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3 Politik ist ein schmutziges Geschäft

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Die Fragen eines Achtjährigen zielen auf alles, sie fassen die Summe des Erstaunens über die sinnliche Welt häufig in „Warum“ zusammen. Eben deshalb sind sie nicht leicht zu beantworten. Warum kann ein Auto fahren? Warum fallen Flugzeuge nicht herunter? Warum haben Giraffen lange Hälse? Warum können Tiere nicht sprechen? Die Fragen sind ohne allen Respekt, sie verlangen nach einer handlichen Formel, die Eingang in alles Neuentdeckte verschaffen soll. Die Antworten subsummieren sich mit der vorgefundenen Wirklichkeit, und dies zusammengenommen ergibt eine innere Landschaft, eine geschlossene oder offene Welt, für die Erwachsene leider selten einen Kompass haben, Dann sagen sie: „Welch ein drolliges Kind!“ Der Drang der Achtjährigen, ihre Welt- und Lebenserfahrung in eine eigene Struktur zu bringen, ist erstaunlich. Aus diesen Gründen ist ein Achtjähriger auf Antworten versessen, die ein Stück weitere Welt eröffnen. Am Auto interessiert ihn die Fortbewegung, und er sucht das Geheimnis im Inneren des Spielzeugautos. Dabei geht das Spielzeugauto entzwei und ist nun als Erfahrungsobjekt wertlos geworden.

Was aber steckt in den Köpfen der Erwachsenen? Deren Gedanken setzen sie in Handlung um, die ein Achtjähriger oft nur allzu bedeutend zu spüren bekommt. Daher ist es so wichtig, herauszufinden, was die Erwachsenen denken.

Außerdem wollen sich Kinder nicht einfach mit Tatsachen abfinden. Das steckt schon in dem Fragewort „Warum“. Warum kann man nicht zum Mond fliegen? Wer unvoreingenommen ist, wird sich nicht damit aufhalten, einem Achtjährigen zu erklären, dies scheitere an der Entfernung und die Reisegeschwindigkeit unserer Flugzeuge sei, gemessen an der Fortbewegungsgeschwindigkeit des Lichts, geradezu lächerlich gering. Was soll ein Achtjähriger von einem Erwachsenen halten, der auf seine Frage vielleicht angeregt aufsteht, hin und her wandert und einen Vortrag über kosmische Phänomene hält.

Karls Vater antwortete: „Man wird schon noch zum Mond fliegen.“

In Karl festigte diese simple Antwort die Gewissheit, dass der Mensch alles vermag.

In der Kochstube saß die Familie Kirchhoff und unterhielt sich mit einem Besucher, der die meiste Zeit ihres Gespräches auf und ab ging. Es war ein Kollege, denn der Vater hatte Arbeit gefunden, in einer Druckerei. Die Augen Karls folgten dem hin und her gehenden Mann. Der trug graue Knickerbocker, ein buntes Hemd, eine Windbluse mit Reißverschluss und rauchte hastig Zigaretten. Der Vater nannte ihn Bernhard, die Mutter sagte Herr Schreiter.

"Und Sie meinen, wir könnten diese Wohnung bekommen?“, fragte die Mutter.

Herr Schreiter nickte. „Man muss zuerst mit dem Hauswirt reden, sagte er, „der wird eine Abstandssumme verlangen. Was weiß ich, zwei- oder dreihundert Mark. Du bist lange arbeitslos gewesen, Hermann, vielleicht kann dir der Alte was vorschießen?“

Der Vater arbeitete wieder.

„Sag mal, Hermann, du bist doch Verkäufer, warum bist du es nicht geblieben?" fragte Herr Schreiter. „Diese dreckige Arbeit in unserer Bude macht doch keiner, der es nicht nötig hat."

Die Mutter sagt: „Es ist reine Neugier - was ihn die schon gekostet hat. Nirgends hält er lange aus, überall passt ihm was nicht, mal hat er Zank mit den Chefs, oder es passiert sonst was.“

Karl spitzte die Ohren. In der „Friedlichen Einkehr" gab es keinen Zank mit dem Chef. Chef war ein für allemal der Opa, der sich auf nichts einließ. Wer sich seinen Anordnungen nicht fügte, dem gab er die Papiere und das Restgehalt, hemdsärmelig, die Zigarre im Munde. Schon möglich, dass der Vater nicht gut auskam mit den Chefs, weil er ein Streithammel war, Dies hatte die Mutter neulich ausdrücklich gesagt.

