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Pezzi grossi – schwere Brocken

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VILLA LAGARINA – NOGAREDO

Heute kennen nur mehr Eingeweihte die großen Namen, die mit Villa Lagarina und Nogaredo verbunden sind.

Die allermeisten Urlauber rasen an diesen Orten vorbei und ahnen nicht, was sie sich entgehen lassen. Nach kurzer Fahrt über die Brennerautobahn biege ich bei Rovereto-Nord rechts ab nach Villa Lagarina. Das Viertausend-Einwohner-Dorf bildet ein altes Weinbauzentrum, in das sich freilich in den vergangenen Jahrzehnten neben der Bahntrasse und der Autobahn hässliche Gewerbe- und Industriehallen vorgefressen haben. Mein erstes Ziel hier ist die Pfarrkirche Santa Maria Assunta. Seit dem 15. Jahrhundert stellt das ursprünglich romanisch-gotische Gotteshaus den geistlichen Mittelpunkt der mächtigen Feudalherrschaft der Lodrons dar. Paris Lodron, Reichsfürst und Erzbischof von Salzburg, beauftragte Mitte des 17. Jahrhunderts den aus der Gegend von Como stammenden Architekten und Bildhauer Santino Solari, die alte Pfarrkirche im barocken Stil umzugestalten.

Das schwere, nach Osten zur halbrunden Piazza ausgerichtete, hölzerne Portal von Santa Maria Assunta bleibt an diesem Vormittag verschlossen. Daher gehe ich rechts gegen den Uhrzeigersinn um das Gotteshaus herum und hoffe auf eine geöffnete Seitentür. Die Tür gibt es zwar, aber sie ist ebenfalls geschlossen. Noch gebe ich nicht auf, denn aus einem flachen Nebengebäude neuerer Bauart dringt Männergelächter. Den Stimmen nachgehend, treffe ich einige Herren, die vor dem Nebengebäude rauchend herumstehen und aus Plastikbechern dunklen Wein trinken. Hier sei der Altentreffpunkt, »und dass wir hierher gehören, sieht man doch, he, he!«, erklärt ein rundlicher Kerl mit Stoppelfrisur sowie nicht mehr ganz intakten Zahnreihen, indem er auch mir einen Becher reicht. »Salute!«, »Prost!«, fordert Paolo Zandonai mich zum Trinken auf und erzählt, dass schon Mozart den lokalen Rotwein Marzemino im Don Giovanni besungen habe. »Also sind wir hier berühmt!«

Castel Noarna, Stammsitz der Lodrons

Ich erfahre von Paolo Zandonai, dass der Komponist auf seinen insgesamt drei Italienreisen zwischen 1769 und 1773 stets im nahen Rovereto haltgemacht und dort am 26. Dezember 1769 sein erstes Konzert auf italienischem Boden gegeben habe. Darauf sind meine Trinkgenossen in Villa Lagarina mächtig stolz. Völlig zu Recht, wie eine ausführlichere Beschäftigung mit der lokalen Geschichte ergeben wird. Doch dazu später. Paolo arbeitete früher als Metallschlosser, jetzt hat er viel Zeit und vor allem die Nummer von Don Massimo in seinem Handy gespeichert. »Der Pfarrer wohnt nicht mehr hier, er ist für die halbe Talschaft zuständig«, sagt Paolo, bevor auch schon Don Massimo am Apparat ist. »Kein Problem«, heißt es anschließend, wir könnten den Schlüssel bei einer Nachbarin abholen, Paolo werde mich begleiten.

