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Inzwischen hatte sich das alte Ehepaar fertig angezogen.

„Hast du den Koffer, Franz?“

„Ja.“

Es war immer dieselbe Frage, die Frau Pilgram ihrem Mann stellte, bevor sie die Wohnung verließen, um den Luftschutzraum aufzusuchen. Und es war auch noch immer derselbe Koffer mit dem Sparbuch, den wichtigsten Dokumenten und Papieren sowie mit denselben Kleidungsstücken für sie und ihn – wie vor Jahren, als die Amerikaner die ersten Bomben über der Stadt abgeworfen hatten. Wenn das Haus über ihnen abbrennen oder in Trümmer fallen würde und sie im Luftschutzkeller mit dem Leben davonkommen sollten, dann hatten sie wenigstens noch die paar Habseligkeiten im Koffer gerettet.

Vor Wochen hatten sie ihre alte Wohnung räumen müssen, nachdem eine Luftmine in der Nachbarschaft detoniert war. Ringsum waren die Häuser eingestürzt oder baufällig geworden. Nur wenige Möbel, Wäsche und Kleinigkeiten hatten die alten Leute noch in das jetzige Zimmer mitnehmen können, das ihnen der Luftschutzwart in seiner Wohnung überlassen hatte.

„Nanu, wo ist er denn nur?“, fragte Frau Pilgram aufgeregt. Sie sprach mehr zu sich als zu ihrem Mann.

„Was suchst du denn?“

„Meinen Stock.“

„Da hängt er doch.“

„Wo?“

„Am Stuhl.“

Die alte Frau sah ihn jetzt auch, obwohl noch immer kein Licht in ihrer Wohnung brannte. Der Mondschein, der durch die nicht verdunkelten Fenster fiel, ließ genug im Zimmer erkennen.

„Haben wir jetzt alles?“, fragte Frau Pilgram ihren Mann.

„Ja.“

„Dann komm, Franz!“

Die eiligen Schritte von Menschen, die in den Keller hasteten, drangen vom Treppenhaus in die Wohnung. Als Frau Pilgram die Tür öffnete, begegnete sie Frau Diedenhofen mit ihrem Säugling im Arm.

„Was macht der Kleine?“

„Er schläft wie immer. Der hat sich schon dran gewöhnt.“

Die junge Mutter zupfte an der Wolldecke, in die sie ihr Kind gewickelt hatte, und ging weiter. Die beiden Alten folgten ihr, wenn auch langsamer. Selbst mit dem Stock fiel Frau Pilgram jeder Schritt schwer.

Luftschutzwart Schmeer stürmte die Treppe hinauf, ihr entgegen, fast feldmarschmäßig ausgerüstet mit Stahlhelm, Drillichanzug und umgeschnalltem Koppel, an dem ein kurzer Spaten hing.

„Ach, da sind Sie ja!“, rief er ihr zu – und dann: „Kommen Sie, Frau Pilgram, ich helfe Ihnen runter.“

„Danke, Herr Schmeer. Die Treppen machen mir immer Schwierigkeiten.“

„Ich weiß. Nur vorsichtig – und stützen Sie sich auf mich.“

Als sie im Stockwerk darunter angelangt waren, wurde eine weitere Wohnungstür geöffnet. Ein Mann trat heraus, setzte zwei Koffer im Flur ab und zog hinter sich zu.

„Ah, ‚n Abend, Herr Dr. Schunck“, grüßte Herr Pilgram

Der andere hob den rechten Arm halb hoch. „Heil Hitler!“

Der Alte war leicht verwirrt. „Ah… ja….“, schnaufte er, „ja, natürlich.“

Dem Luftschutzwart fiel auf, dass der Lehrer allein aus der Wohnung kam.

„Wo ist denn Ihre Frau, Herr Studienrat?“, erkundigte er sich.

„Schon unten. Ich habe nur noch die beiden Koffer hier geholt.“

Er eilte den anderen voraus, die gehbehinderte Alte hätte ihn nur unnötig aufgehalten.

Endlich hatte auch Frau Pilgram die letzte Stufe geschafft. Sie waren unten im Keller angelangt, wo Schmeer die Eisentür zum Luftschutzkeller öffnete. Stimmengewirr schlug ihnen entgegen, die meisten Hausbewohner hatten sich schon dort eingefunden.

„Jetzt geht’s wieder allein, Herr Schmeer“, meinte Frau Pilgram. „Danke.“

„Setzen Sie sich da drüben in den Sessel.“ Sein Blick machte die Runde durch den Schutzraum. „Ich geh noch mal rauf, meine Tochter holen“, sagte er dann zu allen. „Die hat vielleicht gar nichts gehört in der Mansarde.“

„Herr Jansen ist auch noch nicht da mit seiner Bekannten“, rief ihm die Hausmeisterin zu.

