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Ein Capostazione, der das große Los gezogen hat
ОглавлениеMORI – ARCO – RIVA
Nein, Otto Karl Stöber würde es hier bestimmt nicht mehr gefallen. Wenige Meter entfernt auf der Autobahn donnern im Sekundentakt Lastwagen vorüber, ohne an der kleinen Eisenbahnstation zu halten, rollen auch die meisten Züge der Brennerlinie durch. Der Bahnhof von Mori ist heute ein trister Ort. Bis auf die zugige Durchgangshalle zwischen den Gleisen und der Straße sind sämtliche Räume des zweigeschossigen Gebäudes zugesperrt, nur im schlauchartigen »Wartesaal« ohne Schalterbeamte und jegliche Sitzgelegenheit brennt Licht.
Wie anders war hier alles am 28. Jänner 1891, als die Lokalbahn Mori-Arco-Riva, von den Einheimische heute noch liebevoll M. A. R. genannt, offiziell eröffnet wurde! Zwar hatte sich der unter Pseudonym schreibende Korrespondent »Benacus« im Lokalblatt »Il Raccoglitore« wenige Tage zuvor noch beschwert, dass die nur auf Deutsch verfasste Einladung eine »Beleidigung unserer Nationalliebe« sei, und hinzugefügt, es werde »viel Kraft erfordern, sich den Feierlichkeiten fernzuhalten«. Doch vom Eröffnungstag wusste das publizistische Hauptorgan der Region, die »Gazzetta di Trento«, Folgendes zu berichten: Um neun Uhr wurden die Geladenen am Bahnhof von Mori vom Ratspräsidenten Schwarz empfangen. »Das Gebäude war festlich geschmückt und im dort eingerichteten Restaurant wurde den Gästen eine erste Erfrischung gereicht … Um zehn Uhr setzte sich der ebenfalls festlich geschmückte Zug in Bewegung … im nahen Dorf Mori wurde er von den Klängen der Musikkapelle, den örtlichen Würdenträgern und der feiernden Einwohnermenge empfangen.«
Als Otto Karl Stöber seinen Dienst als Bahnhofsvorsteher an der Endstation Riva antrat, war er ein gemachter Kerl. Im damals österreichischen Teil Schlesiens in einfachsten Verhältnissen geboren, hatte der junge Mann nach Jahren des Militärdienstes im südtiroler Vintl einen Posten als kleiner Eisenbahner an der von der k. und k. priv. Südbahngesellschaft betriebenen Pustertalbahn ergattert. Die Bahn bedeutete damals Fortschritt. Indem die kaiserliche Regierung viele neue Zuglinien errichtete, rückten die entfernten Winkel des Riesenreichs näher an die Hauptstadt heran, so konnte den Fliehkräften entgegengewirkt werden. Die Eisenbahn brachte den Tourismus zum Blühen. Im Sommer 1887 hatte der deutsche Thronfolger Friedrich drei Wochen im nahe bei Vintl gelegenen Toblach Urlaub gemacht und die Gegend auf einen Schlag berühmt gemacht. »Ich vermisse die Spaziergänge und die reine Luft, die schönen Nadelwälder und die schöne Umgebung von Toblach …«, schrieb seine Gattin später aus Venedig. Entlang der Bahnlinie entstanden Grandhotels, bevölkert von Bankiers, Industriellen und Adeligen, den Stars jener Zeit. Im Dunstkreis dieses Milieus, so mag Stöber gedacht haben, könnten sich auch einem wie ihm Chancen auf Wohlstand und gesellschaftlichen Aufstieg bieten. Denn Otto Karl Stöber war zwar ein armer Schlucker, doch er hegte Ambitionen. Er war ein stattlicher, groß gewachsener Mann, den die schönen Künste anzogen. Während seine Kameraden ihren sauer verdienten Lohn beim Bier und Kartenspiel verprassten, malte Stöber. In seinen Mußestunden hatte er den Wartesaal von Vintl mit Fresken verziert. Diese Szenen ländlichen Lebens waren es, die im Jahr 1888 die Wende seines Lebens herbeiführten.
