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Kristofina, das Mädchen, das vom Blitz getroffen wurde
ОглавлениеDr. Ferdinand war auf dem Wege des Einschlafens, als er sein Bewusstsein sinken liess und die ersten Schwimmschritte des Abtauchens hinter sich hatte, dass das Telefon gegen drei Uhr morgens klingelte, was mit seinem Nachtdienst die Richtigkeit hatte. Die Schwester teilte ihm mit, dass ein Mädchen zum Hospital gebracht worden war, das vom Blitzschlag getroffen wurde. Er zog sich Hemd und kurze Hose an und ging die siebenhundert Meter zu Fuss, da es kein Auto für den Nachtdienst gab, ihn zum Hospital zu fahren. Dr. Ferdinand ging in der totalen Finsternis durch Matsch und Pfützen der aufgeweichten Sandstrasse, hielt sich in der Strassenmitte, so gut er konnte, passierte unter der unbeschirmten Strassenlampe mit einer Birne der niedrigen Wattzahl den schwach erleuchteten Kontrollpunkt, zeigte sein 'Permit' und ging weiter in der Strassenmitte. Ein Auto kam nicht, um ihm den Weg mit seinen Pfützen auszuleuchten, in die er weiter trat und völlig vermatscht am Hospital ankam. Er liess den rechten Torflügel der Einfahrt offen und überquerte den Vorplatz des gemilderten Uringeruchs. Dabei kam er nicht umhin, durch den tiefen Matsch und viele Pfützen zu waten, dass er völlig verdreckt die Tür zum 'Outpatient department' erreichte. Noch draussen vor der Rezeption wusch sich Dr. Ferdinand bei kläglicher Beleuchtung den Schmutz von den Beinen, hielt die Sandalen unter den Wasserhahn und ging tropfend mit quatschendem Sumpfton der aufgeweichten Korksohlen in die Wartehalle.
Die diensttuenden Nachtschwestern machten grosse Augen, als sie ihn kommen sahen, verloren aber kein Wort zur unzumutbaren Besonderheit, den Weg zu Fuss durch Matsch und Finsernis gemacht zu haben. Dr. Ferdinand sah das vierzehnjährige Mädchen, das mit einer Lake zugedeckt auf der Trage lag und vor Schmerzen stöhnte. Er sah dem Mädchen in das blasse Gesicht, das die Schwere, vom Blitz getroffen zu sein, sprachlos und stärker als alle Worte ausdrückte. Er hob und zog die Lake vorsichtig von oben nach unten und erschrak, als er das angekohlte rechte Schienbein sah, dessen vorderer Weichteilmantel der Blitz unterhalb des Knies bis zum Fussgelenk weggeschmort hatte. Weitere Verbrennungswunden der geringeren Tiefe fanden sich im Gesicht, am anderen Bein und dem linken Ober- und Unterarm. Die Schockbekämpfung hatte gleich begonnen, als das Mädchen gebracht worden war und die erfahrene Schwester die schnell tropfende Infusion an eine Vene in der rechten Ellenbeuge angeschlossen hatte.
Dem schmerzgeplagten Mädchen stand der Tod schon auf dem Gesicht, als es zur Intensivstation zur weiteren Überwachung und Schmerzbehandlung gebracht wurde. Dort nahm das Mädchen den Fensterplatz im ersten Zweitbettzimmer ein, wo ein alter Bügel aus vier verbogenen Stangen über den mit sterilem Verband abgedeckten Unterschenkel gestellt wurde, um die Berührung des Betttuches mit der grossen Wunde des Unterschenkel zu vermeiden. Im Falle des Überlebens war es unvermeidlich, dem Mädchen das rechte Bein abzunehmen, da eine Wiederherstellung des Unterschenkels bei fehlendem Weichteilgewebe und dem verkohlten Schienbein nicht mehr möglich war.