„Es kommt alles zusammen“, sagte der Vater. „Es war eben die erste Stelle, die mir seit Jahren angeboten wurde.“

Herr Schreiter seufzte. „Na ja, hättest eben noch etwas warten müssen, bis aus dem Silberstreifen am Horizont ein blanker Himmel geworden wäre.“

Vater winkte ab. „Die Silberstreifen kenne ich noch von Kaisers her, herrliche Zeiten, dann kam vierzehn, Silberstreifen, was jetzt kommt, das möchte ich gern wissen."

„Nazis“, sagte Herr Schreiter.

Nazis sind Leute mit Topfmütze und Lederkoppel, mit Marschstiefel und Lastkraftwagen, sie fallen durch lautes Singen auf. Deutschland erwache - wir leben in Deutschland, wir sind Deutsche, deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein... Karl konnte schon ganz gut lesen. Deutsche Reichsbahn, Deutscher Verband der… Am merkwürdigsten war die Entdeckung eines Gerichtes auf der Speisekarte der „Friedlichen Einkehr“: Deutsches Beefsteak. Der Opa hatte ihn gewarnt: „Friss doch den Dreck nicht, lass dir ein richtiges Steak geben.“ Deutsches Beefsteak war Boulette, richtiges gebratenes Rindfleisch bekam nur, wer ein einfaches Steak wollte. Man musste schon vorsichtig sein.

„Abwirtschaften lassen!", sagte der Vater eben gebieterisch, als hätte er etwas anzuordnen, und als würde irgendjemand davon beeindruckt.

„Na gut", sagte Herr Schreiter, „wollen hoffen, dass uns das erspart bleibt. Ich möchte nicht dabei sein, wenn sich die Nazis abwirtschaften - Da du im Augenblick aber dieser These nachläufst, wollen wir es lassen. Ich wollte eigentlich mit dir noch über etwas anderes reden. Nämlich, da ein Drucker ausscheidet und der Alte wahrscheinlich keinen anderen einstellen wird, wäre diese Stelle frei. Wie wär es, wenn ich dich anlernen würde? Das ist was anderes als die Hilfsarbeit. Der Meister hat es angeregt, ich hab ihm so was vorgeschlagen, verdienst auch sicher mehr. Da bringen wir schon was heraus.“

Der Vater sollte Drucker werden. Leute, die Zeitungen druckten, wurden nie arbeitslos, wie es der Opa kürzlich ausgedrückt hatte: Ob die Zeiten gut oder beschissen sind, muss alles in der Zeitung stehen.

„Menschenskind“, sagte der Vater, „das wär mal nicht schlecht.“

Eben, da befand er sich mit dem Großvater und überhaupt mit allen Leuten in schöner Übereinstimmung, Drucker, das war mal etwas.

Auch Herr Schreiter freute sich nun, er stand schon wieder auf und wanderte in der Kochstube umher. Das brachte die Mutter wieder auf die Wohnungsfrage zurück.

„Ja, Frau Kirchhoff“, sagte Herr Schreiter, „das geht sicher auch in Ordnung, ich red heute gleich noch mit dem Wirt.“

Dann war er gegangen, und dann saßen sie wieder in der Stube, und es wurde Abend, sehr früh in diesem Spätherbst zweiunddreißig, aber sie waren angeregt durch diesen Herrn Schreiter, sie alle, er hatte etwas von einem frischen und freien Atem mitgebracht, etwas von Sicherheit und Selbstvertrauen.

Eine Wohnung für die Mutter, ihr alter, bisher unerfüllter Traum, für den Vater eine Stelle als Drucker…

„Bernhard ist ein feiner Bursche", sagte der Vater. „Seinen Tick hat ja nun jeder, er ist im RFB und in der Kommune, der halbe Betrieb übrigens, diese winzige kleine Bude, zu der man kaum Druckerei sagen kann, sonst wär es nicht möglich, dass ich angelernt werde, da passt die Gewerkschaft schon auf, dass nur ausgebildete Drucker rankommen.“

„Lass dich bloß nicht in politische Sachen reinziehen", sagte die Mutter. Der Vater schwieg.

Rotfrontkämpferbund und Kommune, die kannte jedes Kind. Dazu gehörte also der Herr Schreiter, ein feiner Kerl zwar, aber die Mutter musste doch noch einmal vor der Politik warnen. Politik ist etwas schlechtes, wer sich mit ihr abgibt, macht sich die Finger dreckig, Herr Schreiter hatte auch schon ganz graues Haar, und das machte einen komischen Eindruck, denn eigentlich sah er noch jung aus.