Ein Glücksfall, denn es stellt sich heraus, dass Paolo Zandonai über persönliche Verbindungen zu den heutigen Nachfahren des Salzburger Erzbischofs Lodron verfügt. Seine Mutter Mariota sei von der Grafenfamilie als Waisenkind aufgenommen worden, erzählt der Mittsechziger, während wir zum Haus der Nachbarin spazieren. Mariota war 1919 sechs Jahre alt, als ihre Mutter an der Spanischen Grippe starb. Contessa Giuseppina gehörte demselben Jahrgang an wie sie, die beiden waren Vertraute von Kindesbeinen an. »Meine Mutter verbrachte ihr ganzes weiteres Leben – sie wurde fünfundneunzig Jahre alt – im Palazzo der Grafenfamilie, wo sie auch gestorben ist«, sagt Paolo. In früheren Jahren, erfahre ich weiter, sei Paolos Mutter als »bambinaia« für die Beaufsichtigung der Grafenkinder verantwortlich gewesen und später, als es offiziell längst keine »dienstbaren Geister« mehr gab, führte Mariota als letzte Getreue für Gräfin Giuseppina den Haushalt. Sie habe den Stammbaum der Lodrons auswendig gekannt und erinnerte die Kindheitsgefährtin, falls diese mal den Geburtstag eines Enkelkindes vergaß, an ihre Großmutterpflichten. »Wenn dann die Contessa seufzte: ›Mariota, du bist unser wandelndes Familienarchiv!‹, strahlte Mama, das war der Lohn ihrer Treue«, sagt Paolo Zandonai. Um zu erahnen, wie gut Mariotas Gedächtnis in besagter Angelegenheit funktionierte, muss man einen Blick auf den weitverzweigten Stammbaum der Lodrons werfen, wie er etwa in einem langen Wikipedia-Eintrag abgebildet ist, mit den verschiedenen Linien des auf das 11. Jahrhundert zurückreichenden Grafengeschlechtes samt älteren und jüngeren Primo- sowie Sekundogeniturlinien. Nur mit Ausdauer gewinnt man einen groben Überblick.

Als Paolo das Kirchenportal aufgedrückt hat, blendet der überirdische Glanz der Fresken, Altäre, Heiligenstatuen, Stuckornamente, Marmorböden und Pilaster meine Augen – Santa Maria Assunta gilt als herausragendes Beispiel barocker Architektur in der Region. Vor allem die dem Heiligen Rupert geweihte Seitenkapelle ist mit dem Namen des Salzburger Fürstbischofs Paris Lodron verbunden – und mit dessen Baumeister Santino Solari. Dreiunddreißigjährig, am 13. November 1619, wird Lodron zum Erzbischof von Salzburg ernannt, nach dem Tod seines Vorgängers, dessen Berater er war. Es ist eine äußerst schwierige Zeit für die katholische Kirche. Im Jahr zuvor war der Dreißigjährige Krieg ausgebrochen, ein furchtbarer Religionskonflikt und ein Ringen um die Vormachtstellung in Europa sowie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. An seinem Ende waren ganze Landstriche entvölkert. »Nicht nur das Erzbistum, sondern ganz Deutschland ist jetzt in höchster Gefahr … Ich bin gezwungen, bis auf einige wenige notwendige Minister den ganzen Hof zu entlassen, um die Ausgaben zu reduzieren«, schreibt der frischgebackene Kirchenfürst in einem Brief an seinen Vater Nikolaus.

Portraits aus jener Zeit zeigen einen gedrungenen Mann mit strengen Gesichtszügen, hoher Stirn, Kinn- und Schnurrbart. Bekleidet ist der Kirchenfürst mit einem scharlachroten Schulterumhang (der Mozetta), am Ringfinger der rechten Hand steckt der Bischofsring, vor dem Herzen trägt Paris Lodron das Brustkreuz, ein weiteres Zeichen seiner Amtswürde. Auf keinem Portrait fehlt auch das Wappentier der Grafenfamilie: ein aufgerichteter Löwe mit Brezelschweif.

