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Die Übergangsperiode

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Es war weniger als ein Jahr später, als das Anlegemanöver mit der neuen, schwarzen Besatzung konkrete Formen annahm und mit den Blauhelmen, der multinational zusammengesetzten Beobachtertruppe den Anfang machte beziehungsweise eingeleitet wurde, wie es die UN-Resolution 435 vorsah. Da rief der Superintendent an einem Dienstagmorgen gegen elf Dr. Ferdinand aus dem Op, um in sein Büro zu kommen. Dort machte der Superintendent ihn mit zwei anders uniformierten Militärs bekannt, von denen einer ein Schweizer im Range eines Hauptmanns und der andere, etwas ältere, ein Malaysier im Range eines Majors war. Dr. Ferdinand machte grosse Augen, grösser als die andern ihre Augen gross machen konnten, weil er nun mit den eigenen Augen sah, dass das Anlegemanöver in Gang kam. Die beiden Offiziere, von denen der Jüngere Chirurg, der Ältere Orthopäde war, erklärten ihren Auftrag und ihre Bedürfnisse im Falle von Verletzten. Da gab es rasches Einvernehmen auf der Basis der Gegenseitigkeit, dass Dr. Ferdinand im Ernstfall für Operationen zur Verfügung stehe. Der Superintendent stellte der medizinischen Abteilung der Schweizer Blauhelme den neu errichteten, psychiatrischen Saal zur Verfügung. Die Malaysier richteten sich in einem Militärcamp ein, das vom südafrikanischen Militär noch zu räumen war, jenem, aus dem die Fünferkolonne der 'Elands' mit den langen Rohren zur abendlichen Patrouille ausrückten. Das Gespräch wurde in gelöster Atmosphäre, ja mit Erleichterung von der Hospitalseite geführt, weil da an die lang ersehnte Zerschlagung des gordischen Apartheidknotens mit all seinen Fesseln gedacht wurde. Für Dr. Ferdinand strahlten die beiden Militärs mit den zusammengeklappten Blaumützen unter der rechten Epaulette nicht nur Intelligenz, sondern auch Menschlichkeit aus, was für ihn die Zusammenarbeit willkommen hiess. Die Unterredung nahm einen guten, fast freundschaftlichen Ausgang, und Dr. Ferdinand nahm sich vor, mit diesen Menschen der Friedenstruppe in Kontakt zu bleiben, weil er sich mit ihnen Gespräche erhoffte, an denen es ihm seit Jahren fehlte. Er ging mit neuen Erkenntnissen in den Op zurück, um den zertrümmerten Oberschenkel bei einem jungen Mann zu verplatten, den ein 'Casspir' der Koevoettruppe auf dem Felde verfolgt, gerammt und umgestossen hatte.

