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Einleitung

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Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Schlafzimmer meiner Großmutter vor mir: das stille Halbdunkel hinter weißen Vorhängen, der knarzende Parkettboden, das breite Ehebett aus Massivholz, der Schrank und das Nachtkästchen, wo stets eine Dose mit Hustenbonbons »Schwarze Johannisbeere« bereitlag. Großmutter litt an einer chronischen Erkrankung der Atemwege, nie begegnete ich ihr ohne Taschentuch und ekelte mich ein wenig, wenn sie mich schwer atmend abküsste, nachdem sie das schleimige Tüchlein im Ärmel verstaut hatte, und dabei den Geruch von Eau de Cologne auf welker Haut verströmte. Und doch liebte ich Großmutter. Zugegeben, ein bisschen lag das an der Hustenbonbondose. Denn unsere Besuche folgten einem festen Muster. Nach der Begrüßung stürmten meine Geschwister und ich ins Schlafzimmer, ergriffen die Bonbondose und vertilgten ihren Inhalt, während wir auf dem Bett herumturnten, ungeachtet Großmutters Warnung, dass die Bonbons eigentlich Medizin seien: »Zu viel davon schadet!«

Im Schlafzimmerschrank befand sich noch eine weitere Dose, eine viereckige Keksschachtel aus Blech, in welcher Oma ihre Erinnerungsschätze hütete: vergilbte Briefe, Zeugnisse, Schwarzweißfotos mit Zackenrand und ein nach dem Modell der Heiligenbilder bemaltes Kartonstückchen, an dem ein fingernagelkleiner bunter Stofffetzen hing. Angeblich stammte er von Kaiser Karls I. Feldmarschalluniform, eine Art Reliquie also, die Großmutter mit größter Sorgfalt in die Hand nahm und dabei einen ehrfürchtigen Ton anschlug. Im Grunde interessierten uns jene Geschichten nicht sonderlich, die Oma erzählte, wenn sie sich zu uns aufs Bett setzte und bemerkte, dass wir auch diese Schachtel geöffnet hatten. Die Geschichten handelten von ihrer Kindheit, als sie einmal am Hauptplatz unserer Heimatstadt Meran mit anderen Schulmädchen Spalier gestanden war, um begeistert Kaiser Franz Joseph zuzuwinken. Und sie handelten vom Krieg, der Spanischen Grippe, die Millionen Todesopfer gefordert hatte, von den Hungerjahren, in denen sie die Bauern in den umliegenden Dörfern um etwas Essbares angefleht und einmal zur Antwort bekommen hatte, die Milch, um die sie gebeten hatte, werde für die Schweine benötigt. Es waren stets dieselben von Klagen untermalten Erzählungen, wir kannten sie alle, und doch sog ich sie auf wie ein süßes Gift, während ich, an Großmutters weichen Körper geschmiegt, ein Hustenbonbon nach dem anderen lutschte.

Schoben wir im Schlafzimmer die Vorhänge zur Seite, konnten wir am Berghang gegenüber die Vinschgauer Bahn sehen. In den ausgehenden 1960er-Jahren wurden auf dieser Strecke für den Güterverkehr noch Dampflokomotiven verwendet. Wenn die Lok damals in Kehren aufwärts kroch, war ihr rhythmisches Stampfen durch das geöffnete Fenster zu hören. An der Lautstärke ließ sich beurteilen, ob das Wetter schlecht würde (in diesem Fall hörte man die Lok deutlicher), und wenn sich die Fahrt wegen der schweren Last verlangsamte, schien die Lok stoßweise »jetzt derschnauf i’s nimmer, jetzt derschnauf i’s nimmer!« zu jammern – so erklärte es die Großmutter, sie war eine einfache Frau. Auf dem Retourweg hatte die Bahn auf den offenen Güterwaggons manchmal tonnenschwere Marmorblöcke aus den Vinschgauer Brüchen geladen, welche in der Sonne wie mächtige Zuckerkristalle glitzerten. »Mit diesen Steinen wurde Wien erbaut«, behauptete die Großmutter, was prinzipiell der Wahrheit entsprach. Tatsächlich wurden etliche Monumente an der Wiener Ringstraße aus Vinschgauer Marmor errichtet – wie zahllose andere Denkmäler des Habsburgerreichs, welche von der Südbahn in die Hauptstadt und von dort weiter in alle Ecken der Monarchie transportiert wurden. Der Zug, der damals vor meinen Augen in Richtung Wien rollte, diente mir als Traumvehikel und nahm mich mit auf die Reise.

