Читать книгу Vom Golfplatz verschwunden - Helmut Höfling - Страница 3
Eine schreckliche Entdeckung
ОглавлениеReich müsste man sein – so reich wie die Brinkmanns oder wie sonst jemand von den Leuten, die es sich leisten konnten, Mitglied des Golfklubs zu sein.
Katja Ellscheid lächelte vor sich hin, als sie sich bei diesem Wunschtraum ertappte.
Aber war es wirklich so vermessen, dass sie sich wünschte, es auch einmal besser zu haben? Nicht, dass es ihr schlecht ging – nein, im Gegenteil! Sie hatte eine gute Stellung, seit zwei Jahren war sie Kindermädchen bei Brinkmanns. Die beiden Söhne – der siebenjährige Klaus und der vierjährige Erich – waren Kinder, die man lieb haben musste. Keine Musterknaben, die konnte Katja Ellscheid sowieso nicht ausstehen, vielmehr Jungen, die auch einmal einen Streich ausheckten und manchmal mit dem Kopf durch die Wand wollten, um ihren Willen durchzusetzen. Solche Jungen zu beaufsichtigen und mitzuerziehen war eine Aufgabe, die Katja Ellscheid schon Spaß machte.
Vergnügt schaute sie zu, wie Erich mit der kleinen Carola im Sandkasten spielte. Sie waren immer zusammen, wenn sie sich hier draußen auf dem Kinderspielplatz des Golfklubs trafen.
Wo aber trieb sich Klaus herum?
Von der Baumgruppe rechts klang fröhliches Kinderlachen herüber. Ein paar Jungen und Mädchen tollten dort ausgelassen umher, aber Klaus war nicht darunter.
Leicht beunruhigt schaute das Kindermädchen in die andere Richtung, wo die Rutschbahn stand. Und richtig! – gerade in diesem Augenblick kam Klaus auf dem Hosenboden hinuntergerutscht und landete mit lautem Hallo im Sand.
„So gut müssten es meine Kinder auch mal haben!“, dachte sie und wusste zugleich, dass dieser Wunsch nie in Erfüllung gehen würde. Die Brinkmanns gehörten zu den reichsten Familien hier in Köln. In aller Welt waren die Erzeugnisse ihrer Firma bekannt: Landmaschinen, Traktoren und neuerdings Motoren für Panzer. Der Brinkmann-Konzern befand sich seit Generationen in Familienbesitz, und die Eigentümer gingen mit Millionen um wie andere mit Tausenden oder Hunderten.
Materiell fehlte ihnen also nichts, sie konnten sich leisten, was sie wollten: eine Villa wie ein Schloss mit einem weiten Park, drei Wagen mit Fahrer, die verlockendsten Reisen – kurz: alles!
Dennoch gab es Spannungen auch im Hause der Brinkmanns, seelische Unzufriedenheit, Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten und mit dem Familienclan, vor allem mit dem alten Brinkmann, dem Großvater von Klaus und Erich, der immer noch als Firmenchef das Sagen hatte.
In dieser Beziehung fühlte sich Katja Ellscheid glücklicher. Seit über einem Jahr hatte sie einen festen Freund. Sechs Wochen lang hatten sie sich zwar nicht mehr gesehen, denn Erwin besuchte zurzeit in Hamburg einen Lehrgang über Datenverarbeitung. Aber nächsten Monat, im November, würde er zurückkommen und eine gut bezahlte Stellung in Köln antreten – und dann wollten sie auch heiraten, das hatte er ihr heute geschrieben. Dann brauchte sie nicht mehr Kindermädchen bei fremden Leuten zu spielen. Sie würde selbst Kinder haben und nur noch für ihre Familie da sein.
Sie nahm den Brief aus ihrer Umhängetasche, die sie neben sich auf die Bank gelegt hatte, kuschelte sich behaglich auf ihrem Sitz wie eine Katze am Ofen und las erneut, was sie fast schon auswendig wusste.
Katja Ellscheid wurde aus ihren Gedanken aufgescheucht, als neben ihr jemand sagte:
„So, da bin ich wieder.“
Sie blickte auf und erkannte Gisela Mertens, das Kindermädchen der kleinen Carola. Schon vorhin hatten sie beide zusammen auf der Bank gesessen und geplaudert. Dann war Gisela Mertens ins Klubhaus gegangen, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Sie hatte Katja gebeten, so lange auf Carola aufzupassen.