Sie brauchten nicht lange zu warten; für einen Abstand von dreihundert Mark konnten sie die Wohnung in der Kastanienallee haben, außerdem durften sie die Summe abzahlen und konnten noch vor Weihnachten einziehen. Ab Januar sollte der Vater als Hilfsdrucker arbeiten, Herr Schreiter würde ihm alles zeigen, was er dazu wissen musste.

Die Zimmer schienen dem Vater etwas groß: „Was stellen wir denn rein in diese Reitställe?" Aber die Mutter war zuversichtlich. Das würde nach und nach kommen.

Und eine Woche vor Weihnachten hält ein Möbelwagen, ein kleiner Möbelwagen in der Inselstraße, und Karl sieht zu, wie die Ziehleute ihre Sachen auf die Straße tragen. Die Mutter ist sehr aufgeregt, sie tut so, als müsste jeden Augenblick eine Katastrophe hereinbrechen, ein Spiegel kaputtgehen, das würde sieben Jahre Pech bedeuten, ein Schrankbein abbrechen oder sonst ein furchtbarer Zwischenfall. Endlich ist alles verpackt, endlich liegt alles im Wagen, endlich können sie die Türen zumachen. Karl, Renate, Mutter und Vater gehen durch das Zimmer. Sie schließen das Fenster. Und dann hören sie Schritte die Treppe heraufkommen: Onkel Hannemann, der die Schlüssel holen kommt und zugleich einen Kontrollgang durch die Kochstube macht. Er klopft an, ehe er hereinkommt, er trägt sein grauweißes Hemd, Hosenträger darüber, auf seinen Armen sträuben sich die Haare.

„Mahlzeit", sagt er. Sein Blick wandert zur Decke. „Da geht ja der Putz ab“, sagt er, „warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?“

Der Vater steht wartend da, er antwortet nicht.

„Sie haben ja hier eine Badewanne aufgestellt gehabt", sagt Onkel Hannemann unfreundlich. „Da sieht man ja noch jetzt den Rand auf den Dielen, das ist verboten. Ist denn unter dem Fenster der Schwamm drin? Sie sind verpflichtet gewesen, mir das zu melden."

Der Vater sagt noch immer nichts. Karl blickt fassungslos auf Onkel Hannemann, der doch sonst immer so freundlich war.

„So“, sagt Onkel Hannemann, „so nehme ich Ihnen die Wohnung nicht ab. In dem Mietvertrag steht, die Wohnung ist in sauberem und gutem Zustand zu übergeben. Für den Schwamm mach ich Sie haftbar, Herr Kirchhoff.“

Karl beobachtet gespannt die Auseinandersetzung. zwischen Onkel Hannemann und dem Vater.

„Ich hab große Lust, Ihre Möbel hierzubehalten“, sagt Onkel Hannemann.

Jetzt platzt der Vater, zornig redet er auf 0nkel Hannemann ein, erklärt ihm, dass sein Gestänker jetzt gar nichts mehr ändert, und dass sie ausziehen, wie es ihnen passt.

„Da irren Sie sich aber gewaltig“, sagt Onkel Hannemann, „ihr müsst eure Mietverträge lesen, Leute, nicht bloß unterschreiben. Da steht auch drin, ich kann Ihre Klamotten einbehalten bis zur Tilgung eurer Schulden, aber det will ick nich. Wir können ja die Sache in Ruhe beilegen.- Geben Sie fuffzig Mark und die Geschichte ist erledigt. Den Rest jeb ick.“

Das ist Onkel Hannemann: Er will fünfzig Mark, den Rest gibt er, angeblich um den Schaden reparieren zu lassen. Aber sogar Karl weiß, dass Onkel Hannemann die Wohnung so wieder vermieten und dann nie mehr heraufkommen wird, bis der Betreffende wieder auszieht. Onkel Hannemann will nur die fünfzig Mark, er ist ein Gauner, seine Freundlichkeit ist nichts wert, er kam die ganzen acht Jahre nicht hinauf in die Kochstube, immer wenn die Mutter einen Übelstand meldete, zuckte er die Achseln. Bei der Mietzahlung kamen die Mieter zu ihm in die Wohnung und beklagten sich, er zählte ruhig die Geldscheine ab, nickend, Besserung versprechend. Manchmal erließ er einem „alleinstehenden“ Mädchen, wie Mutter sagte, oder Nutten, nach Onkel Hannemann, eine Restschuld, augenzwinkernd. Nein, Onkel Hannemann war kein Freund, der wollte nichts Gutes für Sie, er wollte fünfzig Mark, und der Mietvertrag, den sie dummerweise nicht gelesen hatten, dieser Mietvertrag gab ihm das Recht auf die fünfzig Mark.

