Читать книгу Die Legenden des Karl Kirchhoff - Helmut H. Schulz - Страница 6
4. Handwerk hat goldenen Boden
ОглавлениеKarl sitzt neben Vater und Mutter, sitzt zwischen ihnen, wahrscheinlich aus Vorsicht, denn eine Kirche ist etwas, dass er noch nicht kennt. Es ist eine kleine Kirche mit schmalem Mittelschiff und dunkel gebeizten Bänken. In der ersten Reihe sitzen die Konfirmanden. Der Pfarrer hat sie hereingeführt. Dazu spielt die Orgel. Man kann das Instrument nicht sehen, es sei denn, man will die langen, hohen Pfeifen dafür halten. Der Vater hat Karl in Eile einiges erklärt - längst nicht genug für den Wissensdurst seines Sohnes.
Die Orgel verklingt, der Pfarrer, ein kleiner alter Mann, weißhaarig und gebückt durch die Last der Jahre, steht mit dem Rücken zu ihnen vor einem Tisch, der mit einer Decke belegt ist. Darauf stehen ein Kruzifix, frische Blumen und weißliche Kerzen, die aber nicht brennen. Sie sind wohl bloß zur Zierde da, wie Mutters Kerzen in dem porzellanen, dreiarmigen Leuchter auf der Anrichte, die auch nie angezündet werden. Dann dreht sich der Pfarrer um, hebt die Hände, und die Menschen müssen aufstehen. Karl verpasst den richtigen Augenblick, bekommt einen sanften Rippenstoß von der Mutter, und steht nun auch schnell auf. Sie müssen etwas singen. Er versteht den Text nicht, aber die Orgel spielt ihnen das Lied vor. So geht's einigermaßen, auch weil der Pfarrer sehr laut mitsingt Karl versucht, sich den verschiedenen Tonhöhen anzupassen, und es gelingt ihm ganz gut. Später dürfen sich die Menschen wieder setzen.
Karl sucht den Opa, der im Bratenrock neben der Oma und der Tante sitzt, schräg hinter ihnen. Der Opa macht ein Gesicht, als hätte er soeben eine ganz schlechte geschäftliche Nachricht bekommen, die Mundwinkel sind leicht herabgezogen; die Oma hält ein Taschentuch in der Hand, sicher wird sie gleich weinen. Nur die Tante hat ein freundliches Gesicht, wie immer. Karl versucht dem Opa ein Zeichen zu geben: „Ich bin da, siehst du“, aber der Opa schickt ihm einen strafenden Blick zu und sieht ihn dann überhaupt nicht mehr an. Die großen Hände mit den schwarzen Haaren darauf liegen übereinander im Schoß. Beim Singen reißt der Opa den Mund so weit auf, das man sein festes weißes Gebiss sehen kann, dabei hat er die Augen geschlossen. Und das ist schon merkwürdig.
Von der Oma weiß Karl, dass sie jeden Sonntag in die Kirche geht, selbst wenn sie erst weit nach Mitternacht ins Bett gekommen war. Das ist demnach eine wichtige Angelegenheit für die Großen, und es ist offenbar kein Zwang. Man tut es oder tut es nicht. Der Vater oder auch die Mutter gehen nie in die Kirche. Renate musste zum Konfirmandenunterricht, sonst hätte sie eine Kirche wahrscheinlich nie von innen gesehen. Karl kommt bei Beginn der Predigt zu dem Schluss, es müsse eine immerhin bedeutende Sache sein, wenn alle plötzlich so großen Wert darauf legten. Aber es ist auch wirklich schön. Die Orgel spielt, es hört sich an, als käme die Musik direkt vom Himmel herunter, weil man den Menschen nicht sieht, der das Instrument in Bewegung setzt.-
Im Übrigen ist es kalt, hundekalt für einen Mai, oder wie es der Opa ausgedrückt hat vorhin: „Das ist der beschissenste Mai, den ich je erlebt habe!“ Das war, als sie im dichten Schneegestöber, eingehüllt in ihre Mäntel, geschützt durch Regenschirme in die Kirche marschierten. Nicht einmal die Kleider konnte man sehen, die teuren, die mit soviel Aufregung beschafft worden waren und die nun niemand auf der Straße bewundern konnte. Bloß der Opa sah würdevoll aus in seinem Zylinder, eine Kopfbedeckung, die er, Karl, sich nachher genauer ansehen wird. Man kann sie zu einem flachen Teller zusammendrücken, und dann wieder, klapp, springt sie zu einer großen, spiegelblanken Röhre auf. –
Der Pfarrer ist auf die Kanzel gestiegen, einen kleinen Vorbau an einer Säule mit einem Dach, obwohl es doch hier nicht regnen kann. Er stützt sich auf die Brüstung, hat die Hände gefaltet und den Kopf darauf gelegt. Er wird wohl nachdenken, was er jetzt sagen soll. Das ist offenkundig: Er will eine Rede halten, wie ein Schullehrer. Jetzt löst er sich mit einem heftigen Seufzer - die Menschen atmen ordentlich auf. Karl dreht sich um und sieht, wie der Opa mit dem Fingernagel seines Zeigefingers etwas aus seinen Zähnen puhlt. Dann beginnt die Rede, der man rein gar nichts entnehmen kann.
Vorhin hat der Vater mit Renate gesprochen, Karl hat nicht hören können, wovon die Rede war, aber am Schluss ist Renate dem Vater um den Hals gefallen, und der Vater hat ihre Schultern gestreichelt. Dann musste er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche fischen, die Brille abnehmen und sich die Tränen fortwischen. Karl selber hat etwas geschluckt bei diesem Anblick. Immerhin hat er daraus entnommen; dass nun alles in Ordnung ist, und dass Renate nicht in den Kiosk muss, den der Opa ihr vorbestimmt hatte. Auch braucht sie nicht zu heiraten was sie doch nicht will.
Und noch etwas gab es heute früh; eine Versöhnung zwischen dem Vater und dem Opa, sie tranken sich zu, stießen die Gläser vorher und hinterher zusammen, sahen sich fest in die Augen, mit Handschlag. So wie der Opa einen Viehkauf abschließt: „Das gilt, das ist wie ein Kaufvertrag, man kann nicht mehr zurück, sieh mal, Karlchen, das kommt noch aus der Zeit, als ein Wort was wert war.“ Karl hat das oft beobachtet: Da stehen sich die zwei gegenüber, der Opa und der Händler, und der Händler versucht, die Hand des Opa zu erwischen, der sie aber zu verstecken sucht, nicht zu weit, denn sonst kommt der Mann vielleicht auf die Idee, dass er, der Opa, nicht kaufen will, aber auch nicht zu nahe, damit sich die beiden Hände nicht unvermutet treffen. Sonst greift der Händler zu, und es ist ein Verlustgeschäft für den Opa.
So jedenfalls standen sich Vater und Großvater gegenüber, dann klopften sie sich auf die Rücken, dann tranken sie noch einen, und die Tante, die Oma und die Mutter standen im Kreis herum und weinten ausgiebig. Renate war noch in ihrem Zimmer und fummelte an ihrem Kleid herum.