„Ja gut, Frau Mertens, ich klopf mal bei denen an.“

Wieder stieg der Luftschutzwart die vielen Treppen hoch, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm. Er hatte gerade die Hälfte hinter sich, als er seiner Tochter begegnete.

„Da bist du ja endlich, Gerda! Ich wollte dich gerade holen kommen.“

„Mich?“

„Ja, ich dachte, du hättest die Sirene nicht gehört.“

„Die hört doch jeder.“

„Warum kommst du denn erst jetzt runter?“

Gerda machte ein mürrisches Gesicht. „Erst wollte ich gar nicht aufstehn. Jede Nacht dasselbe.“

„Bei Fliegeralarm hast du den Luftschutzkeller aufzusuchen. Das ist Vorschrift. Und für dich als Tochter des Luftschutzwarts geilt das besonders.“

„Ist gut, Vater, ich geh ja schon runter.“

„Und beeil dich ein bisschen!“ Er sagte das, während er bereits wieder weiter nach oben hastete.

Verwundert blieb Gerda stehen und schaute ihm nach. „Wo gehst du denn noch hin?“

„Zu Jansen.“

„Den Weg kannst du dir sparen. Der kommt ja doch nicht, du kennst ihn doch.“

„Das wollen wir doch mal sehen!“

Er rang nach Atem, als er endlich oben vor der Wohnungstür stand und heftig mit der Faust dagegen pochte.

„Aufstehn, Herr Jansen“, rief er, „aufstehn, Fliegeralarm!“

„Das weiß ich doch“, schlug es ihm von drinnen barsch entgegen.

„In den Luftschutzkeller – aber rasch! Es sind starke Bomberverbände gemeldet.“

„Hauen Sie doch ab, Mann!“

Gereizt drehte sich Jansen auf die Seite und kehrte dem Luftschutzwart den Rücken zu, als stände der andere gleich neben dem Bett und nicht draußen vor der Tür.

„Da hörst du’s, Günther“, flüsterte seine Freundin Hanne ihm zu. „Ich geh runter.“

Er legte den einen Arm um sie. „Du bleibst hier im Bett!“

Schmeer hatte zwar das Getuschel gehört, aber kein Wort verstanden.

„Nehmen Sie wenigstens Rücksicht auf Ihre Bekannte!“, rief er ihm gereizt zu. „Es ist doch sicher wieder jemand bei Ihnen?“

„Das geht Sie ‘nen Dreck an!“

„So können Sie nicht mit mir reden – Sie nicht!“

„Ach, zum Teufel mit Ihnen, lassen Sie mich in Ruhe!“

„Und das mit dem Licht von vorhin, das wird noch ein Nachspiel haben, darauf können Sie sich verlassen. Sie haben uns damit alle in höchste Gefahr gebracht.“

Wut über seine Ohnmacht staute sich in Schmeer.

„Jedes Mal dasselbe Theater mit diesem Kerl“, dachte er, während er sich mit schweren Schritten zurückzog. „Seit dieser großkotzige Schnösel vor einigen Wochen ins Haus gezogen ist, habe ich nichts als Ärger mit ihm. Gut, er ist zwar ein Kriegsversehrter, aber denen begegnet man in diesen Tagen auf Schritt und Tritt. Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, sich hier so aufzuspielen. An der Heimatfront, in diesem Haus, führe ich als Luftschutzwart das Kommando, und jeder hat sich meinem Befehl unterzuordnen. Ich trage hier die Verantwortung!“

Und das Leben, das dieser Jansen führte… diese Weiber! Jede Nacht was anderes im Bett, während die Landser an der Front in den Schützengräben lagen. Dass der sich nicht schämte… ein solches Lotterleben in einer so großen Zeit! Und das in einem anständigen Haus…

„Ich habe nie so schamlos rumgehurt wie der“, dachte der Luftschutzwart, und als ihm bewusst zu werden drohte, wie lange die Jahre schon zurücklagen, in denen er so alt gewesen war wie dieser Kriegskrüppel jetzt, unterdrückte er die aufkeimende Erinnerung verbittert.

Mechanisch öffnete er die Eisentür zum Luftschutzkeller und trat ein.

„Na, Herr Schmeer, kommen die beiden nun oder nicht?“, wollte die Hausmeisterin wissen.