Dr. Ferdinand setzte sich auf einen Schemel neben das Bett, kontrollierte Blutdruck und Puls alle Viertelstunde und trug die Werte auf dem Überwachungsbogen ein. Er hatte in seiner Laufbahn nur Menschen auf dem Sektionstisch der Pathologie gesehen, die der Blitz gleich totgeschlagen hatte. Dass ein Mensch den Schlag der höchsten elektrischen Spannung überlebte, das wunderte ihn ebenso wie das Ausmass der Verbrennung. Das Mädchen war in einem kritischen Zustand, da auch innere Organe betroffen sein mussten. Dr. Ferdinand hatte seine Bedenken bezüglich des Überlebens. Er liess sich das alte EKG-Gerät bringen, schloss die Elektroden über dem Brustkorb an und verfolgte die Ausschläge des Oszillographen in den Standardableitungen der Herzaktionen. Die Herztätigkeit war beschleunigt (Tachykardie) mit Unregelmässigkeiten durch Extrasystolen. Der Tachykardie entsprach der rasche Pulsschlag und die wiederkehrenden Extrasystolen, die über den Schlagadern an der Beugeseite der Handgelenke zu tasten waren.
Die Schmerzmittel wirkten, so dass das Mädchen die Ruhe fand und die Augen schloss. Es war Sonntagmorgen kurz vor fünf. Dr. Ferdinand machte sich auf den Rückweg, um sich noch einmal hinzulegen. Kristofina war der Name des Mädchens. Er hielt es in seinen Gedanken fest, als er das Buch der Preisungen aufschlug und den fünften Psalm in der Verdeutschung des Humanisten und jüdischen Philosophen Martin Buber zu lesen begann: "Meinen Sprüchen lausche, DU,/ achte auf mein Seufzen,/ merk auf die Stimme meines Stöhnens,/ o mein König und mein Gott,/ denn zu dir bete ich./ DU,/ morgens hörst du meine Stimme,/ morgens rüste ich dir zu,/ und ich spähe.// Denn nicht bist du eine Gottheit,/ die Lust hat am Frevel,/ ein Böser darf nicht bei dir gasten,/ Prahler sich dir vor die Augen nicht stellen,/ die Argwirkenden hassest du alle,/ die Täuschungsredner lässest du schwinden. –/ Ein Greuel ist DIR der Mann von Bluttat und Trug."
Dr. Ferdinand spürte, wie sich das Mädchen im Schmerz der Todesqual krümmte, und las ihr zum Trost den sechsten Psalm dazu: "DU,/ nimmer strafe in deinem Zorn mich,/ nimmer züchtige in deiner Glut mich!/ Leih Gunst mir, DU,/ denn ich bin erschlafft,/ heile mich, DU,/ denn mein Gebein ist verstört,/ und sehr verstört ist meine Seele./ Du aber, DU, bis wann noch –!/ Kehre wieder, DU,/ entschnüre meine Seele,/ befreie mich/ deiner Huld zu willen!/ Denn im Tod ist kein Deingedenken,/ im Gruftreich, wer sagt dir Dank?!" Dr. Ferdinand fühlte sich schwach, als er bei aller Reinigung seines Geistes ihr den Mut zuzusprechen versuchte, den Weg unbeirrbar zu gehen, den ihr das Schicksal nach dem Blitzschlag aufgegeben hatte, das zu tun, was ihr Gesicht beim ersten Anblick wortlos sprach, dorthin zu gehen, woher sie gekommen war, und allen körperlichen Ballast samt des angekohlten Schienbeinknochens abzustreifen und zurückzulassen und den Weg mutig und getrost, wenn auch allein mit ihrer Seele zu gehen.
Das Telefon klingelte gegen zehn, und die Schwester teilte mit, dass das Mädchen Kristofina vor fünf Minuten verstorben sei. Dr. Ferdinand hatte Tränen des Abschieds in den Augen, und er wünschte dem Mädchen beim Überschreiten der letzten Brücke alles Gute und den Frieden, den es brauchte. Es tat ihm leid, dass es diesen Weg allein gehen musste, ohne die Hand der Mutter zu spüren, denn Kristofina war noch unbescholten und jung. Ergriffen, wie kurz das Leben auf dem Planeten sein kann, griff er zu den Preisungen und las ihr den letzten Psalm noch hinterher: "Preiset oh Ihn!// Preiset Gott in seinem Heiligtum,/ preiset ihn am Gewölb seiner Macht!/ Preiset ihn in seinen Gewalten,/ preiset ihn nach der Fülle seiner Grösse!"