Dann hatte der Opa gesagt, er sei entschlossen, auch etwas für Renate zu tun, er werde ihr einen Kiosk einrichten, und sie prozentual am Umsatz beteiligen. Über die Einzelheiten könne man noch reden, das müsse nicht jetzt sein. Zigaretten, Schokolade, Eis, und das sei eine gute Idee. Ein frisches Gesicht, das liebten die Leute hinter einem Verkaufstisch. Da war der Kioskplan, von dem sie alle gewusst hatten, die Mutter, Renate durch die Mutter und der Vater durch ihn, Karl. Der Vater hatte nur abgewinkt und ganz freundlich aber fest gesagt, es sei nicht nötig, sich zu bemühen. Er habe andere Pläne mit seiner Tochter.
„So. Andere Pläne.“ Dem Opa war das wohl nicht recht gewesen, aber er hatte nichts gesagt. Damit war der Kioskplan wohl ein für allemal begraben.
Der Pfarrer steigt jetzt von der Kanzel herunter, er muss vorsichtig gehen, um sich nicht auf den schwarzen langen Rock zu treten. Dann steht er wieder vor dem Tisch mit den Blumen und den Leuchtern, die nie angezündet werden. Nach einem Lied tritt er ein Stück vor, und nun gehen die Kinder, die in der ersten Reihe sitzen, einzeln zum Pfarrer, und es wird etwas mit ihnen gemacht, was Karl leider nicht sehen kann, weil alle nach vorn drängen, weil eine Unordnung entsteht, die der Pfarrer nicht zur Kenntnis nimmt, wohl, weil es so sein muss. Außerdem heulen alle Menschen, ihr Atem steht in kleinen Dampfsäulen vor ihren Mündern.
Wenn das Zimmer von Opa so kalt wäre, würde er einen schönen Lärm machen, die Weiber anhauchen, damit sie wie der Blitz den Ofen anheizen. Hier indessen steht er auch auf und macht sein komisches Gesicht. Sie dürfen sich wieder setzen, aber nicht lange, dann müssen sie wieder aufstehen und ein langes Gedicht sprechen, „Unser täglich Brot gib uns heute", versteht Karl, weil es der Opa sehr laut sagt, mit zusammengezogenen Brauen. Das ist dann sicher das Wichtigste an diesem Gedicht. Nun legt der Pfarrer jedem der Kinder die Hände auf die Köpfe, Sie müssen sich dabei hinknien. Es sind eine ganze Menge, und es ist gleich halbe eins, wie Karl von der Armbanduhr des Vaters ablesen kann. Ihm knurrt der Magen - es wird Zeit, dass man nach Hause kommt. Da wird noch einmal gesungen, die Orgel spielt wieder sehr schön, und unter dem Klang dieser Musik darf man hinaus.
Draußen ist es noch unfreundlicher geworden, graue Wolken hängen bis auf die Dächer der Häuser, aus deren Fenstern die Zuschauer liegen; sie winken und lachen, und man weiß nicht, überwiegt bei diesem Fest nun das Lachen oder das Weinen? Sie müssen eine ganze Weile warten, ehe Renate heraus kommt. Alle gratulieren ihr, alle weinen, jeder drückt das Kind an sein Herz, alle versichern, dass es sehr schön war, und dass sie eine Erinnerung fürs Leben habe, denn nun stünde sie an der Schwelle, nun beginne der Ernst des Lebens, alle würden ihr helfen, diesen Ernst zu meistern, und Renate strahlt. Karl sieht es neidlos: Renate ist der Mittelpunkt. Das ist richtig. Sie ist ein großes, schönes Mädchen, das muss man ihr lassen. Die Begriffe haben sich verschoben. Früher waren ihre Augen komisch, standen schräg in dem zu kleinen Gesicht. Heute sind sie hell und schön, die Wimpern sind lang, die Augenbrauen natürlich gewachsen, dichtes helles Haar fällt ihr weich in den Nacken, wenn sie schnell den Kopf dreht, bekommt das Haar einen Ruck, schwingt mit herum. Sie hat lange schmale Beine, dünne Arme von ganz weißer Haut und dünne Finger; sie bewegt sich geschmeidig, sie riecht anders als früher. Und: Sie hat eine Brust bekommen. Keine richtige, wie die Mutter oder die Tante oder all die anderen Frauen aus der „Friedlichen Einkehr" in ihren Schürzenkleidern. Mit ihren fetten starken Armen tragen sie sechzig, siebzig Pfund schwere Kisten vor dem Bauch, wuchten sie auf den Tisch.
Es sind gute Frauen. Sie machen einem in fünf Minuten einen Berg Rühreier mit halb zerlassenem Speck, werfen den dampfenden und duftenden Brei auf einen Teller, reißen eine Scheibe weißes, zartes Brot dazu herunter und stellen alles auf den Tisch: “Iss das mal, Jungchen, bald gibt es Mittag!“
Das sind Frauen, denen man sich auch sonst anvertrauen kann. Schneidet man sich mal in den Finger, dann lutschen sie das Blut ab, halten die Wunde unter die Leitung, binden ein Taschentuch herum, fertig. Junge, das heilt; eh' du heiratest vergeht es, pass nächstens besser auf. Sie sind lauter Mütter, die Frauen in der „Friedlichen Einkehr". Komm mal her, Jungchen, kost' mal Nougat, trink mal das Bier hier, ist gutes Doppelmalz, steht noch ein viertel Liter Sahne rum, iss das mal auf, Jungchen, dann ist es weg, braucht der Alte nicht zu wissen. Davon wirst du groß, und stark wirst du davon. Nun guck mal den Jungen an, Gertie, deiner, hebt er doch die schwere Zinkwanne! Er muss tüchtig essen. Hier ist Apfelkuchen, der ist noch warm! Na, endlich kommt das Mittag, gebt ihm mal nicht soviel Kartoffeln, das schwemmt nur auf. Gib ihm mal das Stück Kassler, das ist ganz mager, die draußen können das Fette fressen. Was, er kann nicht mehr? Er ist doch nicht etwa krank, das Jungchen? Geh mal zum Opa, leg dich ein bisschen hin… Warte mal, Jungchen, ich mach dir eine Brühe aus Markklößchen, die hat der Alte vorhin kommen lassen, so was hilft einem auf die Beine. Das geben sie auch in Krankenhäusern.
Karl muss lachen bei dem Gedanken an die Küche in der „Friedlichen Einkehr“. So sind die Frauen dort. Renate ist anders. Sie kann sich mit denen nicht vergleichen. Mit ihr kann man reden, sie hat eine Unmenge bunter Gedanken im Kopf, und sie kann erzählen: Abends kann sie stundenlang, die Hände unter dem Kopf verschränkt, den Blick zur Decke, ihre Geschichten erzählen von Menschen und Riesen, von Gespenstern, schönen Frauen, die erlöst werden müssen und Rittern, die über eine Mauer klettern und singen. Da ist sie den Frauen der „Friedlichen Einkehr" über, was aber nicht viel wert ist, genaugenommen, denn von Geschichten wird niemand satt. Renate wird diesen Frauen hoffentlich mal nachgeraten. Sie ist ein Fräulein vorläufig, mehr nicht, gerade ein Fräulein, eine Frau, nein, das kann man nicht sagen, eine Frau ist sie längst noch nicht.
