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1. Bier muss immer laufen

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Dies ist die Geschichte Karls, der geboren wurde an einem grauen Aprilmontag in der Inselstraße, im Herzen der Stadt Berlin. Sein Eintritt in die Welt war durch das bemerkenswerte Ungeschick gekennzeichnet, eine erste Chance verpasst zu haben. Wenn er sich etwas beeilt hätte, wäre er ein Sonntagskind geworden, und Sonntagskinder, sagt man, sind Auserwählte des Glücks. Was aber kann man als Montagskind schon von der Welt erwarten? Die Welt - das ist das aufgeregt brodelnde Berlin von 1925 -, eine fiebernde, überhitzte Großstadt schreiender Gegensätze, ein Organismus, dessen Puls im ersten Morgengrauen schon zu schlagen beginnt, heftig, unregelmäßig, während man einem Tagewerk nachjagt durch die regennassen Aprilstraßen, eine Stadt, die Krieg, Revolution und Inflation gerade überstanden hat, Rekonvaleszent an einem Tisch, der auf eine wunderbare Weise wieder gedeckt wird. Diese Zeit soll in die Geschichte eingehen als die Goldenen Zwanzigerjahre.

Also muss es ein Glück gewesen sein, in diese Welt zu kommen, in der die Rentenmark täglich an Wert gewinnt, in der die kleinen Leute endlich ihr Scherflein nach Hause tragen, und die großen natürlich ungleich mehr. Aus dem unruhigen Schoß der Nation aber quellen die neuen, barbarischen Regimenter, ihre genagelten Stiefel treten den Asphalt, als gelte es, einen langen Marsch zu proben.

Nachts ist die Stadt ein einziges riesiges Angebot, eine Mischung aus Geschäft, Vergnügen, Spaß. Die Stadt kennt keine Ruhe, sie schläft stundenweise einen Erschöpfungsschlaf, gleichsam nebenher. In Karls ersten Schrei mischte sich die Regentrommel auf dem Fensterzink.

Eine Kochstube ist kein Palast, sie ist weniger als eine Wohnung. In einer Kochstube wird gewohnt, gekocht, gegessen, geschlafen. Sie ist eine grandiose Erfindung - ihr Schöpfer muss ein Menschenfreund und ein großer Geschäftsmann gewesen sein.

Für den kleinen Karl ist die Kochstube die Welt, und der Blick durch das altmodische Rundbogenfenster auf die Inselstraße mit dem Denkmal Schultze-Delitzschs gehört dazu. Da ist die Mutter, Gertie Kirchhoff, auf deren Schoß man liegen, stehen, sitzen oder reiten kann, eine höchst angenehme Einrichtung. Das Wort Mutter oder Mama lernt man zuerst, und man vergisst es zuletzt. Sie ist eine freundliche Frau, ihre Gefühle übertragen sich leicht: lacht sie, ist man versucht, es nachzutun; weint sie, dann dauert es nicht lange, und das eigene Gesicht krampft sich zusammen; ist sie ängstlich, spürt man ein bedrückendes Gefühl. Der Vater, Hermann Kirchhoff, ist schon etwas entfernter, zumal, wenn er liest. Eine weitere Quelle der Freundlichkeit ist die Hoffnung auf Bonbons etwa oder auf einen Spaziergang. Die dritte Person ist die Schwester Renate, und sie ist schon mehr ein Ärgernis. Mit ihr ist man den ganzen Tag zusammen, sie verkörpert handgreiflich die Gewalt, wenn Mutter und Vater irgendwo draußen arbeiten. Unter Arbeit kann man sich nichts vorstellen.

All das wird eines Tages durch die Entdeckung der Straße verdrängt. Rechts vom Hauseingang ist eine Kneipe, sie gehört Onkel Hannemann. Zwischen ihm und Karl spinnt sich eine Art Grußbekanntschaft an. Ihm gehört das Haus, in dem sie wohnen.

„Wie gehört, Rena?“

„Das verstehst du noch nicht", sagt die Schwester. Es ist wahr, man versteht noch sehr wenig.

„Du darfst niemals in die Kneipe gehen", sagt die Schwester.

Karl hatte nie die Absicht gehabt, den augenzwinkernden Wirt zu besuchen, nun allerdings, nach ihrem mahnenden Hinweis, wird er gelegentlich hineinsehen müssen. Links neben dem Hauseingang ist ein Gemüsegeschäft, und dann reckt sich das Haus, in dem man wohnt, bis in den Himmel, Fenster reiht sich an Fenster. Die Welt ist groß. –

Das Schönste sind die Sonntage. Der Vater redet mit Renate, zeigt ihr Bücher und Bilder, streicht Karl zwischendurch über den Kopf, die Augen hinter seiner Brille sind sanft, Renate liegt ihm halb auf der Schulter. Die Mutter hantiert mit Töpfen und Tellern, es riecht angenehm, und von seinem Stuhl aus ist man immer im Bilde, was sich vorbereitet. Nachts liegt Karl neben der Schwester im Bett, weil nur zwei Betten aufgestellt werden können, schlingt den Arm um ihren Hals und atmet in ihr Haar, langes, weiches Haar, das kitzelt. „Kleiner Klammeraffe“, sagt die Schwester zärtlich. Man flüstert und kichert noch etwas, bis die Mutter energisch Ruhe gebietet.

Bald auch kann Karl sich mit Renate vernünftig unterhalten. Sie ist doch kein Ärgernis. Sie wäscht einem das Gesicht, hat immer ein zärtliches Verlangen nach Küssen.

