stritten.
Seit dem Tod meiner Großmutter veränderte sich der alte Stadel. Die Trauer über den Verlust klang bald ab. Er ließ sich einen Bart wachsen, der Kinn und Wangen bedeckte, schwarz wie Pech aussah und ihn jünger machte, aber seinem Gesicht auch das Gutmütige, Opahafte nahm. Er aß oft bei uns, stocherte mit der Gabel in Fleisch und Kartoffeln, schob den Teller beiseite und verlangte Kaffee.
»Vater«, sagte meine Mutter mit zurückgehaltenem Ärger, »woher sollen wir Kaffee nehmen. Wir sind im Krieg. Ich habe keinen.«
Er schlug auf den Tisch, dass die Gläser leise einen hellen Klang gaben; seine Stirnadern schwollen. »Wir sind im Krieg, wenn ich das schon höre. Ihr werdet euch wundern, das ist erst der Anfang, ihr werdet noch in Schmalz gebackene Nägel fressen ... « Und er grölte eine Unflätigkeit.
»Nimm bitte auf die Kinder Rücksicht.« Die blauen Augen der Arzts strahlten zornig. Sie presste ihre Lippen fest zusammen und begann ihre Hände zu kneten.
Ihre Wut beruhigte den Alten; sie passten im Grunde beide gut zusammen.
»Entschuldige, ich habe ein Pfund Kaffee mitgebracht, hab es vergessen - energische Frauen haben was Verführerisches.«
Er legte seine Hand auf ihre, sie zog die Hand weg, aber sie lächelte ihn versöhnt an, nachdem er ihre Eitelkeit herausgefordert hatte.
Plötzlich sagte mein Vater: »Wenn dir unser Tisch nicht passt, Vater, dann such dir einen besseren.« Er erhob sich und ging hinaus.
»Was ist denn mit dem los? Hab ich denn was gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, irgendwas ist mit ihm los, ich möchte wissen, was dahintersteckt.«
»Soll er eingezogen werden?«
»Bis jetzt haben sie ihn reklamiert, wenn der Krieg weitergeht ...«
»Ganz recht«, sagte mein Großvater, »wenn der' Krieg weitergeht - er geht weiter, Verena. Mich macht der Gedanke krank, dass ich jetzt, wo es mir gut geht ... «, ihm fiel seine Frau ein. »Vielleicht hat sie das bessere Los gezogen. Wer weiß, was noch alles kommt.«
Ich versuchte ihn über Amerika auszuhorchen.
»Indianer? Wie kommst du denn darauf? Es gibt in Amerika keine Indianer, ich bin ja nur in den Häfen gewesen. Da gibt's Schnapshändler, Nutten, Schlepper, einmal war ich schiffbrüchig, bin mit dreißig Flaschen Kognak abgesoffen, das heißt, mich haben sie ja aufgefischt, aber der Kognak war futsch. Indianer hab ich keine gesehen.«
Hier stießen die Welten einmal mehr zusammen, und die des alten Stadel war unheimlich konkret.
Mein Vater kam wieder herein und beteiligte sich ruhig, als wäre nichts vorgefallen, an dem weiteren Gespräch. Quengelig sagte der Alte: »Ich glaube, ich sollte es euch sagen, ich halte es allein nicht mehr aus, ich heirate wieder.«
Meine Mutter schnappte ein. »Das ist ja deine Sache, Vater. Immerhin, das Trauerjahr hättest du schon noch abwarten können.«
Mein Vater nickte jedoch zustimmend. »Wie alt bist du jetzt?«
»Weißt du nicht, wie alt dein Vater ist? Sollte mich nicht wundern, du vergisst ja auch unseren Hochzeitstag, kaum dass du dich der Geburtstage entsinnst.« Sie gab sich kühl, aber ich sah, dass sie innerlich bebte. Dass mein Großvater heiratete, bedeutete den Schlussstrich unter die Existenz meiner Großmutter.
»Dein Vater ist zweiundsechzig«, schloss meine Mutter.