Mit dem Auftreten der UNTAG (United Nations Transition Assistance Group) war der Geist des Wandels spürbar. Die Menschen begriffen, dass das Kommandoschiff der weissen Apartheid so gut wie gesunken war, und hofften, dass so ein Schiff nie wieder auftauchen würde. Die südafrikanische Armee begann mit ihrem Abzug. Gepanzerte Kampfwagen (die zweiachsigen 'Elands' mit den langen Rohren und dreiachsigen 'Ratels' mit den kurzen Rohren) fuhren mit angehängten Lafetten der schweren Artillerie und Haubitzen in langen Kolonnen die Teerstrasse nach Osten, befuhren letztmalig den zweihundertachtzig Kilometer langen Teil der über fünfhundert Kilometer langen, strategisch bedeutsamen West-Ost-Achse, die im spitzen Winkel die angolanische Grenze im Westen an den Ruacana-Wasserfällen schnitt, fuhren nördlich am Etosha-Naionalpark vorbei, bis sie die Minenstadt Tsumeb erreichten, wo sie auf Waggons für den Rücktransport nach Südafrika verladen wurden. Mit dem Abzug des Militärs verliessen auch andere Weisse, die in der Verwaltung tätig waren, mit ihren Familien das Dorf, um nach Windhoek, nach Swakopmund an der Küste oder in den Süden des Landes zu ziehen, wo das Leben für die Weissen immer schon bequemer war. Die leerstehenden Häuser zeigten das Vakuum an, das diese Periode mit dem Abgang des Alten und dem Anlegemanöver des Neuen begleitete. Mit der Entfernung der MGs von den Wassertürmen hatte auch die Kontrolle der Fahrzeuge und Passanten an den beiden Dorfeingängen aufgehört. Die Schilder mit der Aufschrift 'For Whites Only' waren über Nacht bedeutungslos geworden. Sie standen neben den verwaisten Kontrollhäuschen als Relikte von gestern. Die Sperrschranken waren abmontiert, und die einbetonierten Ständer steckten sinnlos im Boden. Die ausgemauerte Grube mit den quer befestigten, stählernen Rundstäben zur Unterwagenkontrolle war leer. Sie würde der Wind mit der Zeit mit Sand füllen. Die Sperrstunde von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang wurde ausser Kraft gesetzt. Die schwarzen Menschen erhielten eine Bewegungsfreiheit, die sie nicht kannten, was den freien Zugang zum Dorf der Weissen einschloss. Von dieser Freiheit machten die Schwarzen Gebrauch. Es gingen täglich mehr durch die Strassen des Dorfes besonders dann, wenn die verbliebenen Weissen bei der Arbeit waren. Da setzte schlagartig mit dem Beginn der Übergangsperiode auch das Stehlen ein. Verschlossene Türen wurden aufgebrochen, ganz gebliebene Fenster wurden eingeschlagen, die restlichen Tische, Stühle, Bettgestelle, die letzten Eisschränke, Waschmaschinen, Kleiderbügel, und was sonst noch zu nehmen war, wurde davongetragen und weggekarrt. Die Plünderei ging bis zum Herausbrechen von Wasserhähnen, Deckenlampen, Steckdosen und Gardinenstangen, die Demolierung bis zur Zerschlagung von Türen, Fenstern, Waschbecken und Toilettenschüsseln. Das Vakuum des Übergangs brachte über Nacht ein neues Phänomen, mit dem eigentlich keiner gerechnet hatte, weil alle auf eine bessere Zukunft in Freiheit hofften, und die wenigen Weissen, die noch verblieben waren, mit dieser Hoffnung für die Schwarzen an den schwarzen Menschen im Hospital und in den Schulen arbeiteten.

Da blieb auch Dr. Ferdinand nicht verschont, bei dem mehrere Male eingebrochen, die Brille, Armbanduhr, die besseren Kleidungsstücke und das Radio gestohlen, die Wohnstelle bei der Suche nach Geld auf den Kopf gestellt wurde, wenn er die Schwarzen im 'theatre 2' operierte. Das Bild von den schwarzen Menschen erlitt schweren Schaden, weil es sich nun früh zeigte, dass sie so gut nicht waren, wie er sie all die Jahre sah. Da wurde die Zuneigung getrübt, das Vertrauen, das er ihnen schenkte, bekam einen Knacks, von dem es sich nie mehr erholte. Er war naiv, als er annahm, dass die Schwarzen jene Weissen verstünden und achteten, als ihresgleichen betrachteten, die es in den schlechten Jahren mit ihnen ausgehalten und an ihnen unter den miserablen Umständen mit dem Schweiss auf der Stirn und den verschwitzten Hemden gearbeitet hatten. Dass das Stehlen ein Früh-, ja ein Erstphänomen des Übergangs war, das machte ihn traurig. Er musste sein Zukunftsbild nach unten revidieren, wo es so etwas wie einen Rosengarten über den Gräbern der Toten ohne Begräbnis (Sartre) nicht mehr gab. Da brauchte er das Bild der Kinder mit den grossen Augen und den Wasserbäuchen auf den stelzigen Stockbeinen und jene mit den abgeschnittenen Armen und Beinen, um sich an ihnen aufzurichten. An diesen Kindern, die für all das nichts konnten und von jeher dastanden und vergebens hofften, hielt er sich fest, weil er sie liebte, wenn er ins Hospital ging, um an den Menschen zu arbeiten. Sicher waren die Schwarzen auch Menschen, die ihre Fehler hatten. Dass sie aber die Fehler so früh und ungerecht in die Tat umsetzten, das brach ein grosses Stück ihrer Würde und Glaubwürdigkeit weg.