„Nun passen Sie mal gut auf, Herr Hannemann'", sagt der Vater, „wir geben ihnen nun die Schlüssel, der Wagen wird abfahren, und Renate wird schnell mal zur Wache gehen, einen Schutzmann holen, der feststellt, ob die Schäden, die Sie gefunden haben, eine Beschlagnahme der Sachen rechtfertigt. Übrigens bekommen Sie von mir keinen Pfennig. Wir haben Ihnen mehr als einmal gesagt, dass der Schwamm im Haus ist, nicht nur wir, alle Mieter. Wenn Sie Ihr Haus verkommen lassen, dann ist das Ihre Sache.“

Der Vater weiß immer Rat, nie ist er verlegen. Onkel Hannemann ist ein Aas, keine Freundschaft mehr mit solchen Wirten! Der Vater legt die Schlüssel auf das Fensterbrett, der sprachlose Onkel Hannemann sieht zu, wie sein Mieter die Familie aus der Wohnung schickt und selber geht. Da läuft er ihnen nach, er läuft bis ins Treppenhaus, er brüllt ihnen hinterher, Türen gehen auf, es entsteht ein Streit von Wohnung zu Wohnung, Onkel Hannemann wird wüst beschimpft, einer nennt ihn eine Mistamsel. Diesen kernigen Ausdruck nimmt Karl mit aus der Inselstraße.

Der Wagen kann nun endlich losfahren. Karl sitzt vorn in der Führerkabine, er kann durch die Scheiben auf die Straße sehen. Wallstraße, Alexanderstraße, Alexanderplatz, und als der überquert ist weiter links vom Prenzlauer Berg, Alte und Neue Schönhauser, Fehrbelliner Straße, Kastanienallee. Da ist man, der Wagen hält, es fängt leicht an zu regnen, die Sachen werden im Laufschritt in den Hausflur getragen und dann in den vierten Stock: Dort ist ihre neue Wohnung, zwei Zimmer, Küche, ein Balkon, Toilette eine halbe Treppe tiefer, aber „sie wird nur von uns benutzt.“

Am Abend sitzen sie alle vier in der neuen Wohnung, der Vater räumt seine Bücher in das Regal. Die Mutter mäkelt, der Wasserhahn müsse abgedichtet werden, „die Bücher kannst du doch morgen auch noch einräumen, dass ich erst mal Wasser kriege.“

Es klingelt. „Wer ist denn das nun wieder?“

Es ist Herr Schreiter mit seiner Frau Kathinka, die kein richtiges Deutsch spricht, weil sie eine Polin ist. Und zu sechst sind sie endlich spät am Abend so weit; dass sie sich um den runden Ausziehtisch setzen können. Die Frauen trinken Kaffee, die Männer Bier. Es wird Mitternacht, und Karl und Renate gehen ins Nebenzimmer. Dort sind zwei Betten für sie aufgestellt. Es ist die erste Nacht im neuen Haus, und sie liegen jeder in einem eigenen Bett.

Der Vater und Herr Schreiter saßen nun fast täglich beieinander. Die Kinder sagten Onkel und Tante zu dem Ehepaar, die Eltern duzten sich, sie feierten das Weihnachtsfest und Silvester zusammen, als seien sie eine Familie. Der junge Karl fasste langsam Zutrauen zu dem Kollegen des Vaters. Den Gesprächen aber, die geführt wurden, stand er etwas ratlos gegenüber.

Weshalb sollte ein „Aktionsprogramm“ plötzlich nötig sein? Was bedeutete das Wort überhaupt? Es musste etwas passiert sein, die Erwachsenen waren so aufgeregt. Endlich geschah dann, was sich der junge Karl ins Bild setzen konnte: Ein Gebäude hatte gebrannt.

Eine Nacht aber, kurze Zeit danach, blieb als dunkle und drohende Erinnerung im Gedächtnis haften. Karl und Renate wurden durch ein Klopfen an der Tür aus dem Schlaf gerissen. Sie hörten den Vater öffnen und Stimmengewirr im Wohnzimmer. Dann ging das Licht an, zwei Männer in grauen Mänteln befahlen ihnen, aufzustehen.

„Nun mal los, Kirchhoff“, sagte der eine, während der andere sich an den Büchern zu schaffen machte, sie durchfasste und kräftig schüttelte. „Sie müssen doch wissen, wo Ihr Genosse steckt. Nun packen Sie mal aus, das ist besser für Sie.“

Der Vater erklärte, er habe Herrn Schreiter lange nicht gesehen, sei übrigens in keiner Partei und hätte keine Ahnung, was sie von ihm wollten. Das klang merkwürdig anders für den kleinen Karl, und der Vater sah auch anders aus, gar nicht kampflustig, eher ängstlich. „Was haben Sie denn heute in der Wohnung Schreiters zu tun gehabt?", fragte der andere Graue.