»Danke für die Auskunft.«
»Na also«, der alte Herr stand auf, »mach uns Kaffee, Rena, und dann könnt ihr euch demnächst allein euren Sonntag versauen und euch anöden. Ohne mich.«
Er ging mit meiner Mutter hinaus, mein Vater blieb sitzen, langte nach der Zeitung und begann zu lesen. Ich machte, dass, ich wegkam.
Die Erinnerung an meinen Bruder Felix glich einer Wunde, die sich nicht schließen konnte. Wir standen an seinem Grab, meine Mutter Verena, meine Schwester Veronika und ich. Obgleich die Augustsonne das Grab meines Bruders mit Lichtbündeln überschüttete, obgleich meine Mutter sich einem ungehemmten Redefluss überließ und meine Schwester mir die Hand auf die Schulter legte, weil sie mich beruhigen wollte, versagte meine Kraft gegenüber dem Schatten.
Felix Ernst Stadel, geboren 1937, gestorben 1944 ...
»Kurz vor seinem siebenten Geburtstag«, sagte meine Mutter. »Felix war ein schönes Kind, schöner als ihr«, sie streifte uns mit einem Blick aus ihren scharfen blauen Augen und fuhr fort: »Er war sanftmütiger als ihr. Er war der Sonnenschein für uns alle. Was schlimm war, verlor seinen Schrecken - ein Engel.«
»Um Gottes willen, Mutter, hör auf«, zischte meine Schwester. Sie führte mich beiseite, wo ein Kranz lag, den sie mitgebracht hatte. Wir lösten die Schleife: Zum Gedenken an unseren Bruder Felix, Hans-Dieter und Veronika und hoben den Kranz auf. Ich sah, wie meine Mutter mit einer Harke den Hügel säuberte. Dann ging meine Schwester den schattigen Friedhofsweg entlang, um Wasser zu holen. Meine Mutter nutzte Veronikas Abwesenheit, um zu kritisieren. »Findet ihr es nicht doch etwas übertrieben, heute, nach so vielen Jahren einen solchen Aufwand um Felix zu machen?«
Eine leichte Unsicherheit in ihrer Stimme war unverkennbar. »Veronika wird mir auch von Jahr zu Jahr fremder.«
Mir rückte sie mit den Jahren näher, obschon ein großer Unterschied an Jahren zwischen uns war; und daran änderte auch die Entfernung nichts. Sie lebte in München. Wir sahen uns kaum einmal im Jahr.
Meine Schwester brachte die gefüllte Kanne, wir traten zusammen an das Grab meines Bruders, und ich fühlte ein Stechen in den Schläfen.
»Ist dir schlecht? Du 'siehst blass aus.«
Ich gab keine Antwort, wir legten den Kranz auf das Grab, Veronika goss Wasser in die trichterartigen Vasen, und ich steckte meinen und Verenas Strauß hinein.
»Was hat denn eigentlich dein Kranz gekostet, Roka?«
Gleichmütig nannte meine Schwester einen hohen Preis, und meine Mutter schnappte nach Luft. »Ich weiß wirklich nicht, ob das nötig gewesen ist. Na, ihr müsst es ja haben.«
Ich schätzte an Veronika die Ruhe, mit der sie das Gerede ertrug.
Wir griffen nach Kanne und Hacke, die der Friedhofsverwaltung gehörten, und begaben uns langsam zum Ausgang. Meine Schwester schob ihren Arm unter den unserer Mutter. Wir gingen sehr langsam. Meine Mutter blieb von Zeit zu Zeit stehen, dann blieb auch Veronika stehen. Ich dachte an den Tag, an dem sie geboren wurde ...
Meine Mutter stand im Morgenrock am Fenster. Sie bewegte sich schwerfällig, manchmal stöhnte sie leise. In der Nacht waren Bomben gefallen, wir hatten den Angriff im Luftschutzkeller unseres Hauses ganz gut überstanden. Im trüben Licht einer Notbeleuchtung schleppte sich meine Mutter nach der Entwarnung, die Hand am Geländer, die Treppen des verdunkelten Hauses hinauf. Ich war ihr mit einem kleinen Koffer gefolgt, geängstigt, nicht durch den. Nachtangriff, sondern bei dem Gedanken, meiner Mutter könnte infolge der Schwangerschaft etwas zustoßen. Mein Vater war nicht da, aber es kam hin und wieder ein junger Mann, Georg, er blieb auch über Nacht. Er sah gut aus, ein Ehrendolch baumelte am Gelenk über dem Waffenrock des Fliegeroffiziers.