Endlich sind sie fertig mit dem Küssen, dem Glückwünschen, und weil eben eine Pause in dem Schneetreiben ist, beschließen sie, rasch nach Hause zu laufen. Die Schirme unter dem Arm, die Mäntel vorn zusammengehalten, rennen sie die Straßen zurück und erreichen eben die Haustür, als neuer, klatschnasser Schnee vom Himmel fällt. Nun wird man endlich etwas zu essen bekommen. Eine der Frauen aus der „Friedlichen Einkehr" wirtschaftet seit früh in der kleinen Küche. Es riecht nach gebratenem Fleisch, nach Brühe und Fisch, nach allem Möglichen. Jetzt wird dann wohl das Fest beginnen. –
Das Fest begann wirklich, zunächst mit einem ausgiebigen Essen. Anschließend gab es Kaffee und Kuchen und Kognak und Zigarren für die Männer. Am Abend kamen zwei Leute mit Geige und Akkordeon, das „Duo Emil Taube, mit Gesangseinlagen". Sie begleiteten das Abendessen mit schnulzigen Liedern, Emil Taube sang die Refrains. Das erhöhte die Stimmung beträchtlich, unterstützt von Bowle und Schnäpsen. Zu vorgeschrittener Stunde sang der Vater ein Lied von einem Räuber. Dazu hatte er seine blaue Schirmmütze verkehrt herum aufgesetzt, in der Hand schwang er ein langes Küchenmesser, eine schwarze Klappe verdeckte sein eines Auge. Herr Taube begleitete ihn sanft lächelnd auf dem Akkordeon.
„Sie sind ein Künstler“, sagte Herr Taube.
Der Vater lacht an diesem Tag am meisten. Anders die Mutter. Die lachte nicht, sie sah ziemlich zornig aus.
Das größte Erlebnis für Karl aber war die Musik. Er ließ sich die Geige erklären und strich mit dem Bogen versuchsweise über die Saiten. Er drückte die Tasten des Akkordeons und begriff die Mechanik nicht. Das wäre etwas gewesen, solch ein Instrument hätte er spielen mögen. Sie hatten keins, höchstens, dass eine Mundharmonika in irgendeiner Schublade verrostete. Aber in der „Friedlichen Einkehr“ stand ein Klavier. Karl machte sich an den Opa heran, der sich langsam auflöste: die Weste stand offen, der Bauch quoll aus der Hose. Der Alte rülpste und setzte sich bequem in den Sessel. Da stand sein Enkel.
„Wir haben doch ein Klavier“, sagte Karl.
Natürlich, ja, ein Klavier war da.
Er ist besoffen, stellte Karl sachlich fest. Besoffene hatte er seinerzeit bei Onkel Hannemann genug gesehen, er wusste, dass man sie vorsichtig behandeln musste. Sie konnten ohne ersichtlichen Grund überschnappen, und wenn man dann nicht aufpasste, und sie richtig zu packen kriegte, konnte es eine große Sauerei geben.
„Ich will Klavier spielen lernen", sagte Karl, weil es doch einmal gesagt werden musste und möglicherweise diese Stunde die günstigste war für ein solches Verlangen. Übrigens war es praktisch gedacht, ein Klavier war da, ein anderes Instrument hätte er doch nicht bekommen.
„Klavier spielen? Dann kannste ooch Kellner werden mit Plattfüße.“
„Man muss es ja nicht so machen", sagt Karl, „man kann es auch zum Spaß machen, so wie du angelst, auch bloß zum Spaß.“
Das war richtig, wenn man es so nahm, ließ sich gegen das Klavierspielen nichts einwenden.
„Meinetwegen", sagte der Opa, „Kalte Wade kann es dir zeigen.“
Um sich dieser Zusage zu versichern, sah Karl sich nach einem Bundesgenossen um. Er rief Tante Friedel, die gerade vorüberging, zum Zeugen.
„Ich lerne Klavier spielen, Tante Friedel. Der Opa will es.“ So hatte er sie alle beide fest, einer konnte dem anderen gegenüber bezeugen, was gesagt oder was nicht gesagt worden war. Die Tante, die sich den Zusammenhang nicht erklären konnte, tappte auch prompt in die Falle, die ihr der Neffe gestellt hatte.
„So ein Unsinn, Junge!“ Sie glaubte ihren Vater genügend zu kennen, um an der Wahrheit dieser Behauptung zu zweifeln, aber sie hatte die Wirkung der genossenen Schnäpse unterschätzt. Der Opa wurde munter.
„Was heißt das, Unsinn? Wie sprichst du mit deinem Vater? Wer bezahlt den ganzen Laden, ich oder du?"
Er rollte böse die Augen, und sie sagte erschrocken: „Um Himmels Willen, Vater, es hat doch niemand was dagegen gesagt, dass Karl Klavier spielen lernt!“
Sie zog sich schleunigst zurück, und auch Karl hatte wenig Lust, sich in Gefahr zu begeben, nachdem er sein Ziel erreicht hatte.
In einer anderen Ecke wurde etwas anderes verhandelt und auch entschieden. Der Vater versuchte der Mutter klarzumachen, dass Renate auf die Kunstgewerbeschule musste, einfach weil sie es wollte. Die Mutter wiederum wollte dem Vater das ausreden, weil sie fürchtete, die Tochter bald an einen Schwiegersohn zu verlieren. Das Gerede zog sich schon eine ganze Weile hin, sie kamen zu keinem Ergebnis. Die Mutter scheute die Ausgaben für die Schule, für die lange Ausbildungszeit. „Brotlose Künste“, sagte sie. „Wer von euch Zweien hat sich das bloß wieder ausgedacht?“
Das Fest ging langsam zu Ende. Die Großeltern rüsteten zum Aufbruch. Der Opa stand schwankend auf seinen Beinen, versuchte den Vater bei den Schultern zu packen, erwischte ihn endlich auch, und sie brabbelten beide etwas vor sich hin. Endlich hatte Friedel die Taxe besorgt. Die drei verschwanden.
Dann lagen Karl und Renate in ihren Betten. Die Schwester schlief heute sofort, freilich, sie hatte den ganzen Abend tanzen müssen. Draußen begann ein neuer Tag, Milchkannen klapperten, Autos fuhren, die Straßenbahn kreischte. Renate würde nun auf die Kunstschule kommen, sie würde tun, was sie sich selbst ausgesucht hatte.