Er hätte den Auftrag gehabt, sich zu erkundigen, weshalb Schreiter nicht zur Arbeit käme, der wäre aber nicht zu Hause gewesen. Ob etwas Ernstes vorgefallen sei?

„Fragen stellen wir“, sagte der Graue. „Komische Bücher haben Sie, lesen Sie die alle?"

Freilich, der Vater las diese Bücher alle. Was waren das für Leute, die solche Fragen stellten, die den Vater herausklopften und eine Macht zu verkörpern schienen, gegen die selbst der Vater nichts mehr vermochte; jedenfalls tat er sehr bescheiden und sah ziemlich blass aus. Was war bloß geschehen? Sie suchten Herrn Schreiter, Onkel Bernhard, warum, was hatte der getan?

„Nun sehen Sie mal an“, sagte der Graue. „Aber dass die Nationalsozialisten den Reichstag angesteckt haben, das haben Sie doch überall rumgequatscht, das können Sie doch nicht bestreiten, Kirchhoff, ja?“

„Nein", sagte er Vater, „wir wissen ja, dass eine Untersuchung im Gange ist, und die Justiz wird die Wahrheit sicher herausbringen.“

Der eine Graue sagte, die Justiz würde zunächst was ganz anderes herausbringen, wenn er nicht seinen Mund aufmachte.

Ob sie einen Haftbefehl hätten, fragte der Vater.

„Werden Sie nicht frech“, sagten die Grauen und: „Sagen Sie mal, Kirchhoff, das ist doch so ein richtiges rotes Nest, Ihre Bude da in der Bülowstraße, was? Da gefällt es Ihnen wohl?"

Der Vater sagte er kümmere sich nicht um Politik.

Das sei ein guter Witz, knurrte der Graue, man sehe es an den Büchern. Ob er sie für Idioten halte?

Immer wieder die Bücher, sie mussten eine gefährliche Kraft enthalten, einen leicht brennbaren Stoff.

Dem jungen Karl saß die Furcht in der Kehle. Was war in der Welt alles möglich? Immer wenn man geglaubt hatte, nun alles Notwendige zu wissen und zu können, immer wenn diese Welt komplett geworden war, trat ein Ereignis ein, das die Ergebnisse aller Bemühungen fragwürdig machte. Acht Jahre genügten nicht, um alles zu lernen, alles zu sehen, alles zu suchen. Vorgestern noch war Herr Schreiter, Onkel Bernhard, hier gewesen, er war nur kurz geblieben, hatte einen Kaffee getrunken und war wieder gegangen. Das brauchten die Grauen nicht zu wissen, die sich so feindlich benahmen.

„So, mein Junge“, sagte der eine, „du kennst doch den Herrn Schreiter. Wann war der denn das letzte Mal hier bei euch? Wir suchen ihn nämlich, wir haben was für ihn, und das ist dringend. Nun sag uns schön die Wahrheit!"

Karl sagte, Herr Schreiter wäre nicht hier gewesen, zu Weihnachten, ja, da wäre Herr Schreiter bei ihnen gewesen. Er sah dem Vater bei dieser Antwort ins Gesicht, in dessen Augen ein tiefer Schreck saß, bis ihn einer der Grauen bei den Schultern nahm und herumdrehte. Sie stellten noch ein paar andere Fragen, sie fingen an zu schimpfen, sie drohten, den Vater mitzunehmen, weil er nicht die Wahrheit sage, aber soviel merkte der junge Karl, dass diese Wahrheit für sie alle gefährlich sein würde.

Die Männer gingen. Sie nahmen den Vater nicht mit, sie ließen sie ungeschoren. Alle vier saßen um den runden Ausziehtisch, schweigend. Der Vater blickte vor sich auf das weiße Tischtuch, unter seinen Haaren perlten helle Tropfen hervor.