Dieses ausgebrochene Stück war nicht mehr aufzukleben, so wie man einen zerbrochenen Krug nicht mehr zu seiner ungebrochenen Ganzheit zusammenkleben kann. Es war etwas in Bruch gegangen, was nicht hätte zerbrechen dürfen: das Vertrauen. Von dieser Bruchlinie aus, die da gleich zu Beginn der Übergangsphase über den Weg zog, verdunkelte sich auch das Licht, das über den Weg in die Zukunft leuchten sollte, dem soviel Hoffnung, soviel Herzensvorschuss gegeben wurde. Der Weg behielt seine Stolpersteine, wenn es auch andere waren, die nun von den Schwarzen gelegt wurden. Das tat der Grösse der Freiheit Abbruch, weil sie nun von schwarzen Menschen gleich zu Anfang zur Stehlerei missbraucht, durch neues Unrecht geschändet und beschmutzt wurde. Die Höhe im Denken und in der Erwartung der Freiheit wurde durch die kriminellen Ausschweifungen erheblich erniedrigt und geschmälert. La liberté sans responsabilité est réduit au libertinage. (Das in französisch, weil sich im Wort 'libertinage', das für Ausschweifungen steht, sich das Wort 'liberté' für Freiheit verklemmt.)

Die Weissen beklagten die zunehmende Stehlerei, so auch in den Morgenbesprechungen. Der Superintendent machte ein betroffenes Gesicht, weil er es nicht glauben wollte, dass es nun seine Leute sind, die da entgleisen liessen, was nicht entgleisen durfte, wenn die Ärzte und Apotheker, Hans, der Physiotherapeut, und die Sozialarbeiter im Hospital ihrer Arbeit nachgingen. Er setzte sich mit der Polizei in Verbindung, die es bei Versprechungen beliess, für Ordnung zu sorgen, und der Unordnung mit den Diebstählen tatenlos zusah. Die nächtlichen Raubüberfälle und Einbrüche häuften sich, dass sich die Weissen in Ermangelung einer wirksamen Polizei zum Selbstschutz zusammentaten und nächtliche Patrouillen auf Privatfahrzeugen mit lichtstarken Lampen und Schusswaffen fuhren, um dieser frühen Kriminalität Einhalt zu gebieten. Es half für die Nacht, dafür wurde am Tage mehr eingebrochen. Die Arbeit am Hospital musste weitergehen, sie ging weiter, wenn auch mit dem Hintergedanken, dass da in den Häusern eingebrochen wurde, während sie im Schweisse des Angesichts die Patienten untersuchten und operierten. Da schluckte die schwarze Frühkriminalität einen beachtlichen Teil der Konzentration weg, die eigentlich den kranken Menschen gehörte. Es lag ein schwarzes, asoziales Verhalten vor, das durch die Gemeinheit der Diebstähle sich gegen die eigenen Menschen richtete. So offenbarte die erste Phase der Übergangsperiode die erste neue Unordnung, die nicht in Ordnung zu bringen war, es sei denn, die Sperrschranken würden wieder errichtet, Fahrzeug- und Personalkontrollen wieder eingeführt. Aber gerade das sollte mit dem Versinken der weissen Apartheid ein für alle Mal überwunden sein. Die andere Alternative war die stählerne Vergitterung der Fenster und Türen. Doch dazu fehlte das Geld wie das Material. So blieben die Reinigungs- und Bügelfrauen in den Häusern und die Männer in den Vor- und Hintergärten übrig, denen man vertrauen musste, weil man ihnen vor Eintritt der ersten Phase des Übergangs auch vertraut hatte. Das ging leider nicht immer gut, weil es da Fälle der ungezogenen Zusammenarbeit mit den Dieben gab, denen sie den günstigsten Zeitpunkt zum Stehlen gaben, die es dann so taten, ohne dass Türen aufgebrochen und Fenster eingeschlagen wurden. Nach dieser tür- und fensterschonenden Ausräumung von Radios plus Tonbändern, Fotoapparaten, Uhren, Brillen, Sonnenbrillen, Schmuck mitsamt Kassetten, den weniger getragenen Schuhen, besseren Kleidungsstücken bis zur Bettwäsche und den Handtüchern und manchmal unter Mitnahme erheblicher Bargeldbeträge, oder von Ersatzrädern, Fahrrädern und gefüllten Benzinkanistern aus den Garagen kamen dann auch meist die Haushilfe oder der Gärtner oder beide am nächsten Morgen nicht zurück. Sie blieben verschwunden, oft mit dem Essbarem aus den Kühlschränken und Kühltruhen, die sie da gleich mit ausgeräumt hatten. In einigen Fällen wurden leere Bier- und Whiskyflaschen zurückgelassen. Die Diebe waren nicht zu fassen, weil keiner wusste und wissen wollte, wo sie wohnten oder waren. Die Kriminellen zogen sich auf die natürlichste Weise in neue Startlöcher zurück, ohne dass man sie zur Rechenschaft ziehen konnte. Nach grösseren Ausräumungen liessen sie sich dann im Dorfe für eine längere Zeit nicht blicken. Das war die Situation, kurz nachdem die UNTAG kam, um den friedlichen Übergang von der weissen Apartheid in ein freies, rechtschaffenes und demokratisches Namibia zu überwachen, gemäss der UN-Resolution 435. Gleich am Anfang war es nicht so gut, weil da Dinge durcheinanderkamen, die eigentlich in Ordnung sein sollten.