„Ich lass mir das nicht mehr länger bieten.“

Seine Tochter zuckte die Schultern. „Ich hab’s dir doch gleich gesagt, Vater.“

„Das kommt die noch teuer zu stehn. `Zum Teufel mit Ihnen!´ hat er geschrien, als ich an seine Tür geklopft habe.“

„Ach, Sie kennen doch diesen Rabauken“, versuchte Dr. Schunck ihn zu beruhigen. „Immer gleich das Maul aufreißen – und nichts dahinter.“

„Er hat immerhin zwei russische Panzer abgeschossen“, wandte seine Frau ein. „An einem Tag!“

„Bist du dabei gewesen?“

„Etwas wird schon dran sein, sonst hätte er nicht das Eiserne Kreuz bekommen, sogar erster Klasse.“

„Und schwer verwundet ist er auch“, unterstützte die Mutter mit dem Säugling die Frau des Studienrats. „Mein Schwager hat ebenfalls den linken Arm verloren. Deshalb kann er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Genau wie Herr Jansen. Da ist es doch selbstverständlich, dass er leicht hochgeht, wenn man ihm irgendwie zu nahe kommt.“

Diese Parteinahme für den Kriegsversehrten ging dem Luftschutzwart wider den Strich.

„Alles in Ordnung hier?“, fiel er barsch ein. „Sandtüten, Wassereimer, Verbandszeug?“

Die Hausmeisterin nickte. „Ich hab schon nachgesehen.“

„Danke, Frau Mertens, auf Sie kann man sich immer verlassen.“

„Wir müssen eben alle zusammenhalten.“

„Sehr richtig!“, bekräftigte Dr. Schunck.

„Und der Notausstieg?“, fragte Schmeer die Hausmeisterin weiter. „Keine Kisten davor oder sonst was?“

„Daran hab ich noch nicht gedacht.“

„Das Wichtigste überhaupt!“

Der Luftschutzwart bog ein paar Schritte um die Ecke auf die Nische zu, von wo der Notausstieg ins Freie führte. Dieser Winkel wurde von der ohnehin schwachen Kellerlampe kaum beleuchtet, so dass er die gekrümmte Gestalt, die dort kauerte, erst bemerkte, als er dicht davorstand.

„Nanu, was tun Sie denn da?“, fuhr er den anderen an.

„Ich – ich habe mich hier auf die Kiste gesetzt.“

„Genau vor dem Notausstieg!“

„Ich dachte, ich würde hier am wenigsten jemanden stören“, versuchte sich der Ertappte zu entschuldigen.“

„Sie stören überall – und hier am meisten.“

Der andere, ein schwächlicher, älterer Mann, schwieg betreten wie jemand, der nirgendwo geduldet ist und immer unrecht hat.

Der kurze Wortwechsel hatte die Aufmerksamkeit der anderen Hausbewohner erregt.

„Wer ist denn da?“, fragte die Hausmeisterin den Luftschutzwart neugierig.

„Herr Rehfisch.“

„Unerhört!“, brauste Dr. Schunck auf.

Auch seine Frau empörte sich, als habe man es mit einem Verfemten zu tun:

„Was fällt dem überhaupt ein!“

„Haben Sie ihn denn nicht reinkommen sehen?“, wunderte sich Schmeer.

Der Studienrat schüttelte den Kopf. “Wir nicht – meine Frau und ich.“

„Ich auch nicht“, versicherte die Hausmeisterin, „sonst hätte ich ihm längst gesagt, wo er hingehört.“

„Sitzen Sie vielleicht schon die ganze Nacht hier?“, fragte der Luftschutzwart den Mann streng, als handle es sich um ein Verhör.

„Ja“, klang es leise, „ich habe so ein unangenehmes Gefühl gehabt, dass heute was passiert. Und deshalb dachte ich, weil die Front doch so nahe ist und die Amerikaner jede Stunde hier sein können, da -“

„Was“, fiel ihm die Hausmeisterin, die nun auch hinzugetreten war, erregt ins Wort, „Sie zweifeln an unserem Endsieg?“

„Wer so spricht, ist ein Verräter!“

Die Stimme des Studienrats klang so schneidend und verurteilend wie die eines Parteiredners.

Rehfisch zuckte zusammen. „Entschuldigen Sie bitte, so habe ich das nicht gemeint. Ich denke nur, die Tatsachen, die -“

„Ich habe Ihnen ausdrücklich verboten, den Luftschutzkeller zu betreten“, unterbrach ihn Schmeer schroff.