Der Vater ist ein Konfektionär, die Schwester erklärt: „Er verkauft in einem großen Geschäft Anzüge und Mäntel.“

Und dann hört man, er sei arbeitslos geworden. Was bedeutet das? Eindeutig etwas Gutes. Der Vater ist nun immer zu Hause. Welch ein Glück, diesen freundlichen Mann ganz für sich zu haben, der liest und vorliest, Zigaretten raucht, Teller wäscht, Essen kocht, spazieren geht. Nur lacht er nicht mehr so oft wie früher. Warum? -

Karl kommt in diesen Jahren auch etwas näher an Onkel Hannemann heran, der jetzt viel vor seinem Laden sitzt und auf Kundschaft lauert. Dabei lernt Karl das Berlinern und bereichert seinen Wortschatz durch einige saftige Brocken, er erfährt von „Nutten in den Kochstuben“ und von der „Sitte“, die mal wieder überfällig sei. Währenddessen fahren Autos durch die Inselstraße, Lastwagen mit Leuten in braunen Uniformen mit heruntergezogenen Mützenriemen und klingenden Liedern.

„Na, leicht habt ihr's wohl jetzt ooch nich“, sagt Onkel Hannemann, und Karl nickt und geht nach oben in dem Bewusstsein, dass man es nicht leicht habe. Es ist nicht alles klar an dieser Welt, man scheint in eine immer größer werdende Verwirrung hineinzuwachsen. Karl blickt in das fünfte Licht auf dem Geburtstagskuchen, sieht die zuckenden, warmen, lebendigen Flammen, schaut in dieses goldene weiche Flackern und möchte danach greifen, die Flammen fangen, in den Händen festhalten. Aber so viel hat er doch schon gelernt: Wer nach dem Feuer greift, verbrennt sich.

Morgen, heißt es dann noch, morgen gehen wir zum Großvater.

Die Familie war zerstritten. Der alte Herr Schuster, Karls Großvater, und Herrmann, Karls Vater, konnten einander nicht ausstehen. Gertie, die Mutter, aber ging in die „Friedliche Einkehr" und half in er Küche. Karl kannte seine Großeltern noch nicht. Nun aber hatte der Großvater gewünscht, den Enkel kennenzulernen, und die Eltern berieten und entschieden, man könne diesen Wunsch des Großvaters verstehen. Ein wenig Stolz, einen gerade gewachsenen Sohn vorzeigen zu können, war auch dabei.

Für Karl war die Reise mit der Straßenbahn vom Spittelmarkt nach Steglitz ungeheuer weit. Wenigstens die halbe Welt mussten sie durcheilt haben, ehe sie beide vor der Tür der Gaststätte standen, unter dem Schild: Friedliche Einkehr. Inhaber Wilhelm Schuster. Weine, div. Liköre, gepflegte Biere, kalte und warme Speisen. Die Mutter holte tief Atem. Karl sah sie an. Warum zögerte sie? Da wurde von innen die Tür aufgerissen, und drei schluchzende Frauen umgaben ihn wie ein feuchter Flor; die Mutter weinte nun auch.

„Das ist deine Oma Karl“, sagte sie und schob ihn der älteren, gutmütig dreinschauenden Frau zu. Die Oma schloss ihn in die Arme und küsste ihn. Dann küsste ihn auch die Tante Friedel.

„Mein Enkelchen“, sagte die Oma gerührt. Damit nahm sie Karl sofort für sich ein. Sie gingen in die Gaststube.

„Möchtest du was essen?“, fragte die Oma etwas hilflos.

„Er hat eben gegessen“, sagte die Mutter schnell. Es sollte nicht heißen, die Eltern bekämen ihre Kinder nicht satt. Karl sah sich um. In einer Vitrine lagen verlockend appetitlich angerichtete Würste und Würstchen, die er gern gekostet hätte…

„Na, dann gehen wir nach hinten. Das ist ja nun wirklich nichts für die Gaststube“

Das hat sie vergessen mit dem Essen, dachte Karl, oder sie hat es nur so und nicht ganz ernst gemeint. Sie gingen in die Küche, und die Oma stellte ihn allen möglichen Menschen vor, Lieferanten, Kellnern und Abwaschfrauen, bis von hinten eine Stimme knarrte: „Sind sie da?"

Die Frauen zuckten zusammen, ihre Erregung übertrug sich sogar auf Karl.

„Der Alte“, sagte die Oma. Auf diese Bemerkung setzte sich alles in Bewegung, was zur Familie gehörte. Karl stand vor dem Opa und gab ihm unbefangen die Hand.

Der Opa hielt dem Jungen zwei Finger hin. Die Frauen wagten kaum zu atmen. Würde der Opa in Karl sein eigenes Fleisch und Blut erkennen? Der Alte massierte seinen Bauch, der über die Hose quoll und musterte Karl gründlich.

„Er hat dieselben Augen wie ich, was Anna? “

„Jaja“, sagte die Oma schnell, „dieselben Augen, Wilhelm. Es ist uns gleich aufgefallen.“

Der Opa zog die Brauen zusammen. Es missfiel ihm, dass sie eine Entdeckung gemacht haben wollten, die nur ihm zustand, dem Chef; Tante Friedel kicherte. Der Opa fand das unpassend.

„Geh an deine Arbeit!“, sagte er zu der Tante. „Und auch ihr anderen braucht hier nicht herumzustehen. Euer Platz ist in der Küche. Ihr kostet schon genug Geld.“

Das war die Strafe. Der Junge wusste noch nichts von der Macht, die dort auf dem Stuhl thronte und über die Gaststätte, einige Mietshäuser und ein ansehnliches Bankkonto gebot. Für ihn war das, was sich da spreizte, der Großvater, wie alle Kinder einen hatten, ein freundlicher alter Mann.

Nur die Oma blieb. Sie genoss offenbar Sonderrechte. Der Opa stand auf und trat an eine Kommode. Er untersuchte die Zigarren, die dort lagen, und entschied sich schließlich für eine lange dünne von fast schwarzer Farbe.