„Ah, Sie sind’s“, stellte Katja überrascht fest. „Sie sind schnell wieder zurück.“
„Eine Viertelstunde. War sie artig?“
„Wer?“
Gisela Mertens lachte. „Na ja, Sie träumen mal wieder, ich weiß Bescheid.“ Und mit einem Blick auf den Brief in Katjas Hand fuhr sie dort: „Er ist auch wirklich ein netter Kerl, ihr Freund.“
„Ja, das ist er“, antwortete Katja ein wenig verlegen und steckte den Brief zurück in die Tasche.
Inzwischen hatte sich Gisela Mertens schon selbst überzeugt, dass Carola noch immer im Sandkasten hockte und mit Förmchen „Sandkuchen backte“.
„Carola scheint wirklich brav gewesen zu sein“, meinte das Kindermädchen zufrieden. „Sie sitzt immer noch in derselben Ecke wie vorhin. Mit der Kleinen habe ich überhaupt wenig Ärger.“
Unwillkürlich schaute Katja in die gleiche Richtung wie ihre Bekannte. Ja, das kleine Mädchen spielte immer noch im Sand – aber wo war der Junge? Wo war Erich?
„Ist was?“, fragte Gisela Mertens, als sie den besorgten Ausdruck in Katjas Gesicht bemerkte.
„Ja, Erich ist weg.“
„Ach, der treibt sich schon irgendwo rum. Sie wissen doch, wie Kinder sind. Kaum lässt man sie mal aus den Augen, da sind sie schon verschwunden.“
„Er hat die ganze Zeit mit Carola in der Sandkiste gespielt, und jetzt…“
Beunruhigt war Katja aufgesprungen und schaute in alle Richtungen. Die ganze Zeit über hatte sie aufgepasst, und nur durch den Brief war ihre Aufmerksamkeit abgelenkt worden.
„Vielleicht muss der Kleine gerade mal“, meinte Gisela Mertens mit einem tröstenden Lächeln. „Fragen wir doch mal Carola.“
Die beiden Kindermädchen gingen zum Sandkasten hinüber, Katja mit großen, hastenden Schritten, so dass ihre Kollegin Mühe hatte zu folgen.
„Sag mal, Carola, wo ist eigentlich dein Freund Erich?“, fragte Katja, als sie vor dem Mädchen stand.
„Da!“, antwortete die Kleine und deutete auf den Zaun, der nach Westen hin den Golfplatz abgrenzte.
Aber dort war niemand zu sehen, was Katjas Unruhe noch steigerte. Gisela Mertens dagegen redete gelassen auf die Kollegin ein:
„Wie ich schon gesagt habe: Der Junge musste mal austreten.“
„Erich ist nicht Pipi machen“, quäkte das Mädchen.
„Nicht?“, stieß Katja erregt hervor. „Was dann?“
„Weggegangen.“
„Weggegangen – wohin?“
„Weiß ich nicht. Da!“ Das Mädchen streckte wiederum seine Hand zum Zaun hin.
„Dann kann er nicht weit sein“, meinte Gisela Mertens. „Durch den Maschendraht kann er nicht kriechen und auch nicht über den hohen Zaun klettern. Bestimmt hat er sich in den Büschen davor versteckt.“
Ein Hoffnungsschimmer! Katja trat ein paar Schritte auf die Büsche zu und rief:
„Erich…! Erich…! Komm sofort hierher! Hörst du jetzt, Erich…?“
Keine Antwort! Der Junge ließ sich auch nicht blicken.
„Erich kann dich nicht hören“, meinte das Mädchen im Sandkasten. „Erich ist weggegangen. Ein Mann hat Erich geholt. Dann sind beide weggegangen. Da!“ Wieder zeigte sie zum Zaun.
„Ein Mann? Was für ein Mann?“ Katja schrie das Mädchen aufgeregt an, dass die Kleine eingeschüchtert zusammenzuckte.
„Weiß ich nicht“, druckste sie. „Ich sag dir gar nichts mehr.“
Gisela Mertens schaltete sich ein. Sie hockte sich vor Carola hin und redete beruhigend auf sie ein:
„Sei nicht eingeschnappt, Carola, Tante Katja hat es nicht so gemeint. Sie macht sich Sorgen um Erich, deshalb ist sie so aufgeregt. Bitte, sag mir, was für ein Mann das war!“
„Ein netter Mann“, antwortete das Mädchen, dem es offensichtlich gefiel, so gebeten zu werden.
„Kennst du den Mann?“
„Nein, ich hab den Mann noch nie gesehen.“
„Ich auch nicht, aber er sah wirklich nett aus.“ Es war der siebenjährige Klaus, der sich so unvermittelt zu Wort meldete. Er hatte vorhin gehört, wie das Kindermädchen seinen jüngeren Bruder rief, und war jetzt neugierig von der der Rutschbahn zum Sandkasten geeilt.