In dieser Phase des Übergangs, in der es eine Verwalzung, ein Plattdrücken des Alten gab, und eine Umwälzung, wie es der Pflug im Ackerboden tut, anzumerken war, bekam das Dorf unweit der angolanischen Grenze, das all die Jahre wie am Ende der Welt lag, eine neue Bedeutung. So wurde Oshakati mit dem 'International Guesthouse' eine wichtige Durchgangsstation, eine Art Umsteigebahnhof, wo Menschen der weissen Hautfarbe, die ausgeschlafen und Frühaufsteher waren, mit dem Auto aus dem südlichen Windhoek kamen, Dr. Ferdinand in seiner engen Wohnstelle einen Besuch abstatteten, ihn zum Abendessen im besagten Gästehaus des Internationalen einluden, oder nicht, und dabei Erkundigungen über die augenblickliche Lage einzogen. Mit den neuesten Kenntnissen vor Ort flogen sie am nächsten Morgen von Ondangwa nach Lubango im Süden Angolas weiter, um die ersten Kontakte mit den Menschen zu knüpfen, die "morgen" die Macht zu übernehmen gedachten. Da kam das Nordphänomen auf, das das Südphänomen mit dem Blick nach Pretoria oder dem pretorianischen Blick ablöste, wo das Dorf im Norden Eigenschaften eines Magneten bekam, das magisch Menschen aus dem Süden, hauptsächlich Windhoek, bis an die angolanische Grenze anzog. Sie alle waren vom Bedürfnis beseelt, den Übergang nicht nur gut zu überstehen, sondern auch "morgen" mit einer guten Position bei guter Bezahlung dabei zu sein, wenn die neue Mannschaft nach den Hebeln der Macht griff. Da galt, wenn es um die Macht und die nächstliegenden Posten ging, die in Sichtweite zur Macht waren, oder von denen aus durch das Fenster, das da jedesmal weit geöffnet wurde, die entsprechenden Hebel zu sehen waren, wenn man sie nicht selbst anfassen durfte, da galt noch immer das Prinzip: 'first come first served' (wer zuerst kommt, wird zuerst bedient). Da stellten sich jene mit den höheren Ambitionen frühzeitig in die Schlange, die vom Typ her ‘elastisch’ waren und die unterschiedlichsten Systeme für den eigenen Vorteil spielend in Kauf nahmen, als wäre es nicht mehr als ein Hemd- und Hosenwechsel. Da waren es wieder die Frühaufsteher, die als erste kamen, um mit veränderter Gesichtsmaske und veränderten Papieren sich ans Neue anzulehnen und ohne Hosenträger und mit offenem Hemd sich anzuschmiegen. Sie hatten ihren Schreibtisch mit der polierten Platte und den anderen Annehmlichkeiten in den höheren Etagen fest vor Augen. Da sollte es beim Status bleiben, egal, mit welcher Farbe sich das System politisch umhing.