Karl besaß Sinn für Autorität. Dieser Opa schien eine Macht zu sein, sogar eine größere Macht als Onkel Hannemann, dem doch das Haus gehörte, in dem sie wohnten. Dem Opa wagten die Frauen nicht zu widersprechen. Sie gingen still in die Küche, wenn er ihnen das in ruhigem Ton gebot. Diesen Gehorsam kannte Hannemann nicht. Mit dem zankte sich das halbe Haus herum.

Karls Hochachtung für den Opa wuchs. Seine Gestalt war aber auch imponierend. Karl setzte sich auf die Ecke eines Sofas und sah sich um. Große, schwere Möbel füllten die Wände. Zwei Ölbilder in dicken goldenen Rahmen zeigten Hirsche, denen eine weiße Wolke aus der Nase kam, als ob sie rauchten. Der Alte ließ sich schwer stöhnend, als hätte er eine gewaltige Arbeit verrichtet, in einen Sessel fallen. Die Zigarre brannte nun ordentlich, und er war bereit, dieses merkwürdige Kind genauer zu betrachten. Er gestand sich ein, dass es ihm nicht ungelegen kam, den kleinen Burschen sympathisch zu finden. Kräftig schien er zu sein. Der Vater war am Ende unwichtig. Der Enkel gehörte der Familie, und auf Familienbesitz gab man acht. Es wäre ein schwerer Fehler gewesen, diesen hoffnungsvollen Spross allein dem Vater zu überlassen. Kinder konnte man nicht so ohne weiteres einkaufen wie Hammel oder Kühe. Der Vater war ein Spinner. Ihm konnte man das Geschäft der Erziehung nicht allein anvertrauen, zumal Karl ihm, dem Großvater, ganz eindeutig ähnlich sah. Das hatten selbst die Frauen gesehen, denen man in solchen Fragen schon mal ein Urteil zutrauen konnte, Der Opa entschloss sich, den Gegenstand dieser Darlegungen auf seine Qualität hin zu prüfen.

„Kennst du schon die Uhr? “ fragte er.

„Ja, die Uhr kenn ich“, sagte Karl. Da nun einmal die Rede auf Können und Nichtkönnen kam, gab Karl zu bedenken: „Ich bin auch schon groß für mein Alter.“

Der Opa betrachtete ihn abschätzend und gab ihm recht. Die Oma lächelte still. Der Opa hatte nicht viel Ahnung, wie groß ein Sechsjähriger sein musste, aber auf der Suche nach Vorzügen bei dem Enkel fiel dessen Größe am ehesten ins Auge. Die Oma enthielt sich klüglich jeder Bemerkung.

„Du wirst jetzt bei uns leben“, sagte der Alte. „Und dich nützlich machen“, fügte er hinzu. Nach einer kleinen Pause sagte er sinnend: „Wir müssen alle arbeiten.“

Karl lauschte hinaus. Aus der Küche kamen Geräusche, die er richtig als Arbeit deutete. Die machten sich nützlich, die arbeiteten. Es leuchtete ihm übrigens ein. Man arbeitete, um zu leben. Das hatte er oft genug gehört. Er nickte und besann sich auf schon Erlerntes.

„Ich kann Renate schon beim Geschirrspülen helfen“, bemerkte er, aber das beeindruckte den Opa keineswegs.

„Du wirst nach und nach alles lernen. Als ich so alt war wie du, bin ich schon mit aufs Feld gegangen. Von früh bis spät habe ich gearbeitet. Na, da hast du es besser.“

Karl sah ihn an, dankbar, dass er nicht mit aufs Feld musste. Der Opa war sicher gut. Karl rutschte aus seiner Sofaecke und ging zu dem Opa hin. Der Alte schnüffelte den Duft der Unschuld ein. Seltsame Gefühle befielen ihn, über die er selbst erstaunt war, als sich der Kleine auf seine Knie lehnte und ihn starr ansah. Für seine eigenen Kinder hatte er weniger Geduld aufgebracht. Karl zog die Hand aus der Tasche. Er hielt die ganze Zeit einen Gummilutscher umklammert. Nun war er entschlossen, sich davon zu trennen, um diesem riesenhaften Mann einen Gefallen zu tun.

„Da, nimm ihn“, sagte er und versuchte ihn dem Alten zwischen die Zähne zu schieben. Der wehrte ab, aber in seinem Fleischerherzen entstand ein Gefühlsschaden.

Er schnaufte gerührt: „Lass nur, mein Kind. Iss ihn man selbst. Opa raucht doch eine Zigarre.“ Und übermannt von soviel Menschlichkeit an einem Vormittag, stieg ihm eine Träne ins Auge.

„Was weinst du denn“, sagte das Kind, „es ist doch nischt los.“

Das war der Gassenjargon, die Rinnsteinsprache aus der Inselstraße. Der Opa raffte sich zusammen. Gewiss, es war nichts passiert. Das Kind wollte ihm seinen Gummilutscher schenken, mehr nicht. Große Leute rauchen Zigarren, sie machen sich nichts aus Gummilutschern. Das konnte das Kind aber nicht wissen, und daher blieb es eine gute Tat.

Er erhob sich und trat mit Karl an der Hand hinaus in die Küche. Die Frauen heulten auf, als sie das ungewohnte Bild sahen. Die Oma, die bisher alles relativ gefasst beobachtet hatte, weinte nun ebenfalls. Die Kellner grinsten verstohlen. Der Alte, mit dem sie nichts weniger als Freundschaft verband, mimte den gutmütigen Großvater - das war zu viel.

Der Opa sagte feierlich: „Gebt gut auf Karlchen acht. Geh dir alles ansehen, mein Junge. Lasst Ihn tun, was er will.“

Das war die Einsetzung eines Prinzen. Nun wussten es alle: Dieses Kind war künftig tabu. Auf ihm ruhte das strahlende Auge eines Monarchen.