Er denkt an einen Tag im März, an dem er auf den unruhigen Straßen herumbummelt, selbst unruhig, selbst getrieben. Vor sich sieht er einen Mann im Malerkittel, der ihm bekannt vorkommt. Es ist spät abends, die Dunkelheit ist hereingebrochen, sehr plötzlich, ohne lange Dämmerung. Der Mann trägt einen Eimer, verschwindet in einem der Häuser der Schwedter Straße, kommt wieder heraus, biegt in die Kastanienallee ein, geht ins nächste Haus, immer so weiter, immer die Kastanienallee entlang. Zwei andere Männer laufen mit, bald überholen sie den Maler, bald bleiben sie zurück. Mal stehen sie und lesen die Plakate einer Litfaßsäule, mal brauchen sie lange um sich eine Zigarette in Brand zu setzen. Sie überqueren die Straße, kommen zurück. Wer sie beobachtet, weiß nichts mit ihnen anzufangen. Ihr Benehmen lässt keinen Schluss auf ihr Ziel zu, vielleicht haben sie keins, vielleicht gehören sie zu dem Mann im Malerkittel. In ein paar Wochen sind Wahlen, die Maschine läuft auf Hochtouren, die Mittel sind ungewöhnlich, der Wahlkampf beispiellos. Hitler wird gewinnen, kein Zweifel, und die drei Männer haben sicher was damit zu tun. Ein paar Wochen haben genügt, ein ganzes Volk auf dem linken Ohr taub und auf dem rechten hellhörig zu machen, für diese Regierung der nationalen Konzentration. Es wird eine Größe beschworen, die angeblich in der Zukunft liegen soll.

Hermann geht gespannt dem Dreigespann nach; er ahnt etwas, will es aber genau wissen. Wenn das nicht Bernhard ist, sein Freund und Kollege, der dort den Eimer trägt, was nimmt der auf sich und wofür? Glaubt er wirklich noch, die Fahrt sei aufzuhalten? Was mag in dem Eimer sein? Der Stiel einer Deckenbürste ragt heraus. Hermann schleicht ihm nach. Er will herauskriegen, was Bernhard treibt, weshalb er in dieser Verkleidung als Maler getarnt, umhergeht. Auf dem Boden des ersten Hausflures findet Hermann die Erklärung für diese Maskerade, ein dünnes Bündel Flugblätter. Sie fordern zur Bildung der Einheitsfront auf. Hermann schiebt das Blatt in die Brusttasche und rennt auf die Straße. Der Mann im Malerkittel ist nur noch als ein kleiner weißer Punkt sichtbar. Hermann geht ihm nach. Die Straße ist unbelebt. Was sich in diesen Wochen ereignet hatte an Mord und Gewalttat, flüstert man sich im vertrauten Kreise zu. Weshalb setzt sich Bernhard dieser Gefahr aus?

Hermann muss einen Augenblick lang stehenbleiben und sich sammeln. Hinter sich hört er Lärm. Eine Gruppe Menschen steht gestikulierend auf der Straße. Er beschleunigte seinen Schritt, lässt im Gehen das Flugblatt aus seiner Tasche gleiten. Jetzt nicht auffällig benehmen, denkt er, gibt die vorgetäuschte Ruhe auf und läuft los, bleibt vor einem Haus stehen und sieht sich vorsichtig um.

Im Hausflur ertönen hallende Schritte. Wer ist das? Hier kann Bernhard noch nicht durch sein. Die Schritte kommen näher, die Haustür wird von innen geöffnet, und Bernhard steht in der Tür, im Straßenanzug, eine Zigarette rauchend, ohne Eimer und Kittel. Sie messen sich mit Blicken.

Bernhard fasst sich als erster. „Hermann!“, sagt er. Es scheint Hermann, als wäre Bernhard um eine Spur blasser geworden.

„Was machst du denn hier?“, fragt er.

„Ich bin dir nachgegangen", sagt Hermann.

Bernhard wirft die Zigarette weg. Er kämpft einen Kampf mit sich, weglaufen oder dableiben. Der kleine Drucker weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Ist sein Kollege ein Verräter?

„Tu. Mir den Gefallen und frag jetzt nichts", sagt Hermann schnell, „komm mit zu mir, bis die Luft rein ist.“

Bernhard schlägt den Kragen hoch und geht mit. Erst in der Wohnung lässt er sich erschöpft auf einen Küchenstuhl nieder, stützt den Kopf in beide Hände und wartet.

Hermann tritt an das Fenster und sieht hinunter. Nichts Auffälliges zu sehen. Die Leute haben sich wohl verlaufen.

„Willst du Bier?“, fragt Hermann. Bernhard nickt. Sie trinken es gleich aus der Flasche. Dann schüttelt Hermann den Kopf und sagt: „Muss das sein? Du machst dich doch unglücklich, Mann. Bernhard, du bist doch kein Dummer!“

„Du bist wohl schlauer, was?“

„Na, beruhige dich nur“, sagt Hermann. Vielleicht hat er ja recht, denkt er.-

Nun haben sie ihn holen wollen, nun suchen sie ihn überall, wahrscheinlich auch Käthe, die mit ihnen gelacht und gespielt hat, mit Renate ins Theater ging, beim Gardinenanmachen half und ein guter Mensch war.