Aus Vinschgauer Marmor gehauen wurde auch eine Statue im Kaiserin-Elisabeth-Park meiner Heimatstadt: Die Regentin sitzt dort kerzengerade in einem filigranen Stuhl mit halbkreisförmiger Lehne, in ihrem Schoß ein Buch, über dem sie verträumt in die Ferne blinzelt. Eines Tages, als ich schon älter war, gab es um diese Statue eine schreckliche Aufregung: Vandalen hatten Sisi mit roter Farbe beschmiert und ihr den Kopf abgeschlagen. »Faschisten!«, hörte ich die empörten Erwachsenen murmeln – damals begann ich zu ahnen, dass Monumente häufig mit einer zwiespältigen Bedeutung aufgeladen sind. Als dann die gereinigte Statue, das Haupt angeklebt, erneut an ihrem Platz stand, umkreiste ich sie scheu und suchte nach den Spuren des Gewaltaktes. Zwischen 1870 und 1889 hielt sich die Kaiserin insgesamt einige Monate in Meran auf. Der Besuch bescherte der Kurstadt, was der Direktor des lokalen Tourismusmuseums heute als »Brigitte Bardot-Effekt« bezeichnet. Sisi, das begriff ich später, hat vielen Kurorten zu Ruhm verholfen. In zahlreichen Städten des ehemaligen Habsburgerreichs ließ sich die Kaiserin – in ihrem Gefolge andere Berühmtheiten jener Epoche – zeitweilig nieder. Diese Menschen waren dort mit ihren echten oder eingebildeten Leiden beschäftigt. Sie frönten den damals modernen Freizeitbeschäftigungen, residierten in Villen und Schlössern, welche manchmal eigens für diesen Zweck erbaut worden waren, sie dilettierten als Künstler oder erforschten mit wissenschaftlicher Neugier die Alltagskultur der Region.

Der legendären Südbahn folgend, welche einst den Süden des Imperiums als Lebensader durchzog, werde ich mich auf den Weg machen, um Spuren von damals zu entdecken. Entlang einer aufgelassenen Teilstrecke gelange ich zuerst zum Gardasee, dem kleinen Meer am Südrand der Alpen, wo im späten 19. Jahrhundert die mondäne Gesellschaft kurte. Dem Saum der Adria folgend, wird die Tour über Venedig nach Görz im Friaul führen, nach Triest, Rijeka und Opatija an der Kvarner Bucht und schließlich nach Istrien. Bis zum Untergang der Donaumonarchie bildete die Halbinsel zusammen mit Triest und Görz das Kronland »Österreichisches Küstenland«. Österreich lag damals also wirklich am Meer. Seit 1873 war der aufstrebende Kurort Opatija bequem über Nacht aus der Hauptstadt erreichbar, die Mehlspeisen wurden täglich frisch aus Wien angeliefert. In Opatija und an manch anderer Adria-Perle möchte man heute wieder den Brigitte Bardot-Effekt ankurbeln. Andernorts hasste man jede Habsburgnostalgie. Nicht nur in meiner Heimatstadt schlug man Monumenten aus der österreichischen Vergangenheit den Kopf ab. Doch sind es vielleicht gerade diese Brüche, die uns heute verbinden. Unterwegs werde ich auch nach Großmutters Kaiser Karl-Reliquie Ausschau halten, sie war im Lauf verschiedener Umzüge verloren gegangen. Die Suche wird vergeblich bleiben. Was den Verlust aufwiegt, sind viele interessante Begegnungen und Geschichten.

Österreich liegt am Meer

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