Das neue Leben gefiel Karl. Jeden Morgen ging er mit der Mutter in die „Friedliche Einkehr“ und machte sich nützlich, wie der Alte es gesagt hatte. Das war ein neues, spannendes, Spiel. Für Karl war die Gaststätte ein unübersehbares riesiges Warenlager. Er hielt sich stundenlang im Lagerkeller auf, ohne das System ergründen zu können, nach dem die Vorräte geordnet waren. Bald jedoch erledigte er alle Aufträge, die ihm die Frauen gaben, lernte die Biersorten nach dem Flaschenetikett unterscheiden und stellte den Mäusen nach. Der Opa ließ sich von jeder Heldentat berichten, die sein Enkel vollbrachte, knurrte zufrieden über einen Fortschritt des Jungen und war in diesen Augenblicken zugänglich für andere, heikle Fragen. Auf diesen Umstand stellte sich das Personal ein. Schon deshalb mochten sie Karl. Hinzu kam, dass er ein liebenswürdiger Bursche war, der nie boshaft wurde. Und er hätte seine Stellung zu dem Alten wohl ausnutzen können. Er verriet nichts von ihren kleinen Unterschleifen, schnurrte wie eine junge Katze durch das Haus, empfand dankbar, dass sein Magen altes Eisen verdauen konnte, und fiel abends todmüde ins Bett, um traumlos zehn Stunden zu schlafen. Gelegentlich plauderte er mit Onkel Hannemann, der es übrigens ganz natürlich fand, dass ein Kind mit diesen Anlagen den sozialen Aufstieg zeitig begann.

Sein Hauptgesprächspartner war jedoch Renate. Karl saß in der „Küche“, einem abgeteilten Platz in der Kochstube, und beobachtete sie, deren Augen, grau wie Meerwasser an einem Regentag, über ein Buch hin und her huschten.

Warum sie wohl immer hier ist, dachte er, ob der Opa keine Sehnsucht nach ihr hat? Gerade eben wollte er sie daraufhin ansprechen, da stellte sie ihm selbst eine Frage.

„Wie ist denn der Opa eigentlich?“, wollte sie wissen.

„Ganz gut“, antwortete Karl, nun verblüfft, dass er sein Urteil nicht ausführlich begründen konnte.

Tags darauf fiel ihm ihre Frage wieder ein, als er mit dem Opa den Nachmittag verbrachte. Der Alte lag auf dem großen, mit Plüsch bespannten Sofa, von dem er behauptete, dass zwei Mann ihre Mühe damit hätten, und lutschte an seiner Zigarre. Es war die Zeit zwischen Mittag und Kaffee, in welcher der Betrieb in der „Friedlichen Einkehr“ immer etwas abflaute. Auf dem Tisch lagen die Abrechnungsbücher, die er soeben geprüft hatte. Karl saß in dem schweren Schreibtischstuhl. Er war sehr stolz, auf diesen Platz durfte sonst niemand, nur er und der Opa. Es war eines der vielen Vorrechte, die er genoss.

„Bier muss immer laufen“, sagte der Alte nachdenklich. Karl verhielt sich mäuschenstill.

„Na“, fuhr der Alte wie im Selbstgespräch fort, „es ist, weiß Gott, auch nicht immer so gelaufen. Mein Vater“, erklärte er dem im Zuhören geübten Enkel, „der war nur ein Postbote in Roditz, das ist ein kleines Nest in Schlesien. Da hatten wir nicht immer Leder an den Füßen, sondern Holzpantinen mit Stroheinlage. Im Sommer gingen wir barfuß.“ Er betrachtete seine großen, in Boxcalf steckenden Füße und setzte seine Betrachtungen zufrieden fort: „Ich habe zeitig arbeiten müssen. Mit dreizehn ging ich zu einem Metzger in die Lehre, und es war noch ein Glück, dass ich in Kost und Logis kam.“

„Was ist denn das, Logis?“, fragte Karl.

Der Opa dachte einen Augenblick nach. „Das ist, wenn man gleich da wohnt und beköstigt wird, wo man arbeitet. Eigentlich ist es ein Beschiss.“

Karl sah hinüber. Er konnte das großflächige Gesicht ganz gut sehen. Es musste wohl schwere Arbeit gewesen sein, die dem armen Opa aufgeladen worden war, und er hatte froh darüber sein müssen, dass er in ein Logis kam, obgleich es eigentlich ein Beschiss ist.

„Ich war aber auch ein Kerl“, sagte der Opa selbstgefällig. „Einssiebzig groß, damals schon ein Kreuz wie ein Bulle. Ich lernte dann auch bald aus, nur verdiente ich nicht mehr, als früher die geizigen Bauern an Trinkgeld gegeben hatten, wenn wir das Schlachtvieh zusammenholten, Pfennige. Drei Mark verdiente ich.“

Drei Mark ist wohl nicht viel, dachte Karl.

„Aber man konnte was damit anfangen“, sagte der Opa. „In diesem Jahr muss mein Vater gestorben sein - Mutter kannte ich überhaupt nicht. Sie war lange tot, und wir gingen einmal im Jahr zu ihrem Todestag an ihr Grab, wo der Alte sich immer ausheulte. Seine Sachen passten mir nicht, aber ich konnte das Häuschen verkaufen. Es waren Hypotheken drauf, und ich fiel wieder rein. Ich war damals dumm wie ein Hammel. Ich habe eine Masse Lehrgeld bezahlt.“

Karl merkte sich auch dieses: Ein Haus mit Hypotheken verkauft man nicht sonst ging es einem so wie dem Opa, der hereingefallen war.