Die Hausmeisterin nutzte die Gelegenheit, sich aufzuspielen. Sie hatte diesen Leisetreter noch nie ausstehen können. Hass und dümmlicher Dünkel spiegelten sich in ihren Zügen, als sie Rehfisch zurechtstauchte:

„Juden sind hier unerwünscht!“

„Ich bin kein Jude.“

„Aber Ihre Frau.“

„Ich bin geschieden.“

„Ja“, fiel der Studienrat ein, „seit vier Monaten, als Sie es mit der Angst zu tun kriegten. Aber gesinnungsmäßig sind Sie immer noch ein Judenknecht, und die Hausgemeinschaft will nicht mit Ihnen in einem Raum zusammenleben.“

Niemandem schien aufzufallen, wie dumm und lächerlich das Wort vom „Judenknecht“ klang, jahrelange Propaganda und Verhetzung zeigten ihre Wirkung.

„Dass der überhaupt noch hier im Haus wohnen darf!“, ereiferte sich Hausmeisterin.

„Nicht mehr lange“, erklärte Schmeer, „dafür sorge ich schon.“

Dr. Schunck nickte entschlossen. „Meine volle Unterstützung haben Sie!“

„Ich habe Ihnen doch nichts getan, Herr Dr. Schunck, keinem Menschen etwas. Was wollen Sie eigentlich von mir?“

“Das fragen Sie noch?“, trumpfte der Luftschutzwart auf. „Allein schon vorhin Ihre Bemerkung über die Amerikaner – das ist Verrat.“

„Aber ich habe doch nur -“

„Wir alle stehen unseren Mann, wenn der Feind es wagen sollte, unsere Stadt anzugreifen.“

„Sehr richtig!“, pflichtete Dr. Schunck dem Luftschutzwart bei.

„Und da können wir Gesinnungslumpen wie Sie nicht brauchen, Herr Rehfisch.“

Seit langem schon war Rehfisch ein gebrochener Mann, immer in Angst, seine jüdische Frau zu verlieren, von der er sich so viele Jahre hindurch nicht getrennt hatte – trotz aller Schikane und Drohungen. Erst vor vier Monaten hatte sie ihn selbst dazu gedrängt, in die Scheidung einzuwilligen, um wenigstens sein Leben nicht zu gefährden. Denn mit dem Näherrücken der Front war die Gestapo dazu übergegangen, auch sogenannte Mischehen in die Konzentrationslager zu deportieren.

„Ich bin ja nur ein alter Mann“, sagte er leise, „und deshalb glauben Sie, mit mir alles machen zu können.“

„Verschwinden Sie endlich“, schnauzte Schmeer ihn an, „und nehmen Sie Ihr Gepäck mit!“

Mühsam und schleppend hatte sich Rehfisch erhoben. Er war es leid, noch länger zu kämpfen, die Kraft fehlte ihm und der Wille dazu. Mit zitternder Hand griff er nach dem Koffer, in dem er auch ein Kleid für seine Frau eingepackt hatte, obwohl sie nicht mehr bei ihm war, und ein Foto von ihr, damals auf der Hochzeitsreise.

Beklommen hatte Frau Pilgram die Erniedrigung des alten Mannes miterlebt.

„Nun sag du doch mal was, Franz“, flüsterte sie voll Mitgefühl ihrem Mann zu.

„Was soll ich denn dazu sagen?“

„Uns stört er doch nicht hier.“

Schweigend wich er dem auffordernden Blick seiner Frau aus, Unbehagen beschlich ihn. Gebot nicht die christliche Nächstenliebe, dem Mitmenschen zu helfen?

„Ich bin ein guter Katholik“, dachte er voll überzeugt, „der all seinen Pflichten peinlich nachkommt, wie die Kirche sie vorschreibt. Aber für einen Mann einstehen, der seine Frau verraten hat und davor unseren Herrgott, als er aus der Kirche ausgetreten war, nur um seinen Posten zu behalten – nein, das kann nie und nimmer meine Aufgabe sein. Gott wird wissen, was er tut… Und was ist schon dabei, wenn der Mann den Luftschutzkeller verlassen muss? Kann eine Bombe uns nicht auch hier unten töten, wenn Gott es so beschlossen hat…?“

Es war ja so bequem, alles auf den unergründlichen Ratschluss Gottes zu schieben, und Herr Pilgram, seit langem Rentner, war nicht mehr jung genug, den unbequemen Weg zu gehen. Erst als Rehfisch die Eisentür des Schutzraums hinter sich geschlossen hatte, wandte Pilgram den Blick wieder seiner Frau zu. Sie sprachen kein Wort mehr, die Sache hatte ihren Lauf genommen.

Wolfsnacht

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