Kunst sind Bilder, sie können in Öl gemalt sein oder in Wasserfarben; selbst mit dem Bleistift lässt sich Kunst herstellen. Achtjährige müssen aufpassen, dass ihnen der Teil Welt nicht entgeht, der etwas mit diesen Dingen zu tun hat. Sie sind eigentlich ohne Nutzen. Bilder kann man nicht essen, und doch wird einem merkwürdig, wenn man, einmal darauf hingewiesen, die Drucke in den Büchern des Vaters betrachtet. Blumen, gemalte Fische und Äpfel sind einem nicht so nahe wie zum Beispiel Pferde mit Reitern in einer abenteuerlichen Uniform. Es sieht aus, als würden sie gleich herausreiten aus der Buchseite, der Gaul wird mit den Füßen scharren, das Zaumzeug klirrt leise wie bei den Zugpferden der Fuhrleute, die Lebensmittel in die „Friedliche Einkehr“ transportieren, einen Schnaps in der Küche trinken, die langen Peitschen festhalten: „Is jut, Frau Schuster, jawoll, Frau Schuster, hol ick morjen. Noch ein' Schnaps? Bin nich abjeneijt, Frau Schuster.“ Kunst ist noch viel mehr. Kunst ist, wenn einer singt. „Sie sind ja ein Künstler, Herr Kirchhoff.“ Kunst ist, wenn einer auf einer Geige spielt, das Denkmal von Schultze-Delitzsch ist auch Kunst. Kunst umgibt einen dauernd. Man muss nur seine Augen aufmachen. –
Ja, der Vater ist ein Künstler. Manchmal nimmt er seine Wasserfarben vor, stell sich das Reißbrett zurecht und starrt lange auf das darauf gespannte weiße Blatt. Häufig räumt er alles wieder weg, ohne einen Strich gemacht zu haben. Wenn er aber zu malen anfängt, dann zaubert er Blumen und Sonnen auf dieses weiße Papier. Schade, dass er das meiste zerreißt, noch schlimmer, dass er oft nach solchen Stunden ungenießbar ist. Mit der Kunst muss es eine eigene Bewandtnis haben. Warum zerstört er, was er gemalt hat? In dieses seltsame Metier soll nun auch Rena. Man würde sehen. Sie fängt nicht gleich mit dem Malen an, sie wird als erstes Volontär bei der Firma Hirschberg, um sich auf das Malen vorzubereiten. Ob sie auch alles wieder kaputtreißt? Die Mutter ist zufrieden mit dieser Lösung, der Vater scheint weniger zufrieden, und Rena ist voller Erwartungen. Sie lädt Karl ein, dass er ihre ersten Schritte in die Kunst mitansehen soll, aber von Malen ist seltsamerweise nicht die Rede.
Die ersten Wochen vergehen, aber Karl wird nicht mitgenommen, und er hätte doch so gern gewusst, ob sie auch alles wieder wegwirft.
Frau Hirschberg nahm Renate am ersten Tag an die Hand und stellte sie der Familie vor. Sie empfahl ihrem Mann und der Tochter, ihr jede Hilfe zu gewähren, denn Fräulein Kirchhoff sei eine Volontärin und kein gewöhnlicher Lehrling. Frau Hirschberg gab Renate ihre warme, feste Hand und wünschte ihr alles Gute. Die Tochter Gloria verzog ebenfalls die Lippen.
Auf die Dauer erwies sich die gesprächige Frau Hirschberg als eine Nervensäge. Sie schwatzte ausdauernd den ganzen Tag belangloses Zeug, und wenn keine Kundschaft da war, ergoss sich ihr Redestrom über die drei Menschen, die ihrem Mundwerk hilflos ausgeliefert waren. Der Umgang mit der Kundschaft stellte sie oft vor unlösbare Aufgaben. Die Kunden kamen ohne genaue Vorstellungen, fanden nicht das Rechte und mussten deshalb zu einer Bestellung veranlasst werden.
„Sehen Sie die den Wandbehang, mein Herr?", fragte Frau Hirschberg dann, „mein Mann hat drei volle Wochen daran gearbeitet. Er ist beinahe daran kaputtgegangen, aber wo finden Sie heute noch ein solches Stück? Niemand kann heute noch so was arbeiten.“
„Sehr schön", sagte der Kunde in solchem Falle, ließ aber selten die Absicht erkennen, dieses „Stück“ zu erwerben. Der Trick war zu plump.
„Ich kann Ihnen noch etwas ganz Feines zeigen. Meine Tochter hat es gemacht. Diese Arbeiten werden sie noch einmal ihr Augenlicht kosten. Ich zeige es auch nur solchen Herrschaften, die etwas davon verstehen.“
Der Kunde nickte zerstreut und sah auf die Uhr. Er hielt sich schon länger als geplant in den Räumen der Firma Hirschberg auf. Um nicht unhöflich zu erscheinen, besah er das Stück, das man nur besonderen Kennern zeigte, eine wirklich sehr schöne Decke aus hauchfeinem Garn. Der Kunde war überrascht und erkundigte sich nach dem Preis, aber die Decke wurde niemals verkauft, sie war der Talisman der Familie. Selbstverständlich konnte Gloria ein ähnliches Stück für den Herrn anfertigen, gegen eine kleine Anzahlung. Hinterher gab es dann immer Krach, denn das Duplikat unterschied sich wesentlich vom Original. Die Kundschaft beschwerte sich, verlangte genau die Decke und keine andere - ohne Erfolg. Die Decke wurde noch immer entschlossen verteidigt. Es war Schwindel, denn weder Gloria noch Herr oder Frau Hirschberg konnten eine derartige Arbeit ausführen.
Nach den vormittäglichen Kundenbesuchen erteilte Frau Hirschberg eine Belehrung, die hauptsächlich für Renate bestimmt war. „Haben Sie gesehen, mein Kind, wie man das Stück drehen muss, das man verkaufen will? Niemand gibt an und für sich gern Geld aus. Das ist bekannt. Der Kunde muss also davon überzeugt werden, dass der Besitz einer solchen Arbeit etwas unerhört Wünschenswertes ist. Der Gedanke daran muss ihn Tag und Nacht verfolgen. Ich erzähle Ihnen das, mein Kind, weil Sie begabt sind. Mit Ihrem Gesicht kann man eigentlich alles verkaufen. Geh nicht so dicht mit den Augen an die Arbeit, Gloria“, unterbrach sie ihre Ansprache an Renate. „Bei dir ist Hopfen und Malz verloren. Du und dein Vater, ihr würdet nicht das Salz zum Brot verdienen. Zum Glück bin ich noch da, denk daran, eine Mutter hat man nur einmal.“
Sie zündete sich einen Stumpen an und fuhr dann fort: „Also, mein Kind, versuchen Sie ihr Glück. Lächeln Sie die Leute an. Das können Sie doch, wenn nicht, müssen Sie es lernen. Bringen Sie mir jetzt, was Sie gemacht haben!“
Renate holte ein Tuch mit Batikmuster, breitete es auf dem Tisch aus und sah Frau Hirschberg erwartungsvoll an.