Dr. Ferdinand war eingeschlafen, als gegen elf Herr C. an die Tür klopfte. Er kam vom Gottesdienst aus der Kirche, der weiss gestrichenen mit dem niedrigen Turm, wo vor dem kleinen Glockenstuhl die Tauben sitzen und von oben runter die Kirchgänger vor dem Eingang mit dem grauen Weiss beklecksen, dass sie unter der Schwanzfeder fallen liessen, wenn sie die kleine Glocke beäugen und das Hin-und-her mit dem Bimmelgeläut mit halb geschlossenen Augen vor sich ergehen lassen. Herr C. hatte seine Frau und die drei Söhne zuhause abgesetzt, um einmal bei Dr. Ferdinand hereinzusehn. Er setzte sich in einen der verschmutzten Sessel und zündete sich eine Zigarette der Marke 'Camel' an, während der aus dem Schlaf Gerissene unter die Brause ging, sich erfrischte und abgetrocknet in seine Kleidung mit der kurzen Hose stieg. Als Dr. Ferdinand im kleinen Wohnraum erschien, sah er, wie Herr C. in dem dicken Buch "Die grossen Philosophen" von Karl Jaspers blätterte, da ihm aus Kenntnismangel der deutschen Sprache ein tieferes Einlesen verwehrt war. Er legte es zur Seite und sagte, dass er von Jugend an an philosophischen Büchern interessiert sei und zuletzt Martin Buber gelesen habe. Dr. Ferdinand fragte ihn, was das Besondere an der Buber'schen Philosophie sei. Er sagte richtig, dass seine Denkweise Du-bezogen ist, dass über den Dialog zwischen dem Ich und dem Du die Wahrheit des Ichs gefunden wird. Dr. Ferdinand fügte folgendes hinzu: "Es ist ein Kernpunkt seiner Philosophie, dass die Herrschaft des Ichs über das’Es’ des untersuchten Objekts die analytische Denkweise der heutigen Wissenschaft sei, die zur unpersönlichen Manipulation geführt und zur spirituellen Verarmung, zum Verschwinden Gottes und zur Verachtung der moralischen Werte des Menschen beigetragen hat.
Die Ich-Herrschaft über das ‘Es’ hat in der unpersönlichen Manipulation zum Abbau und zur Verrohung des menschlichen Charakters geführt, die schliesslich die Massenvernichtung menschenmöglich machte. Die Realität des Lebens ist nach Buber dialektisch angelegt, wo die Gegensätze, ohne die es kein Leben gibt, im Dialog solange ausgetragen werden, bis sich das eine Subjekt im anderen wiederfindet, und beide zum gegenseitigen Verständnis führt. Die Anteilnahme am anderen ist das Fundament, auf dem die Gegenseitigkeit der Achtung und der Liebe beruht." Herr C. hakte beim Wort "Massenvernichtung" ein und beschrieb den Abschnitt aus dem Burenkrieg, als die Briten dreissigtausend Buren mit Frauen und Kindern in Camps einsperrten und verhungern liessen. Er fragte nach dem Holocaust, den die Deutschen an den Juden begangen hatten, wo die Zahl der Ermordeten noch höher war. Dr. Ferdinand erzählte ihm, was er über diese Schandtaten wusste, nannte in diesem Zusammenhang den grossen Musiker und Dirigenten Wilhelm Furtwängler, der einigen, jüdischen Musikern der Berliner Philharmonie das Leben rettete, weil er persönlich beim Propagandaminister Göbbels vorstellig wurde und sich für sie eingesetzt hatte. Der seelisch empfindsame und sich zur Magerkeit verzehrende Dirigent und Symphoniker hatte manche seiner Orchestermitglieder aus der Mörderhand der Nazis entrissen und ihnen die Emigration nach England und in die Vereinigten Staaten von Amerika ermöglicht.