„Papa", fragte Karl, „werden wir nun alle verhaftet?“ Man konnte sehen, dass den Vater schwere Sorgen drückten.

Der Vater schüttelte den Kopf. Es war noch einmal glimpflich vorübergegangen.

„Redet nicht darüber“, sagte er, „und nun gehen wir schlafen, aufräumen können wir morgen.“

Sie lagen wieder in ihren Betten, nichts war ihnen geschehen, aber Karl hatte zweierlei in diesen Nachtstunden gelernt. Die Wirklichkeit der Welt passte nur unvollkommen zu der erdachten in der Nussschale, in der hölzerne Hunde bellen konnten, Schiffe auf eingebildeten Meeren fuhren, ohne Motor und aus Papier, wie man es wollte. Zu gewissen Gelegenheiten waren Lügen erlaubt und gefordert, man musste es selber wissen, wann. So weit brauchte keine Wahrheitsliebe zu gehen, dass sie einen ins Verderben stürzt. Wenn das auch bei den Lehrern zu hören war: Man muss immer die Wahrheit sagen, auch wenn sie einem schadet! Das musste man nicht, niemand tat es, niemand kam auf diese törichte Idee, die die Lehrer verbreiteten.

Nach diesem Ereignis verschwanden die Schreiters aus dem Gesichtsfeld der Familie Kirchhoff.

Nach den wilden Tagen schien eine Pause dringend nötig. Jetzt galt es, sich auf die Einsegnung Renates vorzubereiten und einen Beruf für sie zu finden. Die Zimmer mussten tapeziert werden, das nahm ein paar Tage in Anspruch. Die ersten grauen Haare zeigten sich an den Schläfen; man würde demnächst eine stärkere Brille brauchen, man war vierzehn Jahre älter geworden, keine leichten vierzehn Jahre. Eine Verschnaufpause hatte man eigentlich verdient, man durfte abwarten was sich entwickelte, nicht wieder ohne Arbeit sein, ein paar Sachen anschaffen, eine Reise vielleicht im Sommer, den Kindern einmal was anderes zeigen als Straßen. Sich vor allem um Karl kümmern, diesen Jungen, der sich so gut entwickelte, schwer lernte, aber was er gelernt hatte, das saß dann auch. Man konnte bald wie mit einem Erwachsenen mit ihm reden, die Bemühungen zahlten sich schon jetzt aus. Man musste sich endlich selbst mal was bieten. Das Leben war so hingegangen, erst der Krieg, dann Inflation, Arbeitslosigkeit; man ging langsam auf die Vierzig zu, die besten Jahre waren schon weg, eine Zeit der Ruhe würden ihm nicht schaden, dem Hilfsdrucker Hermann Kirchhoff.

Die Konfirmation sollte eine große Familienfeier werden, der Höhepunkt in Renates Leben. Karl betrachtete die Schwester mit heimlichem Stolz. Sie war in diesen Jahren ein schönes Mädchen geworden mit ihrem schmalen Gesicht, den kühlen, hellen Augen und dem starken Mund. Früher hatten sie sich oft gestritten, in diesem Jahr war sie sanfter geworden. Es schien ihm, als sähe sie ihn manchmal mitleidig an, ein unerklärliches Mitleid, denn er fühlte sich ganz wohl in seiner Haut. Gelegentlich wurde sie beinahe zudringlich mit ihren Versuchen, ihn wie ein Kleinkind zu behandeln. So verlangte sie, dass er an der Hand gehen sollte. Die ihre war feucht, was Karl nicht mochte. Versuchte er sich loszumachen, brach sie unvermutet in Tränen aus, und er wusste erst nicht, was los war. Wo sie ihn erwischen konnte, drückte sie seinen Kopf und putzte und schabte an ihm herum.

„Die Weiber sind eben dämlich", stellte er bei sich fest und gab damit wieder, was er hörte und sah, in der „Friedlichen Einkehr“ und anderswo. Er redete es nach, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging, merkwürdig berührt durch das wechselhafte Verhalten Renates. In ihrem gemeinsamen Zimmer in der Kastanienallee häufte sie, ihrer Reife entsprechend, neue Schätze, die für Karl nichts bedeuteten. Dafür verschenkte sie ihre alten und Karl heimste manchen Fund ein. Sie zog sich seit einiger Zeit auch im Dunkeln aus. Im Bett wünschte sie lange Gespräche mit ihm zu führen, die regelmäßig damit endeten, dass Karl einschlief.