Katja Ellscheid spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Sie ahnte, was geschehen war, aber noch wehrte sie sich gegen diese furchtbare Wahrheit.
„Klaus, hast du genau gesehen, dass Erich mit einem Mann fortgegangen ist?“, fragte sie.
„Ja“, nickte der Junge. „`Komm mit, ich zeig dir auch was Schönes!´ hat der Mann gesagt. Und dann sind sie dort hinter den Büschen verschwunden.“
„Mein Gott!“, schrie Katja zitternd. „Mein Gott, das – das kann doch nicht wahr sein!“
Sie stürzte auf die Büsche zu und weiter zu dem Zaun aus Maschendraht, der durch eine Hecke aus Maulbeersträuchern verdeckt war. Aber da – in der Hecke war eine Lücke und im Draht ein Loch! Jemand musste den Maschendraht hier zerschnitten und weggerissen haben. Katja bückte sich und kroch hindurch. Die Lücke führte in verlassene Gärten. Auf der anderen Seite der Gärten sah sie ein Tor, aber so weit kam sie nicht mehr. Denn vor ihr im Gras lag ein weißer Briefumschlag, auf dem in großen roten Buchstaben stand:
„HERRN BERTHOLD BRINKMANN
SEHR DRINGEND!“
Mit zitternden Händen hob sie ihn auf. Ihre Finger verkrampften sich, als hielten sie ein Messer oder einen scharf geladenen Revolver. Ein paar Augenblicke lang stand sie starr da, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Dann wurde ihr das Unfassbare, das Schreckliche in seiner ganzen Tragweite bewusst: Ein furchtbares Verbrechen war geschehen, und sie musste jetzt alle ihre Kräfte zusammennehmen, um die ersten wichtigen Schritte zur Aufklärung zu tun.
Sie kroch durch das Loch im Zaun zurück und rannte, mit dem Brief in der Hand, über den Golfplatz aufs Klubhaus zu. Schon von weitem erkannte sie Frau Brinkmann, die ihre Golfpartie beendet hatte und gerade zusammen mit einem Ehepaar die Treppen der Veranda hinaufstieg.
„Frau Brinkmann!“, rief Katja. „Frau Brinkmann…!“
Verwundert blieb die Angerufene stehen und drehte sich um. Sie wartete, bis das Kindermädchen näher gekommen war.
„Was ist los, Katja? Warum rennen Sie denn so?“
„Erich – eh – Erich…“ Sie rang nach Luft. Atemnot und Angst schnürten ihr die Kehle zu.
„Was ist mit Erich?“, unterbrach Frau Brinkmann sie, aufgeschreckt durch das seltsame Verhalten. „Hat er sich verletzt?“
„Erich ist verschwunden!“
„Was heißt `verschwunden´?“
Katja würgte, als habe sie einen Kloß im Hals. „Ent – entführt!“
„Erich entführt…? Was – was heißt das?“
„Ein Mann hat ihn mitgenommen.“
„Aber das hätten Sie doch verhindern müssen!“
„Ich, ich hab es doch gar nicht gesehen. Die Kinder – ja, Klaus und die kleine Carola haben beobachtet, wie ein Mann den Jungen hinters Gebüsch gelockt hat und…“
„Hinters Gebüsch gelockt… Mein Gott, was ist Erich passiert?“
Frau Brinkmann spürte, wie ihr die Kräfte schwanden. „Nur das nicht“, sagte sie sich. „Nur das nicht! Mein Kind ist in Gefahr, ich muss jetzt einen klaren Kopf behalten…“
Mit aller Gewalt zwang sie sich zur Ruhe.
„Wo ist er jetzt?“
Katja zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ Erst jetzt fiel ihr der Brief wieder ein, den sie noch immer in der Hand hielt. „Hier, diesen Brief habe ich gefunden.“
Hastig riss Frau Brinkmann den Umschlag auf und begann zu lesen. Zwei, drei Sätze hätte sie vielleicht noch richtig erfasst, aber dieser lange Text verwirrte sie. Schon nach der ersten Zeile schwirrten ihr die Buchstaben vor den Augen. Sie las und begriff doch nicht, was da stand. Nur eines erfasste sie sofort: Erich, ihr kleiner Junge, befand sich in der Hand von gemeinen Verbrechern!
Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen beobachtete das Kindermädchen, wie Frau Brinkmann den Brief las. Genauso ungeduldig stand das Ehepaar Kunert dabei, mit dem Frau Brinkmann vom Golfspielen zurückgekommen war.