„Später bin ich nach Berlin gezogen, das muss so um neunzehnhundertneun gewesen sein. Ich konnte ja was, war auch stark und kriegte gleich Arbeit. Die Metzger in der Stadt lernen nichts Richtiges, sie können man eben schlachten. Aber ich konnte auch Vieh taxieren, sogar Hammel, das ist am schwersten, dazu musst du Kopp haben. Schweine dagegen kaufen sich am leichtesten. Die kauft man einfach nach Gewicht. Beim Hammel weißt du nie genau, was hat er nun wirklich an Fleisch und was kannst du rausschlachten, was wiegt das Vlies? Hammel“, sagte der Opa eindringlich, „Hammel kaufen sich am schwersten.“

Karl verstaute diese wichtige Erkenntnis in seinem Kopf zu dem anderen, dass Bier immer laufen muss, und ein Haus mit einer Hypothek besser nicht verkauft wird.

„Vierzehn kam der Krieg“, spann der Opa weiter. Er schwieg eine Weile und Karl glaubte schon, nun sei der Faden gerissen, da fuhr der Opa fort: „Bis achtzehn war ich aus dem Schneider, hatte es geschafft.“

Karl wusste andeutungsweise vom Krieg als einem schrecklichen und furchtbaren Ereignis, in dem die Männer Soldaten wurden und totgeschossen, aber er fragte: „Warum war denn Krieg?"

Der Opa fühlte keine philosophischen Neigungen. Außerdem lag der Krieg lange zurück und hatte seine Unternehmungen damals eher gefördert als gehindert. Er beschloss jedoch, die Stunde zu eine größeren Belehrung zu nutzen.

„Also, das war so: Unser Kaiser, wir hatten einen Kaiser, musst du wissen, der wollte eigentlich keinen Krieg. Die anderen wollten Krieg. Sie haben einen Sohn von einem fremden Kaiser erschossen, und so ist der Krieg gekommen.“

Karl verstand das nicht. Er sagte: „Der Sohn von einem fremden Kaiser? Warum haben wir Krieg gehabt, wenn es ein anderer Kaiser war?“ Der Opa entdeckte die Logik nicht, die darin stak, hatte aber auch nicht die Absicht, sich in ein Gebiet abdrängen zu lassen, in dem er selbst nicht sattelfest war.

„Da bist du noch zu klein“, entschied er.

Weil man hiergegen nichts einwenden konnte, sagte Karl: „Nun musstest du in den Krieg?“

„Wieso ich?“, platzte der Opa heraus. „Wie kommst du denn darauf?" Aber um in den Augen des Enkels nicht zu verlieren, erläuterte er: „In einem Krieg werden nicht alle Soldat. Das ginge doch gar nicht. Ich war krank. Beim Viehtreiben hatte mir ein Bulle das Kreuz eingetreten. Davon hatte ich eine Beckenverletzung. Ich kannte aber den Oberst Landau, das ist ein Graf. Für den habe ich dann den ganzen Krieg über Beutevieh verkauft, das sie aus Russland und überall herbrachten. Der wollte nicht so in Erscheinung treten, weil er doch ein Graf war. Wir haben beide unseren Schnitt gemacht.“

Karl kletterte herunter von seinem Stuhl und ging zu seinem Großvater. Er hatte ein gutes Herz, und es tat sicher sehr weh, von einem Bullen ins Kreuz getreten zu werden. „Tut es jetzt auch noch weh, manchmal?“ In seinen Augen schimmerte ehrliches Mitgefühl. Der Opa versuchte sich der Qualen zu erinnern, die er ausgestanden, aber es gelang ihm nicht. Das lag wohl zu weit zurück. Er fuhr mit der riesigen, behaarten Pranke und den kurznägeligen Fingern über den Kopf des Kindes. Er sah sich auf den Märkten, gesund, zugreifend, schlau - und das Bild entsprach mehr der Wirklichkeit als die Qualen, an die ihn sein Enkel zu erinnern suchte.

„Am schwersten kaufen sich Hammel, lenkte er ab. Das wusste Karl schon, der sich wieder auf den Stuhl setzte. In die Stille hinein sagte der Opa sinnend: „Beinahe wäre dann doch alles im Eimer gewesen. Einer wohnte bei uns im Haus, der war bei den Roten. Als sie ihn holten, schrie er wie ein Kalb. Sie haben ihn gleich erschossen, ohne dass es geholfen hätte. Erst als Liebknecht totgeschlagen worden war, kriegten wir Ruhe. Da konnte ich mir endlich hier die „Friedliche Einkehr“ kaufen. Eine Eckkneipe. Der Berliner liebt Eckkneipen! Ich habe den Laden ganz schön hochgebracht. Ich war raus.“

Karl begriff die Gewichtigkeit der Mitteilungen nicht, aber dass der Opa jetzt ernste Dinge erwähnte, war leicht ersichtlich. Sie mussten einen erschießen und diesen Liebknecht totschlagen, sonst wäre alles im Eimer gewesen. Dem kranken Opa war keine Mühe erspart geblieben. Karl sah wieder hin zu den Fleischmassen auf dem Sofa, wo es jetzt still war. Der Alte dachte an sein Glück, das ihn in Europas dunkelsten Jahren nach oben getrieben hatte. Er dachte an die Kredite und Verbindungen, die mit einem Schlage da waren, und dass sein Kaiser diesen Krieg verloren hatte. Er aber hatte ihn gewonnen. Es war wirklich ernst gewesen, neunzehn. Wer weiß, wo sein Geld geblieben wäre. Man musste in die politischen Richtungen hineinhorchen, riechen, woher der Wind wehte, und der Staat musste das Eigentum schützen, ganz gleich, ob er demokratisch oder autokratisch, liberal oder monarchisch war, ob tugendhaft oder verbrecherisch: an dieser Frage schieden sich die Geister. Alles andere mochte gehen, wie es wollte. Mit der Anna hatte er keinen schlechten Griff getan. Wie die Weiber das bloß machten, Kinderkriegen, die Küche, die Gaststätte, eine ganze Masse Arbeit für eine Pfarrerstochter, die die Bibel gewissermaßen mit in die Ehe gebracht hatte, viel mehr übrigens nicht. Wer nichts erheiratet und nichts ererbt, bleibt ein armes Luder bis er sterbt. Das stimmte nicht immer, wie aus seinem Beispiel zu lernen war.