Geboren wurde Paris Lodron auf dem Stammschloss Castel Novo, von den Einheimischen Castel Noarna genannt, es thront auf einer Hügelkuppe oberhalb von Villa Lagarina. Nach dem Theologiestudium in Trient, Bologna und Ingolstadt zum Priester geweiht, kommt Lodron nach Salzburg, wo er 1606 Domherr wird. Den Weg ebnete ihm sein Onkel Graf Antonio, Domherr zu Salzburg und Passau, der dem Neffen 1612 auch die Pfarrei in Villa Lagarina überließ. Zwar besuchte Paris Lodron seinen Heimatort nur noch selten, aber er blieb ihm zeitlebens verbunden, indem er sich etwa für die Landbevölkerung einsetzte. Zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse eröffnete Lodron eine Schule im Ort und ließ am Salzburger Marianokolleg für junge Männer aus Villa Lagarina drei fixe Studienplätze reservieren. Um die lokale Wirtschaft anzukurbeln, gründete der Fürstbischof ein Leihhaus in Villa Lagarina mit neuen Kreditmöglichkeiten. Durch eine kluge Politik gelang es ihm, während der Dreißigjährige Krieg Europa verwüstete, Salzburg aus allen Händeln herauszuhalten und der Stadt in Zusammenarbeit mit seinem Baumeister Solari ihr norditalienisches frühbarockes Aussehen zu verleihen. An vielen Gemäuern Salzburgs prangt heute noch der Brezellöwe, etwa an den Festungsanlagen im venezianischen Stil oder an der 1622 gegründeten Universität, die heute seinen Namen trägt. Und natürlich im Dom, der von Solari nach dem verheerenden Brand von 1598 neu erbaut wurde. In dessen Krypta wurde der Erzbischof nach seinem Tod 1653 beigesetzt. Die sterblichen Überreste Santino Solaris ruhen ebenfalls in Salzburg auf dem Friedhof Sankt Peter.

Aber zurück nach Villa Lagarina und zurück zum Heute. Nachdem seine Eltern gestorben waren (die Mutter 1615, der Vater 1621), beauftragte Paris Lodron den damals noch am Salzburger Dom tätigen Architekten Solari mit der Errichtung eines Denkmals: der St. Rupertskapelle, einem nördlichen Seitenbau der Pfarrkirche Santa Maria Assunta. Dort macht mich Paolo Zandonai auf das Lodron-Wappen mit Widmungsinschrift aus dem Einweihungsjahr 1629 aufmerksam, rechts an der Ostwand prangt ein großes Ölgemälde auf Kupfer mit den verewigten Eltern: beide kniend, die Mutter in schwarzem Kleid, die Hände vor der Brust zum Gebet gefaltet, der Vater in goldgeschmücktem Ritterkleid. Die acht trapezförmigen Gemälde an der Kuppel, angeordnet um eine auf blauem Grund schwebende Taube, symbolisieren die von Christus in der Bergpredigt verkündeten Seligpreisungen und sind ein Werk des Salzburger Hofmalers Donato Mascagni. Die Kunsthistoriker gehen davon aus, dass es dieselben italienischen Meister waren, die die reichen Stuckornamente im Salzburger Dom und in der St. Rupertskapelle von Villa Lagarina schufen. Die herrlichen Gemälde bewundere ich in unbequemer Haltung auf dem Boden hockend, während Paolo den schweren, mit einer Kette verhängten Vorhang ein wenig hochhebt, damit ich etwas sehen kann. »Hoffentlich ist kein Alarm eingeschaltet«, sagt Paolo und kurz grinsen wir, weil uns ein Dritter, der nicht weiß, dass wir hier mit Erlaubnis von Don Massimo eingedrungen sind, für Diebe halten könnte. Als wir die Kirche verlassen, weist Paolo mit der Hand hinter den Hauptaltar, dort führe eine Stiege zu einer Sakristei hinauf, »wo früher die kostbaren Messgewänder und liturgischen Geräte aufbewahrt wurden.« Inzwischen sind sie im nur einen Steinwurf entfernten Palazzo Libera zu besichtigen, einem Ableger des Diözesanmuseums von Trient.