„Na, was steht drin?“, drängte der Mann. “Eine Nachricht von den Gangstern?“
Zitternd hielt Frau Brinkmann ihm den Brief hin. „Bitte, lesen Sie, ich kann nicht. Ich verstehe nicht, was die wollen.“
Kunert nahm Umschlag und Brief. Zusammen mit seiner Frau warf er einen raschen Blick darauf und las dann langsam vor, wobei er mehrmals stockte:
„LIEBER HERR BRINKMANN!
FOLGENDES WERDEN SIE IN DEN ZEITUNGEN LESEN KÖNNEN, WENN SIE UNS ZUM NARREN HALTEN WOLLEN:
`DAS KIND BRINKMANN, VIER JAHRE ALT, IST NACH ENTSETZLICHEN FOLTERUNGEN GESTORBEN, WEIL SEINE LIEBEN ELTERN SICH GEWEIGERT HABEN, SICH VON 1 MILLION DM ZU TRENNEN – ODER WEIL SIE ZU VIEL MIT DER POLIZEI GESPROCHEN HABEN.´
ICH MÖCHTE IHR KIND NICHT IN RUDIS OBHUT GEBEN. RUDI IST EIN GUTER KERL! ABER ETWAS VERRÜCKT, VERSTEHEN SIE?
WENN SIE IHR KIND WIEDERSEHEN WOLLEN, MÜSSEN SIE UNSERE BEFEHLE GENAU BEFOLGEN. SOBALD SIE ES WIEDERHABEN, KÖNNEN SIE, WENN SIE WOLLEN, MIT DER POLIZEI REDEN – ABER NICHT VORHER…!
VERSCHAFFEN SIE SICH DIE 1 MILLION IN SCHEINEN ZU DM 100,-- UND DM 50,--.ALLE SCHEINE MÜSSEN ABGEGRIFFEN SEIN! WIR NEHMEN KEINE NEUEN! WENN SIE SICH DIE NUMMERN NOTIEREN ODER DIE SCHEINE MARKIEREN, VERLIEREN SIE IHR KIND. ES WIRD IHNEN ERST ZURÜCKGEGEBEN, NACHDEM SIE DAS GELD AUSGEHÄNDIGT HABEN. WIR WERDEN UNSEREN TEIL DER AKTION SEHR RASCH DURCHFÜHREN. WIR GEBEN IHNEN 48 STUNDEN ZEIT, DEN BETRAG ZU BESCHAFFEN. LEGEN SIE DAS GELD IN EINE AKTENMAPPE, DIE VERSPERRT IST, UND BEHALTEN SIE DEN SCHLÜSSEL BEI SICH. WARTEN SIE DANN AUF NEUE WEISUNGEN. WIR WERDEN SIE IN DEN NÄCHSTEN 48 STUNDEN ZU HAUSE ANRUFEN UND – VERGESSEN SIE NICHT, DASS DAS LEBEN IHRES KINDES NUR VON IHREM EIGENEN VERHALTEN ABHÄNGT…! HERR BRINKMANN, SEIEN SIE VERNÜNFTIG! WIR VERTRAUEN AUF IHRE VORSICHT, FOLGEN SIE UNSEREN WEISUNGEN BUCHSTABENGENAU…!!!“
„Das ist ja entsetzlich“, entfuhr es Frau Kunert, nachdem ihr Mann das letzte Wort des Briefes vorgelesen hatte.
Kunert nickte ernst. „Ja, Frau Brinkmann, Sie sollten sofort die Polizei verständigen. Je heißer die Spur noch ist, desto besser für die Polizei.“
„Sie haben doch selbst gelesen, was die Verbrecher schreiben. Nein, keine Polizei! Ich muss sofort meinen Mann anrufen.“
Sie stürzte ins Klubhaus, gefolgt von den Kunerts und dem Kindermädchen. Der Weg zur Fernsprechzelle war ihr zu weit. Sie lief auf den Bartresen zu, wo ein zweites Telefon auf dem Seitenbord stand.
„Ich muss sofort meinen Mann sprechen!“, rief sie dem Barmixer zu. „Wähen Sie! Wählen Sie rasch!“
Verwirrt hob der Barmixer den Hörer ab. „Welche Nummer, bitte?“
„Die im Büro, natürlich!“, antwortete sie.
„Lassen Sie, ich mach das schon“, erklärte Kunert dem Barmixer. „Ich weiß sie auswendig.“
Er drückte auf die Tasten und wartete das Amtszeichen ab. Als sich am anderen Ende die Fernsprechzentrale im Brinkmann-Konzern meldete, gab er den Hörer an Frau Brinkmann weiter.