Im Ganzen kann man zufrieden sein, dachte der Opa und schloss mit der Bemerkung: „Das Leben ist eine verrückte Sache. Mal geht‘s rauf, mal runter. Man muss höllisch aufpassen.“

Diesen Grundsatz dauernder Kontrolle setzte er in die Tat um. Der kleine Zeiger der Uhr stand auf drei, und das Geschäft ging bald wieder los. Er erhob sich ächzend, legte die kalt gewordene Zigarre in die Aschenschale und zog die Hose hoch.

„Wollen mal sehen, was die Weiber machen“, sagte er zu Karl. „Nämlich, wenn man nicht dauernd hinterher ist, geht alles drunter und drüber.“

Karl nickte. Sie machten dem Opa das Leben schwer. Es ging eben mal rauf und mal runter, wenn man nicht wie ein Schießhund aufpasst. Die Kellner betrogen, und die Weiber arbeiteten nicht genug, kaum dass der Opa einen Augenblick auf dem Sofa liegen konnte. Sie gingen zusammen in die Küche. Von den drei Herdplatten stieg Hitze auf. Sie kochten für späte Mittagsgäste Tante Friedel schlug in einem großen Metallbecher Sahne, die Kaffeezeit rückte heran. Die Kellner rannten mit Tabletts umher und schwitzten nicht weniger als die Frauen. Gertie rechnete Bons ab. Es war etwas umständlich, dieses dauernde Abrechnen, aber es sicherte dem Opa einen besseren Überblick. Die Oma schlief um diese Zeit, weil sie den abendlichen Hochbetrieb bis zur Polizeistunde zu überwachen hatte. Der Opa runzelte die Stirn, immerhin war es schon nach drei Uhr. Heute vermochte er sich darüber nicht aufzuregen. Die Aufzählung seiner Erfolge hatte ihn in eine angenehme Stimmung versetzt.

„Macht uns mal ein ordentliches Tatar“, befahl er, „und bringt eine Flasche Bordeaux nach hinten.“ Er nahm Karl wieder an der Hand und beide verschwanden aus der Küche.

„Eine Hitze ist da drin“, sagte er vertraulich zu Karl. „Keine zehn Pferde würden mich da reinkriegen. Ich muss erst mal pinkeln. Geh schon nach hinten. Ich komme gleich nach.“

Aber Karl wollte unbedingt mitgehen. Er mochte sich jetzt von diesem gemütlichen Opa nicht trennen. Danach teilten sie das einpfündige Tatar und tranken Wein dazu, Karl ein kleines Glas, der Opa den Rest der Flasche. Dann wurde der Alte müde und legte sich wieder auf das große rote Sofa, das zwei Mann nicht schleppen konnten, und schlief ein. Karl rollte sich in das Fell davor.

Tante Friedel weckte ihren Vater gegen achtzehn Uhr. Sie brachte den Kaffee. Karl wurde von seiner Mutter geholt. Auf dem Nachhauseweg fragte sie ihn aus, aber der schläfrige Sohn antwortete wenig.

“Was habt ihr denn den ganzen Tag gemacht?“, forschte sie. „Junge, kannst du nicht antworten?"

Karl hielt mit Mühe die Augen offen.

„Der Opa hat mir was erzählte.“

„Was hat er dir denn erzählt?“

„Ich sag dir's morgen."

Gertie schwieg überrascht. So stolz sie auf den Sohn war, schlich sich doch etwas wie Angst in ihr Herz. Sie kannte ihren Vater, und sie wusste auch, wie Hermann über ihn dachte. Das konnte nicht lange gut gehen. Eine Veränderung Karls würde Hermann nicht hinnehmen. Sicher würde er dann den Umgang Karls mit dem Opa verbieten. Und das durfte nicht geschehen. Sie hoffte, der Opa würde Karl den Lebensweg ebnen.

„Ihr müsst doch irgendwas geredet haben?"

„Ja“, sagte Karl, „mal geht's rauf, mal geht's runter.“

In ihrer Verblüffung wusste sie nichts zu antworten. Das konnte Karl nur vom Opa haben. Die massige Gestalt ihres Vaters schob sich zwischen sie und ihren Sohn. Davon sollte Herrmann nichts erfahren.

„Du musst es nicht so nehmen“, sagte sie verlegen, schwieg aber, als sie in sein ernstes Gesicht sah.

Sie kamen spät nach Hause. Renate und der Vater saßen unter der Leselampe, und bald nach dem Essen ging die Familie schlafen. Karl nahm sofort seinen Platz ein, schnüffelte in Renates Haaren, wärmte sich an ihrem Körper, konnte aber nicht einschlafen. Seine lebhafte Phantasie ließ die Erzählung des Großvaters in bedrückenden Bildern wiedererstehen. Er sah einen kleinen Jungen in Holzpantinen auf einer staubigen, überhitzten Landstraße, erblickte einen weinenden Postboten am Grab einer Frau, ein Haus, dessen First sich unter dem Gewicht einer wirklichen Last bog. Ein mächtiger, riesenhafter Bulle warf einen Mann nieder, Leute mit wilden tückischen Gesichtern zerrten andere auf die Straße, sie schrien - bis alles durch einen donnerähnlichen Krach ausgelöscht wurde. Der erste Schritt aus der Inselstraße vermittelte einen Blick in eine schaurig-bewegte Welt, die sich erheblich von dem Frieden und der Stille der Kochstube unterschied; selbst der allabendliche Lärm in Onkel Hannemanns Kneipe konnte da nicht mithalten.