Eines Tages, es ist nicht überliefert, ob es Sommer oder Winter war, hält vor dem halb verwaisten Bahnhof ein Landauer. Der von zwei Pferden gezogenen Kutsche entschwebt ein blasses, brünettes Fräulein. Weltläufiges Auftreten sowie das bodenlange eng taillierte Kleid lassen eine Adelige vermuten, die hier auf einen Verwandten wartet, der mit dem Zug aus Wien eintreffen wird. Stöber, ihren fragenden Blick auf die Fresken bemerkend, spricht sie an – als Schöpfer der Bilder, wie er mit bescheidenem Stolz erwähnt, wäre er auf ihr Urteil gespannt. Es muss positiv ausgefallen sein. Denn als der Vater des hübschen Fräuleins aussteigt, Baron Melchior Josef von Lindegg, Herr zu Weissenberg, Marbach, Arndorf und Lizzana, war das Entscheidende bereits geschehen. Auf seine Güter in Lizzana bei Rovereto zurückgekehrt, fiel dem Baron zunächst nichts Merkwürdiges am Benehmen seiner Tochter auf. Doch selbst ein viel beschäftigtes Familienoberhaupt beginnt irgendwann Fragen zu stellen, wenn in seinem Haus getuschelt wird, die Mutter der Tochter vielsagende Blicke zuwirft und Letztere, bisher von ausgeglichener Wesensart, häufig zwischen Übermut und Niedergeschlagenheit schwankt. Früher hatte sich die sonst in großstädtischen Kreisen verkehrende Tochter Luigia auf dem Land stets gelangweilt und in ihren Kommentaren etwas hochmütig über die nicht in Konversation geübten einfachen Menschen geurteilt, nun entdeckte sie plötzlich die Freuden des Landlebens, gelegentlich entschlüpfte ihr auch die eine oder andere mitfühlende Bemerkung, die besagte, dass bestimmt auch Ungebildete aus den niederen Schichten, die weder Unterricht noch Privatlehrer gehabt hätten, Talent haben konnten und durch Fleiß und Rechtschaffenheit Anerkennung durch Höhergestellte verdienten.
Schloss von Erzherzog Albrecht in Arco
Um es kurz zu machen: Der Baron musste schließlich nachgeben. Er musste in die unstandesgemäße Verbindung seiner Tochter mit dem kleinen Eisenbahner einwilligen. Schließlich war er ein moderner Mensch, der sich dem Fortschritt nicht verschließen wollte, sofern man sich profitabel arrangieren konnte. Und der Baron hatte eine Idee: Das schon in den 1860er-Jahren lancierte Projekt einer Schmalspurbahn zwischen Mori, Arco und Riva war zwischenzeitlich ins Stocken geraten. Wie wäre es, wenn man sich einschaltete, den Plan auf eine solide finanzielle Basis stellte und nebenbei auch ein kleines innerfamiliäres Problem einer akzeptablen Lösung zuführte? So geschah es. Der Baron gewann einen finanzkräftigen Bankier aus Bozen und mit Rudolf Stummer Ritter von Traunfels einen erfahrenen und erfolgreichen Eisenbauingenieur aus Wien, der ein neues Projekt ausarbeitete. Im Oktober 1889 erhielt Stummer die Konzession für den Bau einer 760mm-Schmalspurbahn, wie sie damals im bosnisch-herzegowinischen Bergland gerade mit Erfolg eingesetzt wurden.
Ein mit Lindegg befreundeter Baron soll sich persönlich an den Kaiser gewandt haben und Otto Karl Stöber erhielt die Versetzung, im Jänner 1891 trat er seinen Dienst als Capostazione der neuen Eisenbahnlinie mit Sitz in Riva an. Das Monogramm mit den geschwungenen Buchstaben M. A. R. auf den Mützen der Eisenbahner hat nach den Erinnerungen seines Sohnes der künstlerisch begabte Capostazione persönlich entworfen. Am 14. Mai 1892 heirateten die Baronin Luigia de Lindegg und der Bahnhofsvorsteher in der Kirche San Marco von Rovereto. Mit der Lokomotive »Pinzolo«, der modernsten, die von der Bahngesellschaft damals eingesetzt wurde, fuhr der festlich dekorierte Hochzeitswagen die gut vierundzwanzig Kilometer nach Riva.