Ich selber stand auf dem Sprung. Mit meinen zwölf Jahren hatte ich eine weite Reise vor, war ich weg, würde sich niemand mehr um meine Mutter kümmern.
»Hör zu, mein Junge, du musst jetzt ein Mann sein.« Wie mich das damals schon ankotzte, dieser Männlichkeitswahn Verenas, meiner Familie, aber es stimmte, ich hatte tatsächlich die Last, ein Mann zu sein, übernehmen müssen. »Ehe du was anderes machst, gehst du zur Hebamme und sagst ihr, es ist soweit. Dann gibst du dieses Telegramm an Papa auf. Vielleicht geben sie ihm Urlaub.« Sie hob den Hörer des Telefons ab, ich lauschte auf das Freizeichen, es kam keins, und sie legte resignierend den Hörer auf die Gabel. »Also versuch meine Schwester Barbara anzurufen, sie möchte herkommen.« Dann konnte meine Mutter nicht weitersprechen, sie krümmte sich und stieß einen sonderbar hellen, abgebrochenen Schrei aus, der mich traf wie ein Hieb auf den Magen.
Die Hebamme war damit beschäftigt, Bretter vor die Fenster, zu nageln, auf dem Fußboden lagen Glassplitter. Man bekam sie selten ganz aufgefegt, das Glas löste sich unter dem Druck der Detonationen in Glasstaub auf, er blieb in den Dielenritzen hängen, maserte die Möbel - man gewöhnte sich an das Knirschen unter den Schuhsohlen.
Die Hebamme, eine dicke Frau mit Brille, hatte sich ein paar Nägel zwischen die Zähne geklemmt, sie legte ein Brett an, ich hielt das andere Ende fest, und sie klopfte den Nagel ungeschickt ein.
»Wie heißt sie?«
Ich nannte unseren Namen. »Sie hat Schmerzen.«
Die Hebamme schob mich beiseite und schlug die andere Seite des Brettes fest, im Zimmer herrschte jetzt Halbdunkel, das Weiß der medizinischen Einrichtungsgegenstände glänzte kalt und fahl und flößte mir Schrecken ein.
»Sie soll sofort kommen.«
Wir gingen in die Küche, die Hebamme nahm eine Kanne vom Herd. Sie goss sich ein Zeug ein, das schwarz aussah, aber nichts mit Kaffee zu tun hatte. Dann brach sie ein Stück Weißbrot ab, schob es in den Mund und trank von dem schwarzen Zeug.
»Habt ihr eure Fenster heute Nacht behalten?«
Ich nickte, bei uns waren die Glasfenster drin geblieben. »Ich halte mich an Bretter. Fliegen sie raus, habe ich sie mit ein paar Nägeln wieder dran.«
Ich saß wie auf Kohlen, aber ich traute mich nicht, sie anzutreiben. Sie redete mit mir, als hätte sie einen Erwachsenen, einen mit allen Fragen einer Geburt Vertrauten vor sich.
»Keine Sorge, das Kind liegt ganz normal. Es ist ihr Drittes. Ich hab euch beide geholt.« Sie schluckte. »Wo ist dein Vater?«
»Im Krieg, aber kein Soldat.«
»Ach ja, dein Vater ist ja was Technisches.« Sie wischte sich den Mund und lehnte sich zurück; dann rauchte sie.
»Donnerwetter, wollen Sie nun endlich kommen!«
Sie lachte, rauchte weiter und schüttelte mehrmals den Kopf. Ich sagte nichts mehr, ich stand auf und ging zur Tür.
»Warte doch«, sagte sie, »du musst mir doch helfen.«
Wir packten ihre Sachen ein, verschiedene blitzende Instrumente, deren Aussehen nichts über ihren Gebrauch verriet.
Unterwegs - ich trug ihre Sachen, sie half sich mit einem Stock weiter - sagte ich, dass ich meiner Tante telefonieren müsse, sonst wäre niemand als Hilfe im Hause.