Das machte ihn als guten Menschen ebenso unsterblich wie als Musiker, dem er als grosser Interpret Beethoven'scher Symphonien vorausgegangen war. Auch waren es die Berliner Arbeiterfamilien, die etwa dreitausend Juden in ihren Wohnungen hinter verstellten Schränken, auf Speichern und in Kellern versteckt hielten, als der Hinkefuss mit dem Propagandamaul hinausposaunte, dass Berlin "judenfrei" sei. Dass Berliner Philharmoniker schliesslich in Ausschwitz Brahms und Beethoven spielten, wo die SS- und Nazibonzen in ihren Uniformen blinkender Mörderoffiziere in den ersten Reihen sassen, die diese Musiker danach, wie vorgesehen, routinemässig und nackt in die Gaskammern schickten, diese unbegreifliche Schizophrenie, das erwähnte Dr. Ferdinand nicht, weil er das nicht über seine Lippen bringen konnte. Zur Geschichte des Holocaust fügte er hinzu, dass es Isabella, die Katholische, die Tochter Philipps des Zweiten von Spanien war, die das erste Holocaust veranstaltete, indem sie den Juden ihr Hab und Gut abnahm und sie danach massakrieren liess.
Sie kehrten noch einmal zu Buber und seiner Verdeutschung der Psalme zurück, von der Hermann Hesse sagt, dass sie den Rang einer Nachschöpfung habe. Dr. Ferdinand las Herrn C. den fünften, sechsten und letzten Psalm aus dem Buch der Preisungen vor, die er am Morgen Kristofina in ganzer Länge vorgelesen, den letzten schliesslich hinterhergelesen hatte, weil beim letzten Psalm das Mädchen bereits verstorben war. Er erzählte die Geschichte des Mädchens, das in der vergangenen Nacht der Blitz geschlagen hatte, den Schlag zunächst überlebte, dessen rechter Unterschenkel verschmort und das Schienbein angekohlt war, und wenige Stunden später verstorben sei. Er beschrieb ihr Gesicht beim ersten Anblick, auf dem der Tod schon lag, auch wenn das Mädchen noch nicht vom Tod sprach, weil das Gesicht ausdrückte, was ihre Worte noch nicht sagen konnten.
Kristofina ging ihm zu Herzen. Deshalb las er ihr aus dem Buch der Preisungen vor, um ihr Mut beim letzten Gang zuzusprechen, denn sie war noch jung, und ihre Hand konnte keine menschliche Hand halten. Sie musste in ihrer Jugend den Weg ohne ihre Mutter, also alleine gehen. Beide waren von ihrer Geschichte ergriffen, und Dr. Ferdinand kämpfte erneut mit den Tränen und hoffte, dass Herr C. diesen Kampf nicht bemerkte. "Die Guten sterben früh", merkte er an und erinnerte sich an gute Freunde, denen durch Krankheit und seelische Qual nur ein kurzes Leben beschieden war. Der Körper ist die Leihgabe, um das Leben mit der Seele auf dem Planeten zu gehen und am Dasein zu arbeiten, dass es der andere versteht. Dazu ist der Dialog erforderlich, der den Menschen verstehen lässt, wer der andere ist, mit dem er hier auf dem Planeten zusammenlebt.
Herr C. stand auf und bedankte sich für das Gespräch, als er die Tür zu seinem Toyota-Kombi öffnete und beim Einsteigen meinte, dass das Gespräch über den Nutzen des Miteinander-sprechens fortgesetzt werden sollte und schlug den späten Nachmittag vor, wenn seine sonntägliche Mittagsruhe beendet sei. Dr. Ferdinand stimmte zu, dass das Gespräch auch für ihn einen hohen Stellenwert habe, konnte jedoch eine Zusage, das Gespräch in der philosophischen Betrachtungsweise am Nachmittag fortzusetzen, nicht geben, da er Wochenenddienst hatte und andere Dinge noch erledigen musste. Er liess die Tür offen, machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich in einen der drei vergilbten Polstersessel, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich nachdenklich zurück. Dann legte er sich "Die grossen Philosophen" aufs Knie und las auf Seite 226 weiter, wenn Karl Jaspers sagt: "Der Gehalt dieser Wirklichkeit der vier massgebenden Menschen (Sokrates, Jesus, Buddha, Konfuzius) ist die Erfahrung der menschlichen Grundsituation und die Vergewisserung der menschlichen Aufgabe. Sie sprechen sie aus. Sie gelangen damit zu den Grenzfragen, auf die sie die Antworten geben. Jeder dieser Menschen ist wie eine keine Ruhe gebende Frage an uns." (Seite 227).