Die Statusleute wollten auch diesmal wieder als erste bedient sein. Dafür waren sie früh aufgestanden und nahmen die Reisestrapaze in Kauf, um bis vor die angolanische Grenze zu fahren, wo das Dorf über all die Jahre von der Welt verlassen war. Nicht dass es aus dem Dornröschenschlaf geweckt wurde, dafür war der Krieg zu wild, das Elend zu gross, die Toten ohne Begräbnis (Sartre) zu viel, aber es bekam über Nacht mit dem Eintreffen der UNTAG eine Bedeutung, die die Menschen mit den unterschiedlichen Absichten überraschte. Das Dorf wurde politisch verkehrmässig zu einem Knotenpunkt, wo geknüpft und umgestiegen wurde. Von da gingen nun die Blicke nach Norden weit über die Grenze hinaus, wo die weiter südlich positionierten und einst pretorianisch ausgerichteten Frühaufsteher bereits in Halbachtstellung auf den neuen politischen Sonnenaufgang warteten, ihn eigentlich gar nicht früh genug erwarten konnten. Da gab es jene, denen man es nicht zugetraut hatte, die da bereits in aller Herrgottsfrühe dastanden und warteten, nach Norden schielten, vom Süden nicht mehr sprachen, sich auf die Ankunft der neuen Mannschaft eingestellt hatten und schon das neue Fähnchen zum Winken in der Hand hielten, auch wenn es aus taktischen Gründen noch zusammengerollt war. Was während der Apartheid Pretoria im Süden war, das wurde nun das Dorf Oshakati im Norden, als würde hier die schwarze Mannschaft anlegen, sich als Gladiatoren der Freiheit auf dem Platz vor dem 'International Guesthouse' aufstellen und mit Pauken und Trompeten feiern lassen.

Da wurden die Stühle mit den Schreibtischen umgestellt, um einhundertachtzig Grad gedreht und vor die Nordfenster gerückt, die weit geöffnet wurden, um den Apartheidsmief rauszukriegen und über die Schreibtischplatten den frischen Nordwind wehen und ziehen zu lassen. Es wurde sich nördlich umorientiert, so gut und so schnell es sich machen liess. Damit war für jene Aufsteher der Süden über Nacht abgehakt, bevor die andern kamen, die es ihnen nachmachten, aber den pretorianischen Südblick später aus ihrem Gesicht wischten und sich deshalb, nördlich gesehen, in der Schlange weiter hinten anzustellen hatten. Da stellten sich nun die Weissen in der Reihe an, die von den oberen Etagen vorn, die von den unteren Etagen hinten, wo die Auslese nun schwarz vorgenommen, sie schwarz getroffen wurde. Das Umsteigen im Dorf vom Auto von Windhoek ins Flugzeug nach Lubango zur frühen Kontaktaufnahme mit den zur Macht Greifenden in spe hatte sich für einige gelohnt, ihnen wurde das frühe Aufstehen mit den Reisestrapazen gut vergolten. So schaffte es einer, der mit seiner Frau Dr. Ferdinand in seiner kleinen Wohnstelle besuchte und ihn in ein stundenlanges Gespräch zur Förderung von Informationen über die Lage vor Ort verwickelte, nach vollzogenem Machtwechsel auf den Stuhl eines Ministerstellvertreters.