Die Hebamme schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät.«
Ich schloss die Wohnungstür auf und führte die Hebamme ins Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter saß mehr auf dem Bett, als dass sie lag. Das Haar klebte ihr feucht am Kopf. Die Hebamme erschrak. »Los, setz Wasser auf, schnell, viel Wasser.«
Ich stellte ihre Sachen hin, stand begriffsstutzig da; sie drehte mich bei der Schulter herum und schob mich hinaus. In der Küche stellte ich alle Töpfe und Kessel, die ich fand aufs Gas, suchte nach Schüsseln und Wannen. Sie kam, wusch sich gründlich mit heißem Wasser die Hände, ich suchte in ihrem Gesicht nach Spuren einer Katastrophe - bahnte sich hier ein Drama an? Was, wenn Verena stürbe und das Kind am Leben bliebe?
»Geht euer Telefon?«
»Bis vorhin ging es noch nicht.«
»Der Krieg hat was Gutes«, sagte die Hebamme. »Er hat euch zu richtig brauchbaren kleinen Männern gemacht. - Hoffentlich schlafe ich nicht ein.«
»Ich kann Ihnen eine Tasse Kaffee kochen«, ich wusste, wo Kaffee für den Notfall aufbewahrt wurde, und ich sah, dass sich die alte Frau nur mühsam auf den Beinen hielt.
Erfreut nickte sie. »Ich hatte wenig Schlaf.«
Auch wir hatten kaum geschlafen.
»Und wenn wir Alarm kriegen, was machen wir dann?«
»Dann musst du deine Mutter runter schleppen, und sie wird ihr Kind im Keller zur Welt bringen.«
Wir brühten Kaffee, ich selber trank auch davon.
»Wie alt bist du?«
»Zwölf.«
Sie sah mich aufmerksam an. Anscheinend gefiel es ihr, wie ich mich hielt. Sie nickte befriedigt und gab eine Erklärung ab: »Das Kind ist bei deiner Mutter im Bauch, das weißt du, und es ist viel größer als ...«, sie suchte nach einem Ausdruck, der für mich passte, und überschlug den Satz. »Kurz gesagt, wir werden beide alle Hände voll zu tun haben, aber es wird schon klappen. Du bleibst hier, bis ich rufe, dann bringst du heißes Wasser, wir müssen deinen Bruder oder deine Schwester baden. Was ist dir eigentlich lieber, Bruder oder Schwester?«
Ich zuckte die Schultern, es war mir gleich.
Sie drängte: »Du musst doch eine Meinung haben - du, ein vernünftiger Junge?«
Ich tat ihr den Gefallen. »Einen Bruder, wie mein Bruder Felix.«
Sie erinnerte sich. »Den hab ich auch geholt. Wo ist er denn?«
»Bei meinen Großeltern, er kommt dieses Jahr zur Schule.«
Ich assistierte ihr, so gut ich konnte. Alles ging gut. Dann lag das Kind in den Armen der Hebamme, es hatte dunkle Haare und dunkle Augen, es schrie kläglich und anhaltend, was die Hebamme sichtlich erfreute. Ich sah zu, wie sie das Kind badete.
»Es ist ein Mädchen.«
»Das seh ich.«
Im Badewasser trieb eine lange bläuliche Schlange mit einem blutigen Stumpf, als hätte dort der Kopf der Schlange gesessen. Die Hebamme legte das Kind auf ein großes weiches Tuch, die bläuliche Schlange wurde zusammengebunden.
»Wird das wegoperiert?«
»Es fällt von allein ab. - Ein wunderschönes Mädchen, Frau Stadel.«
Meine Mutter bekam das Kind an die Seite gelegt. Die Augen meiner Mutter waren blau, ihr Haar und ihre Haut waren hell. Die Hebamme ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder und lehnte den Kopf an die Wand.
»Machen Sie sich jetzt keine Gedanken, Frau Stadel«, warnte sie, »es ist Krieg, und Ihr Mann ...« Meine Mutter schickte mir einen Blick zu, den die Hebamme bemerkte. Sie verstummte.