Paolo hat auch die Nummer seiner Cousine Ilda aus Nogaredo im Handy gespeichert. Ist die Grafenfamilie abwesend, zeigt Ilda Zandonai Besuchern deren Palazzo am oberen Dorfrand. Von Villa Lagarina nach Nogaredo sind es wenige Autominuten. Rund um das Dorf winden sich aus hellem Kalkgestein gemauerte Weinterrassen, über denen seit dem 11. Jahrhundert das zinnengekrönte Schloss Noarna thront. Ende des 15. Jahrhunderts fiel das Kastell an die Grafen Lodron, deren Oberhaupt Graf Nikolaus etwa ein Jahrhundert später den Palazzo in Nogaredo erbaute. Die marmorne Rittergestalt in der Nische über dem Haupteingang stelle den Grafen Nikolaus dar, erklärt Ilda. Getroffen haben wir uns auf der Piazza vor dem Palazzo Candelpergher, früher Wohnsitz eines Verwalters der Lodron, heute residiert hier die Gemeindeverwaltung. Von dort führt eine Gasse – eine Tafel weist sie als Vicolo Lodron aus – zum ockergelb getünchten Grafenpalast. Sein heutiges Aussehen erhielt er durch Paris Lodron, der seinen Baumeister Solari auch hier mit den Aus- und Umbauarbeiten beauftragte. Ob Solari und seine Salzburger Dekorateure auch bei der Gestaltung der Kapelle links vom Haupteingang tätig waren, kann mangels Quellen nicht belegt werden. Die mit Volutenköpfen und Akanthusblättern dekorierten Gewölbe und die mit Puttenköpfen, Obstgirlanden und Schriftrollen geschmückten Bilder ähneln jedoch auffallend jenen von Villa Lagarina. Am Altar ist die Fotografie einer zarten alten Dame aufgestellt: Das sei Giuseppina, erklärt Ilda. »Man spürte an ihrer Ausstrahlung, dass sie eine Gräfin war.«

Ilda führt mich durch die repräsentativen Räume, einen Salon mit wandhohem Kachelofen und einer mit Blumen und bunten Vögeln bemalten Decke sowie den mindestens hundert Quadratmeter großen Saal mit rotweißem Marmorboden, offenem Kamin und an den Wänden hängenden Hellebarden. Während der warmen Jahreszeit werden die Räumlichkeiten heute für Hochzeiten oder Konzerte vermietet. Da schadet es nicht, dass die Familie Lodron mit Mozart bekannt war und man die Gäste darauf hinweisen kann: In Salzburg wohnte man nicht weit voneinander, Mozart und seine Schwester Nannerl erteilten den Grafentöchtern Luigia und Giuseppina Klavierunterricht. Einige Klavierkompositionen, bekannt als »Lodron’sche Nachtmusiken«, widmete Mozart seiner Gönnerin, der Gräfin Antonia. Die Quellen liefern zwar keinen Hinweis, aber es ist anzunehmen, dass der Komponist seine Gönner auch während seiner Italienreisen besucht hat. Jedenfalls ist es eine hübsche Vorstellung, sich in denselben Räumlichkeiten aufzuhalten und durch die vergitterten Fenster einen Blick auf die mediterrane Landschaft zu werfen, die schon das Musikgenie aus Salzburg bezaubert hat.

Nogaredo, Palazzo Lodron: im Hof der Löwe mit Brezelschweif, das Stammwappentier

Ilda zeigt auch die Sala del Giudizio. Als Feudalherren oblag den Lodrons die Gerichtsbarkeit, hier fanden noch im 17. Jahrhundert Hexenprozesse gegen einheimische Bäuerinnen statt, die im Gefängnis von Castel Noarna gefoltert und dann geköpft und verbrannt wurden. Ilda erzählt von einer mündlichen Überlieferung, derzufolge ein geheimer unterirdischer Gang das Stammschloss auf dem Berg oben mit dem Palazzo hier in Villa Lagarina verbinden soll. Genaueres weiß offenbar niemand in der Gegend, aber vielleicht handelt es sich auch nur um einen fernen Nachhall aus jener Zeit, wo man als Normalsterblicher lieber einen Bogen um die herrschaftlichen Gemäuer machte. Heute ist das nicht mehr nötig, wie ein Blick in einen kleineren, von der Grafenfamilie privat genutzten Raum offenbart. Kein Ahne mit Halskrause und Schwert blickt hier düster von einem Ölgemälde herab. Dafür reihen sich Bücher in den Regalen, zwei Globen und eine ältere Stereoanlage. Nichts wirkt in diesem Raum wie auf Hochglanz poliert. Am liebsten würde man sich gleich in ein gemütliches Sofa fläzen, um zu Mozart’scher Klaviermusik in einem der vergilbten Bände zu blättern.