Die Schwarz-Intellektuellen nahmen das mit der künftigen Postenverteilung aufgrund des Melanozytenreichtums in der Haut gelassener. Sie rechneten sich gleich zu Anfang die besseren Chancen aus. Wenn auch die Bildung sich in den Grenzen des Durchschnittlichen hielt, so kam doch die nötige Einbildung mit der Portion überproportionaler Selbstsicherheit dazu, was beides oft nicht balanciert war, um sich schon auf einem Stuhl in der oberen Etage mit geräuschloser Klimaanlage und Sekretärin, dem hoch dotiertem Gehalt und den Extra-Zulagen, den vielen Annehmlichkeiten und Vergünstigungen sitzen zu sehen. Bei einem sah Dr. Ferdinand die Brust schon schwellen, obwohl es soweit mit dem Stuhl noch gar nicht war. Der kümmerte sich weniger um die Patienten als mehr um sich, fuhr schon auf Kosten der weissen Administration zu "Kongressen" in der Weltgeschichte rum und sorgte dafür, dass sein Name auf die Liste der schwarzen Kandidaten kam, wenn es um die Verteilung der Posten auf Regierungshöhe und darunter ging. Der andere, der die Patienten mehr im Auge behielt, liess sich im Status dadurch aufstocken, dass er sich von der noch weiss geführten 'Academy' den Titel eines Professors umhängen liess, obwohl er weder in Lehre noch Forschung tätig war und auch kein 'Paper' in irgendeiner wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht hatte. Da meinte es die 'Academy' gut mit dem ersten schwarzen Professor, deren weiss geführte Gesundheitsfakultät sich etwas dabei gedacht haben musste, wie am besten der Übergang von weiss nach schwarz zu überbrücken ist, wo das Weisse bei der akademischen Postenverteilung unter einem schwarzen Regime nicht vergessen werden sollte. Akademische Verdienste waren dafür nicht erforderlich, als zwischen den Hautfarben mit dem Blick nach vorne jongliert wurde. Da ging es um mehr. Es ging ums Überleben der Weissen in eine schwarze Zukunft hinein. Das wurde vor Toresschluss begriffen und mit pseudoakademischen Weichmitteln hantiert. Man wollte gut sein gegen alle und vergessen machen, dass man so gut gar nicht war.

Das Curriculum musste aufgebessert werden. So wurden Schadstellen geschwärzt, die weisse Geschichte, mit der die Persönlichkeit in der Apartheid gut gefahren war und es dabei zu etwas gebracht hatte, wurde ins Belanglose runtergeschraubt. Ein weicher Übergang ins neue Kapitel der schwarzen Gegenwartskunde und ihrer Geschichtsschreibung musste nahtlos gefunden werden, ohne dass es vorher zu einem Absturz kam. Die akademischen Meriten hielten sich im Allgemeinen ohnehin in bescheidenen Grenzen, wo ein Professor bei der Ausbildung in der Krankenpflege sich auf dem Niveau eines Studienrates bewegte, es eine eigene Forschung mit eigenen Publikationen nicht gab. Das alles war auch nicht so wichtig wie die eigene Haut, die es in die schwarze Welt hinüberzuretten galt. Man konnte und wollte sich weder allgemein noch akademisch vorstellen, dass mit dem Untergang des weissen Regimes die Weissen das Weniger- und die Schwarzen das Mehrsagen hätten. Da wollte man sich noch rechtzeitig in die Erinnerung rufen. Opportunismus hin, Opportunismus her, es war schwer auf den Vorrechtsstatus und das gute Leben im pretorianischen System zu verzichten.