»Wie soll das Kind denn heißen?«
»Kriemhilde.«
»Auch das noch. Schicken Sie Ihren Jungen zum Standesamt, die Geburt anmelden. Der Bengel ist anstellig - viel zu weit für sein Alter.«
Meine Mutter nickte. Sie drückte das Neugeborene vorsichtig an sich, ich fühlte Eifersucht aufkeimen. Dieses Gefühl wurde durch das der Scham verdrängt. Ich ahnte einen Zusammenhang zwischen dem jungen Fliegeroffizier und dieser Schwester, und zum Schrecken über das moralische Vergehen meiner Mutter gesellte sich Verachtung. Zuletzt überwog Mitleid mit ihr, die das alles eben mit einer tiefen Erschöpfung bezahlte.
Meine Mutter schlief, das Neugeborene schlief, sie erwachten, meine Mutter stillte das Kind, ich sah zu, wie aus den Brüsten meiner Mutter Milch quoll; es gelüstete mich, diese Milch zu kosten; aber ich war bereits so etwas wie ein Mann, zwischen ihr und mir standen schon die Zeichen des anderen Geschlechts. Von Erziehung zur Natürlichkeit konnte in der Familie keine Rede sein, ich war allein in den Nächten, unwissend, mit schmerzhaft erigiertem Glied, und hatte keine Ahnung, was in meinem Körper vor sich ging. Meine Freunde wollte ich nicht fragen, ich ahnte auch, dass sie nicht klüger waren als ich. Wir lebten in barbarischer Keuschheit unter dem Schreckgespenst, das Selbstbefleckung hieß.
Meine Tante Barbara konnte nicht kommen, sie war, in Weimar dienstverpflichtet bei Siemens. Meine Tante Gusti konnte nicht kommen, sie erteilte Unterricht in einer Schule weitab, mein Vater hatte das Telegramm nicht beantwortet, mein Bruder Felix war zu klein, um zu schreiben. Mein. Großvater Friedrich Arzt ließ uns allerdings seine Glückwünsche zukommen. Er erschien jedoch auch nicht.
Eines Tages legte ich meiner Mutter die standesamtliche Urkunde aufs Bett. Sie fühlte sich nicht wohl - es war ihr drittes Kind, sie bekam es im Alter von achtunddreißig Jahren. Ihr Gesicht war knochig geworden, ihre Finger dünn und weiß, mich entsetzte alles, dieser Geruch von Schweiß und Schwäche. Ich half ihr beim Aufstehen, half ihr beim Waschen der Windeln, ich ekelte mich, aber ich blieb standhaft; oft badete und fütterte ich das Kind allein. Schule gab es keine mehr, ich hatte Zeit.
»Du musst sie lesen«, sagte ich.
Sie las und legte das Blatt in ihr Schubfach.
»Kriemhilde ist ein blöder Name, Mama.«
Ich hatte eigentlich nichts gegen den Namen einzuwenden gehabt, aber ich wollte dieses Mädchen, an dessen Leben ich meinen Anteil hatte, zu meinem Besitz schlagen.
»Aber wie bist du bloß auf den Namen Veronika gekommen?«
»Ich habe im Buch nachgesehen, er gefiel mir - Verena, Veronika. Ich habe Papa den Namen geschrieben.«
Sie erschrak, fiel in ihre stumpfsinnige Müdigkeit und fragte leise: »Und hat er schon geantwortet?«
Ich log, dass er geantwortet habe. Sie verlangte den Brief zu sehen, und ich log weiter: »Ich habe ihn mit verbrannt, als ich die anderen Sachen verbrannt habe.«
Ob sie mir glaubte oder nicht, war mir gleichgültig.
»Wenn Felix hier wäre«, sagte sie.
Felix erschien und mit ihm mein Großvater Friedrich Arzt. Er trug noch immer seinen dunklen, jetzt abgeschabten Anzug, eine Weste und den dünnen schwarzen Schlips. Ihm war ein dichter grauer Bart gewachsen, und mein Großvater hatte eine Glatze bekommen. Er setzte sich an das Bett seiner ältesten Tochter. Felix setzte sich zu ihr, sie nahm seine Hand, und ich drängelte mich neben Felix. Mein kleiner Bruder verströmte Wärme, er war braun gebrannt und lachte viel.