„Ganz schön, aber ich erkenne die Handschrift meines Alten. Solche Muster hat er schon vor zwanzig Jahren gemacht. Schon damals wollte sie kein Mensch kaufen. Machen Sie das nicht nach. Verstehen Sie, mein Kind, Sie müssen Sachen herstellen, die man verkaufen kann. Ladenhüter haben wir überreichlich. Gloria kann sie Ihnen zeigen. Ich muss jetzt weg.“
Sie verschwand sehr eilig und alle atmeten auf. Gloria ging mit Renate in den kleinen Lagerraum und legte ihr Dutzende von Batiken vor, unverkäufliche Ware. Dann fragte sie: "Gefällt es Ihnen bei uns?“
Renate wollte sie nicht verletzen. „Ich bin doch erst kurze Zeit hier“, sagte sie, „Ihre Mutter ist wohl sehr tüchtig?“
Gloria nickte und Renate sah sie aufmerksam an. Obwohl Gloria erst Mitte zwanzig war, trug sie schon jetzt unverkennbar die Züge der alten Jungfer.
„Glauben Sie, dass mir eine Brille stehen würde?", fragte sie. „Ich bin kurzsichtig und müsste eine Brille haben, aber meine Mutter will es nicht. Sie denkt, ich heirate noch. Das ist Unsinn.“
Sie teilte das so gleichmütig mit, als berichtete sie über eine fremde Person. Ihrer Frage, ob ihr eine Brille stehen würde, entnahm Renate, dass sie sich um ihre Zukunft sorgte.
„Haben Sie mit dem jungen Herrn Laube was angefangen?“, fragte Gloria.
Renate errötete und ärgerte sich darüber. Wegen dieses Laube brauchte sie wahrhaftig nicht rot zu werden.
„Gehen wir wieder nach vorn“, sagte Gloria fast müde.
Von diesem Tage an war Renate auf der Hut. Ursprünglich hatte sie angenommen, in der Tochter ihrer Chefin eine freundliche Ratgeberin, wenn nicht eine Freundin, zu finden. Die Reserviertheit, mit der Gloria ihre Werbung aufgenommen hatte, verstand sie nicht.
Es sollte eine Zeit kommen, wo sie sich nach einer freundlichen Geste in dem Hause Hirschberg sehnte. Nicht, dass die Hirschbergs mit ihr zankten. Sie brauchten zu dringend die paar Mark, die Hermann regelmäßig jeden Monat bezahlte, und hüteten sich, diese Einnahme aufs Spiel zu setzen, aber sie lebten in ständiger Spannung untereinander. Darunter litt Renate, die im Zusammenleben Ruhe und Harmonie suchte.
Dieser Laube, von dem Gloria gesprochen hatte, machte ihr den Hof. Wenigstens konnte man seine ungeschickten Versuche, mit ihr in Kontakt zukommen, so deuten. Laube, Sohn eines Schneidermeisters, mochte Anfang Zwanzig sein. Er wirkte noch jünger und kam fast täglich unter einem Vorwand. Frau Hirschberg behandelte ihn aufmerksam, denn Laube-Vater, sicherte ihnen einen kleinen Verdienst. Sie staffierten Uniformhosen, die er in Konfektion herstellte. Renate mochte den schüchternen Jungen wie einen Kameraden, außerdem liebte sie alles, was ihr Mitgefühl erweckte. Heinz Laube war ein ängstlich gehütetes Muttersöhnchen, etwas verträumt und schwärmerisch.
Einmal lauerte er ihr auf und bat, sie begleiten zu dürfen. Renate erlaubte es nach einem schnellen Blick in die ängstlichen Hundeaugen und in dem Hochgefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben etwas erlauben zu dürfen. Er wagte nicht, sie zu berühren, ging nur still mit einem zufriedenen Lächeln neben ihr durch die Straßen. Ihm zuliebe machte Renate einen Umweg durch die Schönhauser Allee. Sie betrachteten die Auslagen in den Geschäften. Ihre Absätze klappten auf dem Pflaster.
„Fräulein Renate“, sagte Heinz Laube, „was machen Sie denn abends immer so?“
„Ich gehe dreimal in der Woche zur Abendschule in die Andreasstraße. Die übrigen Abende habe ich genug zu Hause zu tun.“
„Dann haben Sie also nie für sich Zeit?“, fragte er enttäuscht und blieb stehen. Renate blieb ebenfalls stehen.
„Doch, manchmal schon“, sagte sie und blickte in seine wässrigen Augen hinter der Brille.
„Dann würden Sie vielleicht mit mir ins Kino gehen oder eine Flasche Wein trinken? Ich habe noch nie mit einem Mädchen eine Flasche Wein getrunken. Geld habe ich“, sagte er.
Sie ging weiter, notgedrungen musste er ihr folgen. Das Spiel drohte Ernst zu werden, was keineswegs in ihrer Absicht gelegen hatte. Woher nahm Heinz Laube plötzlich diesen Mut? Seine Wangen waren vor Aufregung gerötet. Die seltsamsten Gefühle bestürmten sie. Er gefiel ihr nicht, entsprach nicht ihren Vorstellungen von einem Mann. Dahinter aber lockte das Abenteuer, mit ihm auszugehen, ihn zu beherrschen. Sie zweifelte nicht, dass ihr das gelingen würde. Das war unfair ihm gegenüber, der nicht dafür konnte, dass er nur ein Schneiderlein war, und nicht einmal ein tapferes. Sie musste ihm diese Bitte abschlagen.
„Also gut“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen, „wenn es sich ergibt. Wir sehen uns ja bei den Hirschbergs.“
Sie erreichten die Schwedter Straße und bogen rechts zur Kastanienallee ein. Sie wäre ihn jetzt gern losgeworden, um über ihre Zusage nachzudenken, die ihr doch etwas bedenklich vorkam.
„Nun müssen Sie aber gehen“, sagte sie. Ihre Stimme klang gereizt. „Ich bin gleich zu Hause und möchte nicht mit Ihnen gesehen werden.“
Er verabschiedete sich ohne Widerspruch und lief rasch die Schwedter Straße zurück.
Am anderen Tag fand sie Herrn Hirschberg sehr früh vor seiner Arbeit. Sie sagte „guten Morgen“, und er grüßte zerstreut zurück. Es schien dicke Luft im Hause Hirschberg. Herr Hirschberg stand ganz plötzlich, wie unter einem eben gefassten Entschluss auf und ging aus dem Zimmer. Die Tür ließ er offen, so wurde Renate unbeabsichtigt Zeuge der folgenden Auseinandersetzung zwischen dem Ehepaar.