Dr. Ferdinand liess das Leben Revue passieren und ging gedanklich den möglichen Bedeutungen hinterher, wobei er Kristofina in seine Betrachtung einschloss. Wie jedesmal, wenn er die Lebensbetrachtung anstellte, kamen neue Fragen hinzu. Auf viele Fragen fand er keine Antwort. Dabei fragte er sich selbst, ob er denn in den Jahren etwas dazu gelernt hätte, um die wesentlichen Dinge des Lebens besser zu verstehen. Auch diese Frage konnte er sich nicht beantworten. Er hatte festgestellt, dass die Fragen immer mehr und die Antworten immer ‘wackeliger’ wurden, je älter er wurde. Gewiss griffen die Fragen von Mal zu Mal tiefer in das Geschehen des Lebens ein, und neue Aspekte kamen hinzu. Aber warum dann die Antworten immer wackeliger und weniger wurden, das wollte ihm nicht einleuchten. Das Fehlen der Antwort nach dem Warum war mit dem Leben so recht nicht vereinbar. Er klappte "Die grossen Philosophen" zusammen und legte sie auf den Tisch zurück. Er war besorgt, weil er glaubte, nichts verstanden zu haben. Er holte sich noch eine Tasse Kaffee und zündete sich die Zigarette an. Es fiel ihm ein, als er sich wieder zurücklehnte, dass er vor vielen Jahren schon von Menschen, die es wissen mussten, weil sie alt genug fürs Leben waren, davor gewarnt wurde, auf alles eine Antwort zu finden, was im Leben ablaufe, und was das Leben sei.
Wo wird Kristofina jetzt sein, die ihr verschmortes Bein am Körper hängenliess, als sie ihn ganz weggab, um die Schmerzen für immer loszuwerden und den letzten Weg zu gehn?, fragte sich Dr. Ferdinand in einer Himmelskunde, wo er sich überhaupt nicht auskannte. Er erwartete von sich keine Antwort. Dennoch schickte er ihr die besten Wünsche hinterher, wobei sein Blick das Buch der Preisungen streifte, ohne es in die Hand zu nehmen. Draussen fuhren Autos durch den Matsch. Ein 'Casspir' schleuderte den Matsch mit dem Grobprofil der dicken Reifen hoch in die Bäume hinein, als er auf das 'International Guesthouse' zufuhr, das seiner Einzimmerwohnung gegenüberlag, und sich neben den Eingang stellte. Dunkle Wolken zogen auf, und Dr. Ferdinand wollte den Freund Leon Witthuhn besuchen.
Er tat es jetzt, bevor der nächste Regenguss einsetzt. Er schloss die Tür, nahm die Sandalen in die Hand und ging barfuss auf der zermatschten Strasse, umging die Schlaglöcher mit den tiefen Pfützen und kam weniger bematscht dort an. Dr. Witthuhn trug eine Zwölferlage Dumpies durch das stehende Wasser des Vorgartens ins Haus, ohne sich die Hosenbeine hochgekrempelt zu haben. Das Einfahrtstor stand offen, und der Kofferraumdeckel stand hochgeklappt. "Das war ja ein Mitternachtsspektakel. Es hatte nicht viel gefehlt, dann wäre das Wasser in den Wohnraum gelaufen", begrüsste ihn Dr. Witthuhn. Dr. Ferdinand stakste mit hochgezogenen Hosenbeinen durchs Wasser im Vorgarten, wusch sich den Sand von den Füssen und stellte die Sandalen hinter die Tür. Er betrat den Wohnraum und begrüsste Dr. Bernstein, der jetzt das Schlafkabinett benutzte, das mit Kartons an der rechten Wand bis zur Decke gestapelt war.