»Es geht dir anscheinend nicht sehr gut«, sagte mein Großvater missbilligend. »War es nötig, in deinem Alter noch ein Kind zu bekommen?«
Meine Mutter sah schuldbewusst auf die Decke ihres Bettes, ihre Hände bewegten sich krampfhaft, sie schloss und öffnete die Fäuste.
»Lass sie in Ruhe«, sagte ich zu meinem Großvater. Friedrich Arzt bemerkte: »Und warum hören wir von diesem freudigen Ereignis erst jetzt? Wo ist dein Mann?«
Sie weinte, mich quälte dieses Gerede, ich nahm instinktiv ihre Partei oder stand vielleicht auch schon bewusst gegen den philiströsen alten Mann, diesen ordentlichen Menschen, der einer Leidenden einen Tritt versetzte und sich zu dieser Rohheit berechtigt glaubte.
Er stand auf, ging hin und her, so wie er vielleicht in seiner Dorfschulklasse hin und her ging.
»Hier bleiben könnt ihr nicht. Das ist wohl klar, du«, er zeigte auf mich, »musst endlich wieder zur Schule gehen, sie braucht in der Tat Pflege, und die Luftangriffe hier tun ein Übriges. Ich denke, es ist das Beste, Mutter und Kinder kommen zu uns nach Hammelspring.«
Ich war gegen diesen Plan, ich weiß nicht warum, seine Art stieß mich ab.
»Ich gehe in keine Dorfschule.«
Er tat erstaunt. »Was heißt, du gehst in keine Dorfschule? Wie sprichst du überhaupt mit mir?« Er wandte sich an seine Tochter. »Verena!«
Ich sah, dass sie Angst vor ihm hatte, dass sie lieber hierblieb, mit der Todesgefahr, an die wir uns gewöhnt hatten, dass sie diese Gewissheit nicht mit einer Ungewissheit vertauschen wollte.
»Meine Schule wird nach Oberschlesien verlagert, ich geh mit. Ich will mit.«
»So?« Er nickte. »Schön, und du? Was hast du hier verloren?«
Sie fasste Mut. »Wirklich, Vater, ich bin besser in Wriezen aufgehoben beim Bruder des alten Stadel. Ich will dort ein bisschen arbeiten.«
Er überlegte. »Es ist das Jahr der Entscheidung, zweifellos, unser deutsches Volk befindet sich in einer Lage ...«
Ich hörte nicht mehr zu, sondern zog meinen Bruder hinaus: Aber ich ließ die Tür offen, für alle Fälle.
»Felix, wie geht es dir?«
Ich fühlte, dass eine wichtige Entscheidung über unsere Zukunft bevorstand, dass der alte Friedrich Arzt überhaupt nur deshalb gekommen war, um eine Lösung zu erzwingen, eine Lösung, die er für richtig hielt. Mein Bruder trat zu mir, legte mir beide Arme um den Hals, er schmiegte sich an mich, ich streichelte ihn.
»Ich will wieder zu euch.«
»Ich versprech dir, wir kommen alle wieder zusammen, das versprech ich dir, jetzt musst du noch mal mit nach Hammelspring, und ich muss wahrscheinlich nach Gleiwitz oder in ein anderes Kaff. Mutter zieht mit Roka weg, und vielleicht kommt Vater bald.«
Jetzt, wo ich aufzählte, was uns heimgesucht, war mir klar, dass sich keine günstige Wende anzeigte, dass alles mit dem Krieg zusammenhing, der, für uns keine heroische Seite hatte. Er riss uns auseinander.
Am anderen Tag brachte ich den Alten und meinen Bruder zur Bahn. Wir standen auf dem Bahnhof, es war ein kühler Tag, Regenschauer und Sonnenschein lösten sich ab. Mein Großvater trug sein graues und schwarzes Zeug, dazu einen Mantel und einen Hut. Mein Bruder Felix lief hin und her, er tat mir leid, ich sah, dass er wie ein eingesperrter Vogel herumflatterte, ohne einen Ausweg zu finden.