„Du wirst diesen Auftrag zurückgeben“, hörte Renate ihn sagen, „diesen Plunder machen wir nicht.“
Frau Hirschberg schlug mit der Faust auf den Tisch. „Nun hör mir mal genau zu“, sagte sie, „ein solcher Auftrag kommt nur alle zehn Jahre in diese Firma. Seit zwanzig Jahren schleppe ich dich hier mit durch, denn du hast wahrhaftig nicht dein Essen in dieser Zeit verdient. Ich muss ja überhaupt verrückt gewesen sein, als ich dich genommen habe. Ich bin zu alt, um noch mal anzufangen, aber dieser Betrieb gehört mir, und ich bestimme, was wir machen, und wir werden die Wandbehänge machen, so wahr ich Auguste Hirschberg bin. Außerdem“, sagte sie nach einer Pause, „ist es natürlich ganz gleich, was wir machen.“
„Mir ist es aber nicht gleich", schrie Herr Hirschberg, „das hast du doch gehört.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Sieh dir doch das Zeug an, Hakenkreuze auf Kissenplatten, Schwedenkante mit SS-Runen, um Himmels willen, wer hängt sich denn solches Zeug hin und wer macht es?“
„Wir“, sagte Frau Hirschberg.
Mehr hörte Renate nicht, denn Gloria kam herein und schloss die Tür hinter sich. Sie presste ihr Taschentuch vor die Augen. Renate stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Das geht doch vorbei“, sagte sie tröstend.
„Für Sie vielleicht“, sagte Gloria, „für mich hat das nie ein Ende.“
Da setzte sich Renate wieder an ihren Platz. Ihre ersten Erfahrungen im Berufsleben waren betrüblich. Sie hatte eine andere Vorstellung von dieser Arbeit gehabt.
Die Abendschule begann täglich um sieben und dauerte bis halb zehn. Hier trafen sich Ziseleure, Setzer, Goldschmiede, Lithographen. Renate trieb Kupferplatten mit dem Kugelhammer zu Schalen und Halbkugeln. Die Kugel war die Krönung des Handwerks. Aus einer Kupferplatte eine Kugel zu treiben, war schon ein Kunststück, und wem es gelang, der durfte sich als Geselle betrachten, von dem sprach man mit Hochachtung. Es gelang nur wenigen.
Renate wurde in perspektivischem Zeichnen, in Materialkunde und Freihandzeichnen unterrichtet. Hier fand sie die Befriedigung, die sie gesucht hatte. Sie fing auch an zu töpfern, verfertigte Schmuck, und es machte ihr großen Spaß, ihre Erzeugnisse um sich zu sammeln. Die Wohnung in der Kastanienallee füllte sich schnell mit diesen neuen Gegenständen.
Hermann ging durch die Wohnung wie durch ein Museum, nahm hin und wieder ein Stück in die Hand, betrachtete es aufmerksam und stellte es wieder an seinen Platz.
Langsam wird klar, was Kunst denn nun wirklich ist, man muss nicht nur seine Augen aufsperren, man muss auch seine Ohren offenhalten können. Krüge und Glasschalen sind Kunst und Ketten aus Silberdraht und emaillierte Metallplatten und weiß der Himmel was noch alles. Die Schwester ist noch schlanker geworden, ihr helles Haar glänzt, ihr Gesicht ist so sauber, ihre Bewegungen sind rasch. Sie scheint immer zu lächeln, es ist, als sitze ihr eine Sonne unter der Haut. In ihrer Nähe kommt man sich plump und ungeschickt vor, aber sie ist gut, diese herrliche Schwester. „Sie hat ein weiches Herz“, meint die Mutter. Die Schwester ist unverletzlich in ihrer strahlenden Schönheit und Güte. Der Vater ist der Klügste. Er regiert sie alle, seine Entscheidungen sind unfehlbar, die Mutter leistet die Arbeit. Was der Vater ausdenkt, das macht sie wahr. Wenn der Vater sagt, morgen fahren wir an den Müggelsee, dann ist das ein guter und begrüßenswerter Einfall, über den sich alle freuen. Die Mutter macht am Abend die Stullenpakete fertig und schafft erst eigentlich die Voraussetzungen, dass die Fahrt ein Vergnügen werden kann. Die Schwester dagegen macht gar nichts. Sie kommt nur mit. Sie ist der blanke Schild der Kirchhoffs, in dem sich die Sonne spiegelt. Wäre ihre Freundlichkeit nicht, würde etwas Wichtiges fehlen. Dann könnte der Vater nicht mit der gleichen Gelassenheit seine Schirmmütze in den Nacken schieben und stolz um sich blicken. Selbst die Mutter ist anders auf einem Ausflug an den Müggelsee. Die Schwester liegt auf einer Decke im Schatten. Ihre Haut verträgt die Sonne nicht. Die Mutter, der Vater und Karl lassen sich braten. Die Mutter sieht zur Tochter, die die Augen geschlossen hat. Sie glaubt Rena außer Hörweite.
„Hör mal“, sagt sie, „mit euren Plänen geht es wohl nicht recht voran, was?“
Der Vater schweigt. „Im nächsten Jahr muss sie ihr Pflichtjahr machen“, fügt die Mutter hinzu. Und nach einer Pause: „Außerdem kommt sie jetzt in das Alter.“ Sie lässt ungewiss, in welches Alter Rena nun kommt.
Der Vater sagt etwas von Blödsinn.
„Die Mütter ziehen die Kinder ihrer Töchter auf, mein Lieber“, sagt die Mutter sehr nachdrücklich. Der Vater lacht. „Ja“, bemerkt die Mutter, „unsere Tochter ist was Besonderes. Sie ist so was Besonderes, dass sie überall auffällt. Drei Söhne sind mir lieber als eine Tochter.“
Rena bewegt sich, sie sieht zu ihnen hin, sie lächelt, die Tochter, die jetzt in die Jahre kommt.
„Willst du noch eine Decke?“, fragt die Mutter freundlich, „oder soll Karl dich einreiben? Du kriegst doch immer gleich einen Sonnenbrand?“
Es ist schön, wenn sie alle vier zusammensitzen und nichts tun als schwatzen oder schweigen, ihren Gedanken nachhängen und ein bisschen in die Zukunft sehen. –
Es wurde bald klar, was es hieß, in die Jahre zu kommen. Wenige Tage später warteten sie alle zusammen auf Renate. Der Vater wanderte um den Tisch herum, die Hände auf dem Rücken; die Mutter saß unter der Lampe und stopfte Strümpfe. Zwischendurch hielt sie Vorträge. Sie machte dem Vater klar, wie recht sie mit ihren Ahnungen gehabt, hatte. „Vierzehn ist deine Tochter“, sagte sie, mit der Schere winkend.
„Fünfzehn“, verbesserte der Vater, aber das schien keinen Unterschied zu machen. Wenigstens blieb die Mutter unbeeindruckt und sagte nur: „Kleine Kinder, kleine Sorgen - große Kinder, große Sorgen.“ Schuld sei der Vater; denn der ließe ihnen allen Willen.
Karl verstand die Zusammenhänge nicht recht. Der Schwester war vielleicht etwas Gefährliches passiert - draußen in der Dunkelheit. Was wusste man, was dort lauerte? Alle machten sich Sorgen um sie.