Renate schlief mit ruhigen, stillen Atemzügen, ein leiser Hauch kam aus ihrem Mund, sie lachte im Schlaf, suchte sich zu drehen, fand den Bruder an ihrem Hals und blieb geduldig liegen. Mit dem freien Arm umschlang sie seine Schulter, der andere lag unter seinem Kopf. Durch das Fenster fiel Licht auf das groß Bücherregal, das so viele Schätze enthielt, Bilderbücher und das Herbarium, wie der Vater Pflanzen und Blumen bezeichnete, die zwischen den Seiten dicker Bücher trockneten, dann eine große Sternenkarte, in der auf dunkelblauem Grund viele Sternbilder eingezeichnet waren, ein Stück Papierhimmel.

Und plötzlich hörte Karl Bruchstücke einer geflüsterten Unterhaltung zwischen den Eltern.

„So“, hörte er den Vater sagen, „der Junge hat den Alten buchstäblich umgekrempelt?“

Die Mutter bestätigte das. Er, Karl, könne machen was er wolle, der Alte wäre mit allem einverstanden. Sie würden sich nicht genug wundern über diese Entwicklung, aber das habe man ja häufig, dass die Großväter mehr an den Enkeln hingen als an den Söhnen und Töchtern. Wenn sie da so an ihre eigene Kindheit dächte…

Hier war ohne Zweifel vom Opa die Rede, diesem prächtigen Mann, der, wie man heute erlebt hatte, die Geschicke der „Friedlichen Einkehr“ von dem großen roten Sofa aus lenkt. Der Vater nannte ihn respektlos den Alten, und die Mutter widersprach ihm nicht.

„Ich glaube, Karl hat ihn gern“, sagte die Mutter. Stille. Auf der Straße rumpelte ein Auto vorbei, sein Lichtschein streifte das Bücherregal.

„Das ist ganz natürlich“, sagte der Vater.

Ja, der gutmütige Opa, der alles erlaubte, hatte ihn, Karl, zum Vertrauten gemacht, und das war ganz natürlich, wie auch der Vater fand, diese Autorität, die von allen bekannten Menschen die imponierendste war. Karl lauschte weiter, lag mucksmäuschenstill, um sich nichts entgehen zu lassen von dem interessanten Gespräch.

„Er wird ihn schon noch kennenlernen“, sagte der Vater.

Die Mutter kicherte leise. „Was begreift denn ein Kind davon? Man kann ihm doch nicht erzählen, was damals passiert ist. Ach Männe, mit deinem Schillerkragen und dem Theaterverein, du warst für mich doch damals ein Wunder mit deinem Gerede vom Himmel, von den Sternen.“

Ja, in den Sternen, da kannte sich der Vater aus, da wusste er Geschichten, dort war er zu Hause. Beinahe hätte sich Karl durch eine zustimmende Bemerkung verraten.

„Ich war wirklich blöd wie eine Gans. Habe ich dir eigentlich erzählt, dass mir erst der Doktor gesagt hat, was mit mir los ist? Da war ich im vierten Monat mit Renate.“

Was war das? Im vierten Monat mit Renate? Daraus wurde Karl nicht klug.

Der Vater lacht so laut, dass die Mutter ein „Pst“ ausstieß. „Und dann", sagte der Vater, „hat dich der Alte vor die Tür gesetzt, mit dem Bescheid, wiederzukommen, wenn du deinen Bauch los wärst. So, Tochter, hier ist nur einer Herr im Hause.“

Das stand scharf im Raum, und Karl erschrak. Der Opa hatte die Mutter vor die Tür gesetzt, weil sie zu dick geworden war? Die Oma schleppte auch einen Bauch vor sich her, freilich, die Oma durfte sich etwas erlauben in der „Friedlichen Einkehr“. Mehr als die Kellner, mehr als die Töchter, Tante Friedel und die Mutter. Diese Härte stand in einem Gegensatz zu der Milde, die der Opa jetzt an ihm, Karl, übte, aber wie hatte die Mutter gesagt: So was hat man oft.

„Mir war damals ziemlich mies", sagte die Mutter, „das kannst du mir glauben. Wenn du… dann hätte ich Schluss gemacht.“

Es verwirrte immer mehr. Schluss gemacht, wenn du? Wenn du, was?

„Ja“, sagte der Vater, „ich kenne doch den Typ. Von meinem vierzehnten Lebensjahr an, habe ich ein Dutzend solcher Chefs gehabt. Wenn die einer kennt, dann ich. Kriegsgewinnler, rasch eine Kneipe gekauft, ein paar Häuser, für ein paar Dollar konntest du ja ganze Straßen kaufen, und nun dicke da, große Leute, und plötzlich auch Grundsätze, plötzlich auch Macht. Wie mich das anwidert! Und wenn ich denke, dass Karl nun die Sechserweisheit gelehrt bekommen soll, dann werde ich verrückt. Das seh ich mir keine zwei Wochen mehr mit an. Ich hab nichts dagegen, dass die Großeltern ab und zu ihre Enkel sehen, aber so habe ich mir das nicht vorgestellt.“

Die Stimme war laut geworden; Renate seufzte im Schlaf, ihr Arm rutschte herunter. Karl tastete nach ihrer Hand, fühlte sie schlaff. Renate schlief, aber plötzlich zuckte die Hand, bekam Kraft. „Klammeräffchen“, murmelte sie schlaftrunken und schlief weiter.