»Man hat mir gesagt, dass du dich ausgezeichnet gehalten hast«, begann mein Großvater, »eines deutschen Jungen würdig.«
Ich hasste ihn für diesen Zusatz, ich war stolz darauf, ein Deutscher zu sein, das stimmte schon, aber ich wollte nicht werden wie dieser dürre Schulfuchs, den ich mir beim besten Willen nicht als Armin vorstellen konnte, der die römischen Legionen, bezwang. Ich durchschaute die Absichten meines Großvaters, der nie etwas Unvernünftiges tat.
»Dein Vater möchte seine Tochter natürlich sehen, aber du weißt ja, dass es nicht immer nach unserem Willen geht. Der Führer ...«
Ich ließ ihn stehen, um Felix zurückzuholen, der sich sorglos in Nähe der Bahnsteigkante aufhielt. Meinem Großvater war ich entronnen, aber nicht meinen Gedanken. Er wusste so gut wie ich, dass Veronika einen anderen Vater als ich hatte. Er wollte auf den Busch klopfen, mich täuschen oder aushorchen; gestern noch hatte er den Sittenrichter gespielt, heute hielt er es für gut und richtig, sich auf die Tatsachen einzustellen.
»Papa ist nicht Veronikas Vater«, sagte ich, »aber sie ist unsere Schwester.«
Er sah in die Ferne, konnte sich nicht entschließen, mir zuzustimmen, und sagte: »Du bist sonderbar, eiskalt glaube ich. Da kommt unser Zug.«
Wir brachten die Sachen ins Abteil, mein Bruder ließ seine Arme aus dem heruntergelassenen Fenster hängen. Es wimmelte von Soldaten: mit Gepäck, ohne Gepäck. Feldgendarmerie ging auf und ab, Rotkreuzhelfer standen herum. Der Zug war nicht stark besetzt, es war ein Personenzug, der bis Templin fuhr. Von dort wurden mein Großvater und Felix mit einem Pferdefuhrwerk abgeholt.
»Also, mach's gut«, sagte mein Großvater, und nun, beim Abschied, fiel mir auf, dass er sehr gealtert war, auch ihn nahmen die Ereignisse mit.
Dann rollte der Zug aus dem Bahnsteig. Ich drehte mich um und fuhr zu Goll, um etwas über unseren neuen Aufenthalt zu erfahren, denn Goll, Jendokeit, Schott und wer sonst noch zu uns gehörte, fuhren selbstverständlich mit nach Gleiwitz.
Meine Mutter sagte: »Glaubst du das wirklich?« Sie wendete sich an Veronika, »Roka, du musst ihm das ausreden, er leidet in letzter Zeit an solchen Hirngespinsten.«
Meine Schwester saß am Steuer ihres Wagens, Verena neben sich, ich saß hinten.
»Können wir fahren?«
»Bin ich Luft für dich?«, fragte meine Mutter.
Veronika schaltete den Motor ein, er brummte leise, ich schloss die Augen und erwartete, dass sie anfahren würde, aber sie schaltete den Motor wieder aus und drehte sich halb zu Verena herum. Ich fühlte die Bewegung und öffnete die Augen.
Ich hatte meine Schwester im Profil gegen die helle Frontsichtscheibe, eine lange Stirnlinie ging in einen geraden Nasenrücken über; Oberlippe, Mund und Kinnlinie, das lockere Haar erinnerte an die Frisur oder Unfrisur Barbaras. Meine Schwester redete mit rauer, heiserer Stimme, die gut zu ihr passte; sie leitete eine Bankfiliale. Sie war das, was man erfolgreich nennt. Ihr Mann war Jurist.
»Ist das alles jetzt nicht ganz gleichgültig geworden«, sagte meine Schwester.
»Was weißt du denn?« Verena war sichtlich froh, sie zum Sprechen gebracht zu haben. »Ich meine, es ist nicht gleichgültig, wer dein Vater gewesen ist.«
Wütend schaltete meine Schwester, sie fuhr sehr schnell die Klement-Gottwald-Allee hinauf, sie erinnerte sich offenbar sehr gut der alten Straßenverläufe.