Erneut in Villa Lagarina bin ich mit Sandro Giordani verabredet. Zusammen wandern wir durch winkelige Gassen und kommen an hinter hohen Mauern verborgenen Ansitzen vorbei. In einer dieser Gassen hat der Verein Borgo antico seinen Sitz, Sandro ist dessen »Presidente«. Während wir in dem steingemauerten Raum auf wackeligen Stühlen sitzen und Sandro Giordani einige Hefte herzeigt, die der Verein zur lokalen Geschichte herausgegeben hat, erzählt er von Sigismondo Moll, einem früheren Bewohner des gegenüberliegenden Palazzos, dessen Mauern jetzt ihre Schatten durch das Fenster des Vereinslokals werfen: »Er war ein bizarrer Typ, der sich mit dem Dorfpfarrer überworfen hatte. Um den Geistlichen zu ärgern, organisierte er während der Sonntagsmesse Ballspiele vor der Kirche.«

Wer war dieser seltsame Baron? Ein Peppone, eine Art kommunistischer Bürgermeister avant la lettre, der die Dorfbevölkerung gegen den Don Camillo seiner Zeit aufhetzte und den die Leute dafür im Gedächtnis behielten? Sigismondo Moll entstammte einem österreichischen Adelsgeschlecht und machte eine steile Karriere im diplomatischen Dienst. 1787 wurde er Kreiskapitän »an den Grenzen Italiens« mit Sitz in Rovereto. Nach verschiedenen politischen Missionen, die ihn nach Paris, Mailand und Wien führten, wurde Moll 1810 zum Senator des Königreichs Italien ernannt, zog sich jedoch wenig später ins Privatleben auf seinem Landsitz in Villa Lagarina zurück. Hier legte er mit Leidenschaft und Fachkenntnis einen riesigen botanischen Garten an, wo er nach seinem Tod 1826 auf eigenen Wunsch auch begraben wurde.

Sigismondo scheint ein pedantischer Sammler und Rechner gewesen zu sein. Musste er beispielsweise in offizieller Angelegenheit mit der ganzen Familie nach Mailand reisen, wurde ein Gehilfe beauftragt, eine Kutsche ausfindig zu machen, die »weniger Ausgaben« verursache. Trotz seines erfolgreichen Wirkens in Politik und Ökonomie, war Sigismondo Moll von den Wissenschaften angezogen, er studierte die französischen Klassiker, las Voltaire und Montesquieu und vertiefte sich in die Schriften materialistischer Denker wie Buffon und La Mettrie. Letztere scheinen in ihm den Freigeist geweckt zu haben, dem es Spaß machte, den Dorfpfarrer zu plagen. Ein nicht von seiner Gunst abhängiger Geistlicher namens Giuseppe Pederanzi rächte seinen Kollegen jedoch, indem er den Baron mit Satiren und Spottgedichten verfolgte. In einem Gedicht, das unter der Hand im Dorf verbreitet wurde, lässt Pederanzi den »lutherischen« Sigismondo bei Luzifer im untersten Kreis der Hölle schmoren, in Zeiten, als die allergrößte Mehrheit in Glaubensfragen keinesfalls gleichgültig mit den Schultern zuckte, die denkbar schlimmste aller Strafen. Im irdischen Leben scheint Sigismondo sein Ketzertum freilich nicht geschadet zu haben. Die von ihm begründete tridentinische Linie der Molls erlosch erst 1946 mit dem Tod von Leopoldo Moll. Durch Erbschaft fiel der Palazzo dann an das Mantovaner Geschlecht der Guerrini-Gonzaga.

Marchese Tullo Guerrini lächelt melancholisch, als ich ihn nach der Bedeutung der Jahreszahl 1789 im Wappenportal seines Palazzos frage. »Seit damals – im Jahr 1789 brach die Französische Revolution aus – zählen die Adeligen nicht mehr viel«, sagt der hoch in den Achtzigern stehende Marquis und lehnt den Rechen an die Hausmauer, mit dem er gerade den Kies vor dem Eingang geharkt hat – jemand muss hier schließlich für Ordnung sorgen. Dann geht der alte Herr mit kurzen Trippelschritten voran, seine zu locker sitzende Hose klemmt er mit einem Ellbogen an seinen schmalen Hüften fest, während er eine Tür zur Bibliothek öffnet. Mit mehreren durch eine Mitteltür verbundenen Sälen stellt diese einen Traum für jeden Bücherfreund dar. In den bis zur Decke reichenden Regalen stapeln sich kostbare ledergebundene Werke. Einige der Molls wären schwere Brocken im Habsburgerreich gewesen, »pezzi grossi, deshalb liegt hier viel Zeug herum«, sagt der Marchese und greift nach einer dicken Schwarte.