Zu den Leuten der UNTAG entwickelte sich ein gutes Verhältnis, das von gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragen wurde. Die Schweizer hatten ihre medizinische Abteilung im Neubau, der für die Psychiatrie vorgesehen war, mit europäischem Standard eingerichtet. Dort war eine kleine Klinik mit fünf Betten, über denen Moskitonetze hingen, mit allem Drum und Dran, die in ihrer Sauberkeit und Ordnung, die schweizerisch waren, vom übrigen Hospital in seinem runtergekommenen Zustand nicht krasser abstechen konnte. Dort gab es drei Ärzte, den Allgemeinarzt, den Chirurgen und den Anästhesisten. Dazu kam der Zahnarzt mit eigenem, voll eingerichtetem Behandlungsraum. Die Schwestern hatten ihre Diplome und Erfahrungen. Da war ein Bildungsstandard, von dem man in Afrika noch träumte. Geleitet wurde die Abteilung von einem Major, der intelligent und freundlich war und die Übersicht hatte. Es gab Fälle, für die sie Dr. Ferdinand riefen, der einige ihrer Patienten operierte, wobei ihm der Schweizer Chirurg assistierte und der Anästhesist die Narkose gab. Da waren Oberarmbrüche, die verplattet, Brüche an Unterarmen, Handgelenken und Unterschenkeln, die gerichtet und eingegipst wurden. Es wurden einige Appendektomien und ein Leistenbruch operiert, die die Schweizer überwiesen. Die Schweizer Gipsbinden waren von hervorragender Qualität und den afrikanischen weit überlegen. Sie brachten mit dünnen Lagen die nötige Festigkeit, für die mit den Gipsbinden des Hospitals dick aufgetragen werden musste. Es entstand eine Freundschaft zu den Kollegen der UNTAG. Man sprach viel und diskutierte miteinander. Man sah der Armut der Menschen gleichermassen ins Gesicht und versuchte, an das Gute im Menschen zu glauben, dem die Einbrüche und Stehlereien im Dorfe grossen Schaden zufügten. Da meinte der malaysische Kollege, dass es Diebstähle auch in seinem Land gäbe, sie hier als ein Übergang in Kauf genommen werden müssten, was die Schweizer Kollegen anders sahen, weil die sich an Diebstähle in der Schweiz nicht erinnerten. Sie meinten, dass das Ausmass der Plünderung und Demolierung, wie sie das Dorf befiel, mit Armut wenig und mit der Freiheit, die am Ende des Übergangs stehen soll, nichts zu tun hat. Das sagten sie, ohne deshalb ihre Schweizer Sonnenbrillen aufzusetzen, weil sie sich sicher waren, dass da noch ein Manko im Verständnis der Zivilisation zurückgeblieben war. Denn das hatten sie in anderen afrikanischen Ländern gesehen, die längst unabhängig waren, dass da die Menschen wie Raben stahlen und mit guten Zureden und milden Strafen nicht vom Stehlen abzubringen waren.

"Dann haben wir ja schlechte Aussichten", meinte Dr. Ferdinand. Die Schweizer verwiesen auf das korrupte Verhalten afrikanischer Präsidenten, die zu den reichsten Männern der Welt zählten, während ihre Völker zu den ärmsten gehörten, die sich nicht ernähren können. Sie erwähnten die Vetternwirtschaft in den Regierungen und die Skrupellosigkeit bei ihrer Selbstbereicherung. "Erst wenn die Politiker und Präsidenten von der Korruption ablassen und das Vorbild der Rechtschaffenheit und Sauberkeit geben, kann die Armut verringert und die Kriminalität ernsthaft und mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden." Sie setzten die Sonnenbrille auf, als sie sagten, dass da Namibia keine Ausnahme machen werde, wenn erstmal die Schwarzen an der Macht sind. So sprachen die Menschen der UN-Friedenstruppe, die den Kontinent besser kannten als Dr. Ferdinand, der sich bei der pessimistischen Bemerkung eine Pontonbrücke über den breiten Sambesi vor Augen hielt, an der die Flachkähne bereits unter Wasser standen, bevor die Menschen das Ufer der Freiheit erreichten. "Die Menschen müssen ehrlich werden, dann begreifen sie auch, dass man mit der Hände Arbeit viel erreichen kann, wenn die Hände die Armut mit den Wurzeln ausrotten, Mais- und Getreidefelder bauen, sich bei der Arbeit gegenseitig achten und unterstützen, als auf den Tag zu warten, der niemals kommt.".Das sagte der Schweizer Anästhesist, und bei Dr. Ferdinand klingelte das Brecht'sche Wort vom 'Sanktnimmerleinstag' im ‘guten Menschen von Sezuan’ im Ohr.


Der Weg nach Afrika - Teil4

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