»Fahr die Ostseestraße rechts hinein«, sagte ich, »es ist der kürzeste Weg.«
»Heißt sie noch Ostseestraße? Ihr habt doch die Manie, alle Straßen umzutaufen.«
»Was ich immer sage ...« Verena legte ihre kleine, zerbrechliche Hand auf den Arm ihrer Tochter, »eine rein idiotische Manie, alle Straßen dauernd umzubenennen. Kein Mensch findet sich noch in Berlin zurecht.«
Wir fuhren bis zur Hallandstraße, meine Schwester parkte ihr Auto, dann gingen wir nach oben in unsere Wohnung.
Meine Schwester setzte sich zu mir in das alte Arbeitszimmer unseres Vaters, vielleicht nicht ihres Vaters, sie rauchte und sah mich an.
»Und wann kommst du uns besuchen«, fragte sie.
Die Frage enthielt den Kern eines unausgetragenen Zwistes. Sie wusste, dass ich keine Möglichkeit hatte, sie zu besuchen, und ich wusste, dass sie mit den Gegebenheiten vertraut war. Jeden Tag konnten sich die Verhältnisse zum Schlimmeren wenden, wir machten uns nicht klar, dass wir am Rand eines Abgrundes lebten. Ich zog es vor zu schweigen.
»Bist du immer noch allein«, fragte meine Schwester.
Es war eine lange Geschichte, die meine Schwester und ich irgendwann einmal erörtern mussten, jetzt dachte ich an Felix, und wenn es etwas gab, das uns band, dann war es unser Bruder Felix.
Meine Mutter rief zum Tee, wir gingen hinüber in ihr Zimmer, setzten uns an ihren kleinen runden Tisch mit der zierlichen Decke.
»Ich habe Bilder von Felix gefunden«, sagte Verena, während sie uns Tee eingoss und Gebäck zurechtstellte. Meine Schwester langte nach den Bildern, ich warf einen Blick auf die Fotos, ich kannte diese Bilder.
Verena seufzte. »Er war ein schönes, zartes Kind, sein Geist war leicht und lebendig, etwas Träumerisches war immer um Felix. Keins meiner Kinder war so wie er«, sie blickte uns nacheinander an, »wenn eins meiner Kinder, eins von euch, nicht dieselben Eltern gehabt haben sollte - ich streite es ja nicht ab, ich weiß es nicht, ihr wisst es nicht, und so wollen wir die positivste Möglichkeit annehmen -, dann war es nicht Roka, sondern Felix.«
Sie brachte es fertig, über diese Dinge wie über einen Vorgang zu reden, der nichts mit ihr zu tun hatte, der sie nichts anging. Meine Schwester behielt ihr Schweigen bei. Ich wusste, dass wir noch Zeit haben würden zu sprechen.
»Gehst du mit Hans weg?«, fragte meine Mutter.
»Ich habe vor, zuerst bei dir ein paar Tage zu bleiben, Mutter, dann will ich zu ihm«, sie nickte mir zu, »wenn es dir recht ist«.
»Mir ist es recht«, sagte Verena Stadel, »Wird dich dein Mann abholen?«
»Wir reisen von hier aus nach Kanada. Bob will fischen; lange Ferien.«
Verena begann zu schwärmen: »Da habt ihr es, wir reisen von hier aus nach Kanada. Ihr wisst überhaupt nicht, wie gut ihr es habt.«
Meine Schwester sah mich an, und ich erklärte ihr, dass ich Verena eine Reise nach Ungarn, oder wohin sie sonst wollte, vorgeschlagen, ohne dass sie eingewilligt hätte.
Meine Mutter lachte hellauf. »Er versteht nichts, dein Bruder versteht nichts, das ist köstlich an ihm. Was geht mich Ungarn an? Mir liegt nichts am Reisen. Ich kann nicht, falls ich es wollte, wohin ich will. Man verwehrt es mir. - Denkst du wirklich, ich würde mit dir nach Ungarn reisen? Ich würde vielleicht dort sterben, weil ich das Klima nicht vertrage oder das Essen, und es soll auch sehr unsauber in Ungarn sein.«
Meine Schwester bekundete weder Zustimmung noch Ablehnung.
»Dein Bruder ist recht trocken geworden, mein Kind«, sagte meine Mutter, »die Luft hier bekommt ihm nicht.«