Als die Wohnung frisch tapeziert war, als alles noch nach Leim und Farbe roch, durften sie wieder in ihr Zimmer. Karl lag in seinem Bett und lauschte hinüber. Die Schwester regte sich nicht. Er hörte ihre unregelmäßigen Atemzüge. Sonderbare Gedanken zogen ihm durch den Kopf.

„Jetzt wirst du bald eingesegnet“, sagte er, „da ist man erwachsen.“

„Man ist wie immer“, sagte sie.

Mit dieser Antwort war Karl nicht zufrieden. Sie rechtfertigte seiner Ansicht nach nicht den Aufwand, der anlässlich der Einsegnung getrieben wurde.

„Muss man viel im Konfirmandenunterricht lernen?“, fragte er weiter.

„Es geht“, sagte sie gedehnt, „du musst nur immer ja und amen sagen, die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und so was. Es ist ganz leicht.“

Karl konnte ihr Gesicht nicht sehen, und er hätte etwas darum gegeben, sie gerade jetzt zu beobachten. Ihre Stimme klang seltsam gepresst. Wahrscheinlich würde sie gleich heulen.

„Glaubst du denn nicht, was die Lehrer sagen?“, fragte er.

„Wir sollen auf Gott vertrauen, heißt es. Dann ist alles gut, der Herr wird alles richten. Wir müssen beten. Ich habe auch gebetet, aber es hat nichts genutzt. Das verstehst du noch nicht."

Karl hatte Mühe, ihr zu folgen. Er lauschte auf die belegte Stimme der Schwester. Sie hatte gebetet und das half nichts? Dass sie so dumm war! Das wusste man doch, dass es nichts half, höchstens gelegentlich, auch dann noch anders, als man gewünscht hatte. Außerdem waren diese Bettelaktionen an höchster Stelle unzulässig, denn das war doch der Trick - der geringste Zweifel schloss die Erfüllung eines Wunsches von vornherein aus. Seine Gedanken kehrten zurück zu ihrer Bemerkung.

„Worum hast du denn gebetet?"

„Ich wollte auf die Kunstgewerbeschule, aber Mutter sagt, es geht nicht und wäre auch Unsinn.“

Es geht nicht, dachte Karl. Wir haben kein Geld. Er begriff ihre Not.

„Ich soll Verkäuferin werden."

Es entstand eine Pause. Unter einer Verkäuferin konnte Karl sich eine Frau mit einem Kittel vorstellen, die Mehl und Zucker in Tüten füllte und meist gutmütig und dick war. Er hätte nichts gegen diesen Beruf gehabt, aber wenn Renate etwas anderes wollte, durfte man sie nicht daran hindern.

„Und du willst nicht Verkäuferin werden? Dann musst du es sagen!" Karl richtete sich in seinem Bett auf. Es schien ihm undenkbar, dass sie sich ohne Gegenwehr fügen wollte.

„Das hat keinen Zweck“, sagte Renate, „Mutter meint, ich heirate ja doch, dann ist das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Und da hat sie ja recht.“

„Und heiratest du wirklich?“, wollte Karl noch wissen, denn sollte das der Fall sein, konnte man nichts dagegen sagen.

„Quatsch“, sagte Renate. Jetzt schien sie zu lachen.

Karl hatte einen rettenden Einfall.

„Was sagt denn Papa“?

„Ach“, sagte sie, „der macht doch immer was Mutter will.“

Das war Karl neu. Hatte ihn der Vater nicht oft genug herausgehauen. Damals, als er zu Löwe gegangen war, weil Karl in Angst und Schrecken lebte. Sollte es Renate schlechter ergehen als ihm?

„Versuch es doch wenigstens“, beschwor er sie.

Renate antwortete nicht mehr. Sie wollte dem Bruder nicht zeigen, dass sie weinte.

Karl ließ sich zurückfallen und zog die Decke hoch. Er fror an den Beinen und konnte nicht einschlafen. Das Schicksal der Schwester beschäftigte ihn weiter. Sie sollte tun, was sie nicht wollte, warum?

Arbeit war etwas wie Schule. Man musste, ob man wollte oder nicht, man konnte der Arbeit keinesfalls entrinnen. Der Opa hatte sogar schon mit acht aufs Feld gemusst, oder mit zehn, einerlei, jedenfalls sehr früh. Jetzt freilich lag er meist auf dem großen roten Sofa, aber dieses Glück widerfuhr nur wenigen Menschen. Karl empfand zum ersten Male die Hilflosigkeit menschlicher Bemühungen vor einem so furchtbaren Ding wie beispielsweise der Arbeit, die sie alle fraß, wie der Wolf die Geißlein.

Er beschloss, mit dem Vater zu reden.


Die Legenden des Karl Kirchhoff

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