Es handelt sich um ein Exemplar des vielbändigen codex austriacus, der österreichischen Gesetzessammlung. In einem Schrank werden Sigismondo Molls Herbarien aufbewahrt – die einzelnen Bögen säuberlich mit schwarzer Tinte beschrieben, Zeugnis der botanischen Interessen des Barons. Moll habe sich die Samen für seinen Garten von weither schicken lassen, »aus Konstantinopel, Ägypten und Smyrna«, erklärt Tullo Guerrini. Versteckt hinter den obersten Büchern hängen einige Aquarellbilder: Werke Eduard Gurks, sagt der Marchese. »Zehn oder fünfzehn besitze ich noch.« Den Großteil seiner lange als verschollen geglaubten Sammlung – nach Medienberichten zweihundertzwanzig Blätter – verkaufte der Marchese vor einigen Jahren an das Land Südtirol. Der aus Wien stammende Biedermeiermaler Gurk begleitete Vertreter des Kaiserhauses wie Erzherzog Ferdinand und Erzherzog Johann auf ihren Reisen, welche ihn nach Prag, Bratislava, Budapest, Mailand und Venedig führten. Dabei verewigte Eduard Gurk in Lithografien, Kupferstichen und Temperabildern höfische Szenen, Landschaften, aber auch mit größter Detailfreude Momente des Alltagslebens der einfachen Bevölkerung. Auf seiner letzten Reise, die ihn 1841 nach Jerusalem führte, wo er im Alter von neununddreißig Jahren plötzlich verstarb, hielt Gurk sich als Gast im Palazzo Moll in Villa Lagarina auf. »Ich habe die Landschaft in alle Richtungen durchstreift und die Schönheit der Natur genossen«, schreibt er in einem Brief an die »Wiener Theaterzeitung« vom 17. November 1840. Als er von Mailand über Desenzano mit dem Boot nach Riva gelangt war, erwartete ihn dort eine von den Molls geschickte Kutsche. Ursprünglich wollte Gurk, wie er seinen Lesern in der »Theaterzeitung« schrieb, nur »acht oder neun Tage« in Villa Lagarina bleiben, um sich dann in Venedig einzuschiffen. Doch der Aufenthalt in der »mir freundlichen, unvergesslichen Villa« verlängerte sich dann auf sieben Wochen. Während der Überfahrt schrieb Gurk an Johann Karl von Moll, den er als »mein höchster Gönner« tituliert, er hoffe, auf der Rückreise erneut in Villa Lagarina haltmachen zu können. Es kam dann ganz anders: Plötzlich von Fieber erfasst, starb Eduard Gurk Ende März 1841 in Jerusalem, wo er auch begraben wurde.

Auf dem Schreibtisch in der Bibliothek hütet Marchese Guerrini heute ein Schwarzweißfoto von Leopoldo, dem letzten Moll. Der Arbeitsplatz sieht unberührt aus, der Marchese scheint sich lieber der Gartenarbeit zu widmen – solange die Kräfte reichen. Diese Beschäftigung hat schließlich Tradition im Palazzo Moll. Bevor ich mich vom heutigen Besitzer verabschiede, darf ich noch einen Rundgang durch den weitläufigen Park machen. Die Buchshecken sind akkurat geschnitten, in einem Teich schnattern Enten, die von Baron Sigismondo gepflanzten Bäume ragen inzwischen weit in den Himmel empor, sein Grab entdecke ich auch. Nur die große Orangerie steht heute leer – einst war sie der ganze Stolz des Freigeistes, der hier seine seltenen Pflanzenarten heranzog.

Österreich liegt am Meer

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