"Setz Dich, ich bring Dir ein Bier", sagte Dr. Witthuhn. Dr. Ferdinand setzte sich auf einen der Stühle vor dem niedrigen Tisch. Dr. Bernstein hatte die zweisitzige Couch in Beschlag genommen und blätterte in einer Illustrierten herum. Dr. Witthuhn kam mit drei geöffneten Dumpies aus der Küche und stellte sie auf den Tisch, ging nochmal in die Küche und kam mit drei Gläsern zurück. Er setzte die Gläser neben den Bierflaschen ab, goss sich sein Glas voll und sagte beim Hinsetzen "Prost!". Er führte das Glas an den Mund, leerte es über die Hälfte, stellte das Glas zurück und wischte den Schaum von den Lippen. "Wie war Dein Dienst?", fragte er Dr. Ferdinand mit einem zuversichtlichem Lächeln. Er erzählte die Geschichte von Kristofina, vom angekohlten Schienbein, vom Ekg mit dem Herzrasen und den Extrasystolen und von ihrem Tod am Morgen. Dr. Witthuhn war gerührt und meinte, dass er noch keinen Patienten gesehen hätte, der einen Blitzschlag mit so schweren Verletzungen überlebt habe. Dr. Bernstein las in der Illustrierten und blätterte in ihr vor- und rückwärts, als würde ihn das Schicksal eines jungen Menschen nicht berühren, dem der Blitz das Leben erschlägt. Er schien mit sich selbst beschäftigt zu sein. Dr. Ferdinand nahm persönliche Gründe für das sonderbare Verhalten eines Kollegen an, der fachlich talentiert war, der seine Ausbildung in der Schweiz erhielt, seine Erfahrungen mit Verletzten auf dem Hospitalschiff 'Vietnam' erweitert und weder Frau noch Familie hatte, obwohl er im Alter vor den fünfzig Jahren stand. Er war vom Charakter her verschlossen, wenn Dinge des Privaten zur Sprache kamen.
Dagegen war es für Dr. Witthuhn und ihn selbst Ehrensache, über die persönlichen Dinge des andern zu schweigen, wenn sie sich aus dem Leben erzählten, in dem es ja nicht immer gut abgeht. Es entging den beiden nicht, dass Dr. Bernstein, wenn er sich mal etwas öffnete, nur von seiner Mutter sprach, niemals aber von seinem Vater. Dieser Kollege hatte Einzelgängerisches an sich, obwohl er sehr charmant sein konnte. Er war sportlich, spielte Tennis und liebte als Schweizer das Bergsteigen. Er legte die Illustrierte zur Seite und fing an, vom Brandberg zu erzählen, ohne dass da ein Zusammenhang zum Ableben von Kristofinas war, die über die letzte Brücke das Leben auf dem Planeten am Morgen verlassen und mit vierzehn Jahren durch den Tod in die Zeitlosigkeit gegangen war.
Dr Bernstein sagte, dass er den Brandberg bei Vollmond besteigen wolle, um der sengenden Sonne in der Bergwand zu entgehen. Er hatte sich eine Landkarte im vergrösserten Massstab besorgt und arbeitete die Route und den Zeitplan aus, von welcher Seite er um welche Zeit den günstigsten Aufstieg nehmen soll. Da keinerlei Wasserstellen in der Karte eingetragen waren, hatte er Leute befragt, die ganz oben auf dem Brandberg waren und sagten, dass es oben ein Plateau mit Bäumen und Pflanzen gäbe, die von einem Quell gespeist würden. Er brauchte deshalb nicht soviel Wasser mit hochschleppen, was ihm den Aufstieg an der nördlichen Steilwand erheblich erleichtert. Dr. Bernstein hatte aufgrund der Steilwand, die er erklettern wolle, ausgerechnet, dass der Aufstieg etwa einen Tag in Anspruch nehmen würde. Er wollte eine Pause einlegen, wenn die Sonne zu stark auf die Felswand brennt. Nach seiner Berechnung benötige er etwa eineinhalb Liter Wasser pro Tag und wollte nicht mehr als fünf Liter mit nach oben schleppen. Dr. Ferdinand fragte ihn, ob es nicht gefährlich sei, den Berg allein zu besteigen. Wenn ihm was zustossen sollte, könnte ihm keiner helfen. "Hier gibt es keinen, der mit mir gehen würde", meinte Dr. Bernstein, der die Gefahr der Alleinbesteigung nicht von der Hand wies. "Aber auf dem höchsten Berg will ich gestanden haben, bevor ich das Land verlasse."
Dr. Witthuhn hatte ein Telefonat, wahrscheinlich mit seiner Freundin in Windhoek, beendet, als er mit strahlendem Gesicht ins Wohnzimmer zurückkehrte und Mozarts 'Zauberflöte' auf den Plattenteller legte. Dazu holte er drei gekühlte Dumpies aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Dr. Ferdinand hätte schon Interesse an der Bergtour gehabt, doch wollte er zum bereits bestehenden Alltagsrisiko nicht noch ein weiteres Risiko auf sich nehmen in einer Zeit, wo das Hospital im Argen lag, und es soviel zu tun gab.