„Vielleicht muss sie länger arbeiten, oder die Abendschule hat ganz plötzlich den Lehrplan geändert, das wäre ja immerhin möglich.“
„Auch dann müsste sie um elf zu Hause sein“, sagte die Mutter. Man wartet weiter, berät, ob es besser wäre, zur Polizei zu gehen, oder bei der Firma Hirschberg anzurufen, unterließ aber beides.
Renate war in die Jahre gekommen, sie ging ihre eigenen Wege, ohne zu sagen wohin. Das war schlimm, so schlimm, dass die Eltern sogar vergaßen, ihn, Karl, ins Bett zu schicken. Neugierig war er doch, wie das ausgehen würde. Sie musste ja mal kommen, sich eine Predigt anhören. Es würde ihr ein für allemal verboten werden, so lange auszubleiben.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht schloss endlich die Tür. Der Vater ging sofort auf den Korridor. Die Tochter begrüßte ihn freundlich und unsicher. Jetzt würde wohl das Donnerwetter losgehen, nach der Aufregung, die sie ihnen beschert hatte. Karl verhielt sich mäuschenstill. Draußen war nichts zu hören. Renate kam mit dem Vater ins Zimmer, grüßte, gab der Mutter einen Kuss, strich ihm, Karl, übers Haar. Das war alles. Sie sahen betreten aus, Vater und Mutter, als hätten sie selber ein Unrecht verübt.
„Es ist spät geworden“, sagte Renate, „entschuldigt, ich hätte euch sagen müssen, wohin ich gegangen bin.“
Der Vater winkt ab. Keine Rede davon, aber sie hätten sich in der Tat Sorgen gemacht. Nun sei es ja gut.
Karl hielt hartnäckig an der ersten Version fest, sie habe Strafe verdient. „Wo warst du denn so lange?" fragte er vorwurfsvoll.
Sie sagte es ihnen, ein Geschäftsfreund der Firma habe sie eingeladen, sie seien erst im Kino gewesen, dann hätten sie eine Flasche Wein getrunken. Das sei alles. Den Nachsatz betonte sie besonders.
„Jaja“, sagte der Vater, „so was kommt schon mal vor.“ Selbst die Mutter, die vorhin noch die wütendsten Ausfälle gegen ihre Tochter, gegen die miserable Erziehung des Vaters vorgebracht hatte, nickte. Ja, das ist im Berufsleben so.
Niemand konnte der Schwester etwas abschlagen, niemand konnte ihr ernsthaft böse sein. Sie tat kein Unrecht, das wusste man, darauf stellte man sich ein. Damit war die Geschichte wohl erledigt, man ging am besten zu Bett und suchte die fehlenden Stunden durch schnelleres Schlafen wieder aufzuholen. Ein zweites Mal würde man nicht aufbleiben, wenn sie später kam.
Die Firma Hirschberg sollte in diesen Wochen das fünfundvierzigjährige Berufsjubiläum feiern, und die Familie sah diesem Ereignis mehr sorgenvoll als erfreut entgegen. Es würde sicher einen Haufen Geld kosten, die Gratulanten ordentlich zu bewirten. Das Betriebskapital schmolz von Monat zu Monat mehr zusammen. Frau Hirschberg versuchte seit Kurzem, die Firma durch Wetten wieder flottzumachen. Sie ging einmal in der Woche auf die Rennbahn und setzte kleinere Beträge. Sie verlor fast immer, hoffte aber fortwährend auf den ganz großen Gewinn, wie alle eingefleischten Spieler aufhören zu rechnen und ausschließlich ihrem Glück vertrauen. Ihr Mann machte ihr Vorhaltungen, sie würde durch ihre Wettleidenschaft die Firma völlig ruinieren, aber es half nichts.
Zu Renate fasste Frau Hirschberg ein merkwürdiges Zutrauen. Sie hatte herausgebracht, dass Heinz Laube für Renate schwärmte und machte nun ihren Empfindungen Luft: „Kindchen, eigentlich sollte ich Ihnen ja böse sein. Der Heinz würde mal mein Schwiegersohn werden, hoffte ich. Aber wenn er nicht will, kann man nichts machen. Unter uns gesagt, mit einem solchen Gestell wie Gloria würde ich als Mann auch nicht ins Bett gehen, verstehen Sie?“
Renate schwieg.
„Außerdem scheint es mit Laubes bergab zu gehen“, fuhr Frau Hirschberg fort. „Aber Sie, nehmen Sie ihn doch, er schmachtet Sie ja an. Er ist ein ekelhafter Weichling, stimmt schon, aber Sie wissen, was Sie haben. Glauben Sie mir, in der Ehe spielt es überhaupt keine Rolle mehr. Je weniger mit ihm los ist, desto besser. Sie können sich Ihr Leben einrichten, wie Sie wollen. Sehen Sie mich an, ich mache, was ich will. Hauptsache, es ist ein bisschen Kullermoos da, Geld macht nicht glücklich, sagt man, aber das Gerücht haben die ausgestreut, die welches haben.
Renate war gewarnt, sie ging Heinz Laube fortan aus dem Wege. Sie erklärte, mit diesem einen Abend müsse es sein Bewenden haben, aber merkwürdig der blasse Junge wurde von Mal zu Mal aufdringlicher.
„Wie ist er so?“, fragte Frau Hirschberg bei anderer Gelegenheit.
„Frau Hirschberg“, sagte Renate, „ich…“
„Aber ja", unterbrach sie die Chefin, „ich weiß, man ist zimperlich in Ihrem Alter, denkt wunder was und dabei ist gar nichts los. Passen Sie bloß auf, dass Sie kein Kind kriegen. Der ist imstande, Sie sitzen zu lassen. Wenn den der alte Laube anhustet, klappt er zusammen. Kindchen, ich muss Ihnen was erzählen: Der alte Laube hat doch eine Freundin, mit der er übers Wochenende immer…“
Renate hörte nicht mehr hin. Die Luft in dieser Firma bekam ihr nicht gut. Mit niemandem konnte sie hier ein vernünftiges Wort reden. Gloria, die immer weiter in sich zusammensank, folgte ihr mit hasserfüllten Blicken, Herr Hirschberg saß schweigen vor seiner Arbeit und schoss ebenfalls Blicke über den Brillenrand, und Frau Hirschberg redete in endlosen Tiraden Klatsch auf sie ein. Sie wollte weg, um sich ihr Leben nach ihrem Geschmack einzurichten. Sie musste so bald als möglich mit dem Vater darüber sprechen.
Um das Maß an diesem Tage voll zu machen, erschien kurz vor fünf Heinz Laube und verlangte sie dringend zu sprechen. Er fühlte sich vernachlässigt und machte ihr heftige Vorwürfe. Das war lächerlich, denn sie hatte ihm nie Grund gegeben, auf sie zu rechnen.
„Ich habe Theaterkarten“, flüsterte er. Vor Erregung beschlug ihm die Brille.
„Mir reicht es jetzt“, sagte sie wütend, „lass mich endlich in Ruhe!“
„Dann nehme ich Gloria mit“, sagte er kampflustig.