„Hermann“, sagte die Mutter scharf, „red mir da nicht zwischen. Wenn der Alte seinen Narren an dem Jungen gefressen hat, dann soll er auch was für ihn tun. Wir können kein Schulgeld aufbringen, du hast jetzt nicht einmal Arbeit, ihm fiele das nicht schwer. Karl soll studieren, das hab ich mir in den Kopf gesetzt. Nein, lass mich jetzt. Jeden Groschen drehen wir zweimal rum, der Alte hamstert zusammen, was er kriegen kann. Tag und Nacht geht der Laden, keinen Sonntag, keinen Urlaub, so kriegt das Geackere wenigstens einen Sinn.“

Aus dem Gespräch war nun nichts mehr zu entnehmen, alles ging durcheinander, nur die Erregung blieb spürbar im Raum, griff vom Bett der Eltern auf ihn über, auf Karl, der studieren sollte. Machte ihr die „Friedliche Einkehr“ denn keinen Spaß? Und der freundliche Großvater, den sie hier Alten nannten, war der am Ende nicht ganz so freundlich, wie es den Anschein gehabt hatte?

„Und Renate?“, fragte der Vater knurrend.

„Da ist nichts zu machen. Sie ist ein Mädchen, das interessiert ihn nicht.“

So, da war wieder etwas Greifbares. Renate würde von dieser Herrlichkeit, die die Mutter für ihn erringen wollte, ausgeschlossen sein. Morgen würde er sie mitnehmen, diese große Schwester mit den komischen Augen, die seinetwegen so unbequem schlief. Er tastete mit der Hand in ihrem Gesicht herum. Sie erwachte. „Was wuschelst du heute bloß", sagte sie leise. Sie schliefen nun wirklich beide ein, fast Mund an Mund.

Früh gab es eine Überraschung. Karl stand träge auf, suchte sich an etwas Wichtiges zu erinnern, aber es fiel ihm nicht ein.

„Junge“, sagte die Mutter, „beeil dich doch. Wir kommen bestimmt zu spät. Ausgerechnet am Sonnabend.“

Karl sah sie störrisch an. Er türmte Marmelade auf eine Schrippenhälfte, stellte sich dabei ungeschickt an, kleckerte das Tischtuch voll und steckte einen Katzenkopf ein.

„Rena“, rief die aufgebrachte Mutter, „nun mach ihm doch mal die Schrippe. Heiliger Bimbam, das wird ja heute ein Tag, wenn wir so weitermachen.“

Hermann blätterte in der Zeitung. Und da entsann sich Karl des Wichtigen von gestern Abend. Die Schwester - heute waren ihre grauen Augen wie frischgewaschene Kieselsteine.

„Renate muss mit“, erklärte Karl nachdrücklich. Beinahe hätte er nun eine wirkliche Ohrfeige erwischt.

„Nun hör dir das an", sagte die Mutter, „Hermann, kannst du nicht mal aufhören mit Lesen? Hast du deinen Sohn gehört?"

Hermann lachte über das ganze Gesicht.

„Wenn Renate nicht darf, gehe ich auch nicht“, trumpfte Karl auf. „Dann gehe ich nie wieder zum Opa. So!“

„Eine Kochstube hat eben auch Vorteile“, sagte der Vater. Die Mutter wirtschaftete geräuschvoll herum, stellte mit einem Ruck die Tasche auf den Tisch und entschied: „So, mein Sohn, nun wollen wir doch mal sehen, ob du so ein Held bist, wie es scheint. Zieh dich an, Renate!“

Und so kam es, dass Karl, die große Schwester an der Hand, vor das Bett des Opas trat, der sie beide misstrauisch ansah. Und merkwürdig, dieses wunderbar schlanke Mädchen mit den komischen Augen machte ihn fast verlegen. Er schüttelte ihre Hand, hieß sie beide auf sein Bettende setzen und war wieder einmal den Tränen sehr nahe.

„Da seid ihr nun wie Hänsel und Gretel“, sagte er und erzählte das Märchen ohne Übergang und umständlich. Dann kam er auf eine praktische Folgerung: „Das mit dem Knochen fühlen, war gar nicht so dumm, das macht man heute noch so. Wenn die Knochen zum Beispiel an den Fußwurzeln noch dick und knubbelig sind, dann weiß man, es war ein guter Wurf.“

Er versank in Gedanken, während Karl seine dicken Finger besah. Renate hatte dünne Gelenke, zarte und schlanke Hände. So was muss es auch geben, dachte der Opa, nur, wohin steckt man ein solches Mädchen? In eine Küche nicht. Ja, was macht man mit einem solchen Mädchen? Sie ist eigentlich nur was zum Ansehen. Und damit erfüllte sie auch einen gewissen Zweck.

„Na“, sagte er, „schön, dass ihr da seid. Nun geht mal in die Küche, der Opa will jetzt aufstehen, und die sollen mir mal noch einen Kaffee brauen, mit nem Schuss Kognak. Die wissen schon Bescheid.“

In der Schloss- und in der Rheinstraße beginnt das Leben, Straßenbahnen rasseln, Autos hupen. In der Küche der „Friedlichen Einkehr“ wird das Sonnabendgeschäft vorbereitet, Leute kommen und gehen, Lieferanten, Besteller und Abholer. Riesenhafte Wurstplatten werden angerichtet, Braten bereitet, Torte wird geschnitten, Kaffee gemahlen, und die beiden Kinder laufen durch den Betrieb, helfen hier, kosten dort. Sie bringen etwas wie Glanz und Schimmer in diese Welt eintöniger Geschäfte. Sie essen mit dem Opa zu Mittag, sie spielen um seine Füße. Sie sind noch ohne jede Schuld an Geldeinbuße oder geschäftlichem Rückschlag, und dieser Umstand verschafft ihnen eine Menge Kredit bei ihrem Großvater.


Die Legenden des Karl Kirchhoff

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