„Bitte, meinen Mann!“, schrie sie in die Sprechmuschel. „Dringend, verstehen Sie, sehr dringend!“
Ein Klicken – dann hörte sie die ruhige Stimme ihres Mannes:
„Was is denn los, Liebling? Bist du noch auf dem Golfplatz oder schon…?“
„Erich ist entführt worden!“, fiel sie ihm ins Wort.
„Was ist?“
„Sie wollen ihn umbringen, wenn wir nicht bezahlen. Mein Gott, was sollen wir nur machen? Ob das Kind überhaupt noch lebt? Nun sag doch was, Berthold! Warum sagst du nichts?“
Sie hatte die Sätze rasch aus sich herausgestoßen, mehr schreiend als verständlich sprechend. Brinkmann hatte seine Frau noch nie so erregt reden hören, und diese Erregung sprang auch auf ihn über. Was er eben gehört hatte, erschien ihm so unfassbar, dass er es nicht gleich begriff.
„Was ist eigentlich los?“, rief er zurück. „Entführt…? Unser Junge…? Von wem denn? Wie – wie ist das möglich? Ich denke, du warst bei ihm – oder das Kindermädchen. Und woher weißt du das alles?“
„Ich – ich - - der Brief hier. Ja, es steht alles in dem Brief.“
„Was steht in dem Brief? In welchem Brief überhaupt?“
Brinkmann wurde nicht klug aus den Wortfetzen. Statt einer Antwort hörte er jetzt nur das haltlose Schluchzen seiner Frau.
„Sprich doch, Ilse, sprich doch! Was ist los?“
Aber sie konnte nicht mehr sprechen, die Tränen erstickten ihre Stimme.
Behutsam nahm Kunert ihr den Hörer aus der Hand. „Gestatten Sie bitte!“ Dann meldete er sich: „Hallo, Herr Brinkmann, hier spricht Kunert.“
„Ja, was ist denn los? Erich entführt – stimmt das? Wissen Sie was Genaues? Wann – wo – von wem?“
„Bitte, ich weiß auch nicht alles, eben erst habe ich es erfahren. Aber was ich weiß, will ich Ihnen sagen. Ja, ihr Sohn Erich ist entführt worden. Von wem – das weiß im Augenblick noch niemand. Die Entführer haben Ihnen einen Brief geschrieben.“
„Was steht darin?“
„Ihre Frau hat den Brief geöffnet. Wenn Sie erlauben, will ich Ihnen alles genau vorlesen.“
„Ja, lesen Sie, lesen Sie schon!“
Doch nicht nur Brinkmann hörte zu – auch die rund zwanzig Personen, die sich um diese Zeit in der Bar des Klubhauses aufhielten. Sie waren schon vorher von ihren Plätzen aufgesprungen und drängten sich um den Tresen.
Kunert hörte, wie Brinkmann am anderen Ende der Leitung schwer atmete. „Bitte, sorgen Sie dafür, dass meine Frau mit Klaus und dem Kindermädchen sofort nach Hause kommt. Das ist besser, als dass ich erst noch zum Klub hinausfahre.“
„Ja, selbstverständlich, und wenn ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein kann…“
„Danke, ich veranlasse schon alles von hier aus. Kann ich meine Frau noch mal eben sprechen?“
Kunert warf einen Blick zur Seite, dann antwortete er: „Ich glaube, jetzt besser nicht.“
„Ich verstehe. Ich denke, in einer halben Stunde kann meine Familie zu Hause sein, sie hat ja den Fahrer dabei. Ich werde dann auch dort sein.“
Kunert hielt den Hörer so lange in der Hand, bis er hörte, dass der andere aufgelegt hatte.
Was er jedoch nicht hörte, war, dass Brinkmann den Hörer sofort wieder abhob und sich durch seine Telefonzentrale mit der Kriminalpolizei verbinden ließ. Zitternd vor Erregung und von den schlimmen Drohungen gegen seinen Sohn erschüttert, berichtete er, was er soeben erfahren hatte. Er bat die Polizei zunächst einmal zu sich nach Hause, wo er sie und seine Familie erwarten werde. Bis dahin solle sie strengstes Stillschweigen wahren.
Dann verständigte er telefonisch seinen Vater, seine Schwiegereltern, seinen jüngeren Bruder und seine Schwester. Sie sollten alle so rasch wie möglich in seine Wohnung kommen, um im Familienkreis gemeinsam zu entscheiden, was man unternehmen solle, um Erich heil und sicher zurückzuerhalten.