„Also, ich bitte dich geradezu darum, nimm sie mit! Schönen Abend, wünsche ich.“
Sie nahm eilig ihre Tasche und ging, ohne sich zu verabschieden, nach Hause.
Am anderen Tage empfing sie Frau Hirschberg allein, Mann und Tochter schliefen noch.
„Kindchen“, sagte Frau Hirschberg, „fallen Sie nicht um. Der junge Laube und Gloria haben sich verlobt. Ich kriege einen Schlaganfall. Neulich sprachen wir noch darüber, erinnern Sie sich? Jetzt nimmt er meine Tochter. Der alte Laube wird aus der Hose springen, wenn er es erfährt. Na warte, der kennt Auguste Hirschberg nicht.“
Im Geiste überschlägt sie wohl die neuen Möglichkeiten für das Geschäft, dachte Renate.
„Sie sind uns doch nicht böse?“ fragte Frau Hirschberg.
Weshalb sollte Renate böse sein? Sie grübelte über den Sinn dieser Frage nach.
„Ich meine, weil Sie doch selbst Absichten gehabt haben“, erklärte Frau Hirschberg. Jetzt begriff Renate, und noch etwas anderes ging ihr auf.
„Ich denke“, sagte sie, „Frau Hirschberg, es ist besser, ich scheide aus der Firma aus.“
„Aber Kindchen“ sagte die Hirschberg, „so war es doch nicht gemeint. Natürlich, wenn Sie wollen. Peinlich würde es ja doch werden. Ich weiß auch noch nicht, ob wir hier weiter arbeiten oder überhaupt ganz in Laubes Werkstatt überwechseln. Das muss ich erst noch mit dem Alten ausboxen. Also, wenn Sie wollen, mache ich Ihnen Ihre Papier fertig.“
„Bitte“, sagte Renate kühl.
„Sie können aber immer zu Auguste Hirschberg kommen“, sagte die Chefin, „ich habe Sie sehr gern.“
Das war Renates Entlassung.
Das Schwerste stand ihr noch bevor, den Eltern dieses Ereignis klarzumachen.
Nach dem Essen teilte sie ihnen die neue Lage mit. Sie sah hilfesuchend zum Vater hinüber. Die Mutter fuhr auf.
„Das habe ich doch geahnt. Genau das. Jetzt hat sie keinen Beruf, keine Arbeit. Ich habe doch recht gehabt damals, aber nein, aber als der Alte uns diese Sache angeboten hat, da habt ihr großkotzig abgelehnt. Meine Tochter hat andere Pläne, sie will Kunstgewerblerin werden, etwas ganz Besonderes. Jetzt kann ich wieder zu Vater gehen und ihn bitten, die Karre aus dem Dreck zu ziehen. So ist es.“
Sie blickte böse ihren Hermann an, der Schuld daran war. Hermann spielte mit einem Schreibheft, in das er eben einen Studienplan über die Geschichte des Altertums eintrug. Das war sein neuer Spleen.
„Ich finde es eigentlich ganz gut“, sagte er, „dass Renate da raus ist. Ein junger Mensch muss sich umsehen, wie sollte er sonst vergleichen können? Ich habe auch in verschiedenen Betrieben gearbeitet.“
Gertie schnappte sofort ein.
„Ja, natürlich, in vielen Betrieben. Nirgends hast du ausgehalten. Sage lieber, was nun aus Renate werden soll? Ich kann morgen mit dem Alten sprechen.“
Renate musste sich wohl den mütterlichen Anordnungen beugen. Traurig musste sie ihr recht geben; die Mutter hatte mit sicherem Instinkt heraus gefühlt, dass dieser Beruf nichts für sie war.
„Na ja“, sagte Hermann, „immer langsam. Wir machen es so: Vorläufig wird Renate zu Hause bleiben und sich auf ein richtiges Studium vorbereiten. Die Grundlagen hat sie jetzt bekommen. Wie wir das durchalten wollen, ist mir zwar noch schleierhaft, aber wir schaffen es schon. Nebenbei kann sie sicher auch was arbeiten. Komm mir nicht wieder mit dem albernen Kioskplan.“
Er stand auf, nahm sein Heft, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb: Erstens. Die Vertreibung der etruskischen Könige.
Mittlerweile hatte sich Gertie von ihrem Schrecken erholt.
„Das ist ja eine feine Lösung“, sagte sie.
„Ja“, antwortete Hermann, „die Beste.“
Gertie sagte nichts mehr. Sie räumte das Geschirr in die Küche und Renate half ihr beim Abwaschen. An diese Möglichkeit hatte sie nicht gedacht, Nun würde sie richtig studieren können, war erlöst aus der stickigen Luft dieses Familienbetriebes. Sie ging ins Zimmer zurück. Sie wollte ihm danken, der an seinem Schreibtisch saß und sich selbst historische Rätsel aufgab. Die Feder fuhr kratzend über das Papier. Hermann schrieb eine gestochene Sütterlinschrift.
„Papa“, sagte sie. Er drehte sich lächelnd um, und sie wusste nicht weiter.
„Sieh dir das an“, sagte er, „das ist sehr interessant.“ Er wies mit der Hand auf ein Buch, das Abbildungen antiker Vasenfunde enthielt. Aber sie legte das Buch beiseite.
„Nun mach es nicht so feierlich“, sagte Hermann. „Die Zeit bei den Hirschbergs war nicht verloren, aber eine richtige Ausbildung konnten sie dir nicht geben. Es war gewissermaßen die erste Runde. Jetzt kommt die zweite.“
Renate erhielt von Frau Hirschberg ein Zeugnis:
„Renate arbeitete bei uns als Volontärin, und sie hat sich in dieser Zeit umfassende Kenntnisse in der Repassiererei angeeignet. Sie ist tüchtig und sehr fleißig und wir bedauern, in ihr eine wertvolle Mitarbeiterin zu verlieren. Sie besuchte außerdem die Abendklasse der Kunstgewerbeschule mit gutem Erfolg. Renate scheidet auf eigenen Wunsch aus unserem Unternehmen, und wir wollten ihrer Entwicklung nicht hinderlich sein. Wir wünschen ihr Glück auf ihrem ferneren Lebensweg. Firma Hirschberg, Nachfahren, seit über vierzig Jahren, Webarbeiten, Stickerei und Repassierung.“
Eine Menge Ereignisse sind unterzubringen, in dem kleinen Kopf zu verstauen und zu begreifen. Renate wird nicht zum Studium, sondern ins Pflichtjahr gehen. Sie wird ein ganzes Jahr von zu Hause weg sein. Die Mutter findet das gut, weil „die jungen Leute arbeiten lernen“. Der Vater findet es nicht gut. „Es ist Ausbeutung“, sagt er. Renate ist traurig, sie hat keine Lust auf dieses Pflichtjahr, aber sie wird doch gehen, da ist nichts zu machen, keiner kann ihr da raushelfen, nicht einmal der Vater. Danach soll sie studieren. Sie wird Werkstudentin werden. Dazu hat sie Lust, aber wer weiß, was dann wieder dazwischenkommt.