Das Telefon läutete, Dr. Witthuhn ging in sein Schlafzimmer, legte den Hörer auf, kam zurück und teilte mit, dass zwei Patienten ins Hospital gebracht wurden, die chirurgisch versorgt werden müssten. Die Ouvertüre war beendet und die Bierflasche geleert, als Dr. Ferdinand den beiden einen guten Nachmittag wünschte, die Sandalen in die Hand nahm, die Tür offen stehen liess, durch das stehende Wasser im Vorgartens stapfte, sah, dass der Kofferraumdeckel noch hoch geklappt war, das Gittertor der Einfahrt so liess, wie es war, als er gekommen war, und sich auf den matschigen Weg zum Hospital begab. Die Wachhabenden am Dorfausgangs waren sonntäglich gestimmt und liessen den Matschgänger passieren, ohne ihn nach dem Ausweis zu fragen, und da die Sperrschranke aufgerichtet stand, setzte er den Weg barfuss auf Strassenmitte fort. Er trat in Pfützen auf dem Vorplatz, wusch sich draussen den Sand von den Füssen, wie er es die vergangene Nacht getan hatte, zog die Sandalen über und betrat die Wartehalle im 'Outpatient department', wo die Patienten, ein Erwachsener und ein Kind, auf zwei Tragen lagen.
Der Erwachsene war ein etwa vierzigjähriger Mann, der sich das rechte Fussgelenk gebrochen hatte, dessen Fuss nach aussen abgeknickt war. Das Kind war ein fünfjähriges Mädchen, das stark abgemagert war, seit Tagen keinen Stuhl absetzte, einen aufgetriebenen Bauch hatte und seit zwei Tagen erbrach. Das Abtasten des Bauches war besonders im Rippenwinkel unter dem Schwertfortsatz des Brustbeins schmerzhaft, dass der Verdacht auf einen verschluckten Fremdkörper aufkam. Beide Patienten wurden geröntgt. Das Fussgelenk des Patienten wies eine kombinierte (bimalleoläre) Innen- und Aussenknöchelfraktur auf, und bei dem Mädchen fanden sich Steine im Magen, die den Magenausgang nicht passieren konnten. Damit wurde die Diagnose eines Magenausgangsverschlusses bestätigt. Die Mutter sagte, dass das Mädchen seit zwei Tagen nichts zu sich genommen habe. Die Operation war unvermeidlich, und die Mutter folgte der Schwester, die das Mädchen auf der Trage zur Kinderstation brachte, um den Tropf anzuhängen und die weiteren Vorbereitungen zu treffen.
Dr. Ferdinand setzte die Operation für fünf Uhr an und informierte die Schwestern im 'theatre' und den Kollegen, der auf der Kinderstation Dienst tat und mit Kindernarkosen vertraut war. In der Zwischenzeit stellte Dr. Ferdinand die Fraktur auf der Liege im Gipsraum, wobei er den Patienten in einer Kurznarkose schmerzfrei machte und den Fuss in einem dick gepolstertem Unterschenkelrundgips ruhigstellte. Der Patient erwachte aus der Narkose und wurde zum orthopädischen Männersaal gefahren, wo das Bein auf einer Schiene hochgelagert und die Schmerzbehandlung fortgesetzt wurde. Dr. Ferdinand führte noch einige Wundversorgungen an Patienten aus, die mit Schnittverletzungen an Händen und Beinen eingetroffen waren. Dann eilte er zum Op-Haus, da es schon kurz vor sechs war, und er sich verspätet hatte. Er hängte Hemd und Hose über den Haken im Umkleideraum, zog sich das Grüne über und ging zum 'theatre 3', wo das Mädchen auf dem Op-Tisch lag. Der Kollege begann mit der Narkose, während Dr. Ferdinand sich die Hände wusch, den Op-Kittel übergezogen bekam und sich die Handschuhe überstreifte. Die junge Schwester hatte die Haut des Mädchens desinfiziert und den Körper mit sterilen grünen Tüchern abgedeckt.