Es folgten die goldenen Jahre für die M. A. R. und den Tourismus am nördlichen Gardaseeufer. Im Mai 1891, nach nur wenigen Betriebsmonaten, konnte die »Gazzetta di Trento« über das stetig wachsende Passagieraufkommen jubeln: 16 000 Fahrgäste wurden im Monat Februar gezählt und 28 000 für den Monat März, die insgesamt neuntausend Florin für die Tickets bezahlten. »Von diesen großartigen Zahlen könnt ihr ableiten, dass die viel geschmähte Eisenbahn beträchtlichen Nutzen gebracht hat, ein Zeichen für die Wiedergeburt der beiden Geschwisterstädte Arco und Riva«, schleudert die »Gazzetta« den Bahnkritikern entgegen. Denn vorausgegangen waren hektische Debatten zwischen Bahn-Befürwortern und Gegnern. Einen Höhepunkt erreichten die Konflikte während einer Ratssitzung in Riva, als ein Abgeordneter die Meinung der Opposition auf den Punkt brachte: »Die geplante Bahn dient den Interessen Rivas nicht, im Gegenteil, sie schadet ihnen.« Über den Erfolg sollte der Kritikerchor bald verstummen.
In einem fiktiven, 1891 veröffentlichten Brief beschreibt die Autorin Helene Störkl ihre Eisenbahnfahrt auf der neu eröffneten Strecke von Mori nach Riva: »Man kann nur in erster oder dritter Klasse reisen. Die erste Klasse ist natürlich Touristen … und Kranken vorbehalten; die dritte Klasse hingegen der lokalen Bevölkerung und Reisenden wie uns, die mit wenig Geld eine fette Scheibe der Welt entdecken wollen.« In Mori fallen der Autorin windschiefe äußere Treppen an den Häusern auf und sie fragt sich, wie die altersschwachen Konstruktionen das Gewicht einer Person tragen könnten. »Hier sah ich auch den ersten Esel … geduldig trottete er entlang der Straße, während ihm ein braungelocktes Kind mit einem Stab in der Hand folgte … Hinter Mori fährt der Zug mitten durch die sommerlichen Weinberge. Und zwar so nahe an den Rebstöcken vorbei, dass wir manchmal nur die Hand auszustrecken brauchten, um die Früchte zu pflücken.« Der Niedergang der Bahnlinie folgte nach dem Ersten Weltkrieg. Im Krieg von Österreichern und Italienern schwer beschädigt, gab es in den 1920er-Jahren seitens der neuen Besitzer, der staatlichen italienischen Eisenbahn, wiederholt Projekte, die veralteten Dampflokomotiven durch moderne elektrische Triebwagen zu ersetzen. Doch dazu kam es nicht mehr. »Schmutzig, übelriechend« sei die M. A. R., schrieb der »Brennero« im Jänner 1936. Um dann am 13. Oktober desselben Jahres festzustellen, dass in »der Eisenbahn Rovereto-Riva Kerzenschein elektrischen Strom ersetzen muss. Vorigen Samstag gab es einen stundenlangen Lichtausfall.« Eine Woche später gab der »Brennero« seinen Lesern das endgültige Aus der Bahnlinie bekannt. Der öffentliche Personenverkehr würde fortan von einem Autobusdienst übernommen werden.
Wo einst die Eisenbahn durch das Loppiotal ratterte, verläuft heute ein asphaltierter Radweg. Zwar ist die Landschaft nicht mehr ganz so idyllisch, wie sie Helene Störkl vor mehr als einhundertzwanzig Jahren beschrieb, wählt man jedoch anstatt der neuen Schnellstraße den alten Weg durch Mori und Morivecchio, wird die Fahrt reizvoll. Man passiert wie gestriegelt wirkende Rebzeilen, ein Schild weist darauf hin, dass wir uns im Marze-mino-Anbaugebiet befinden. Am ausgetrockneten Lago di Loppio vorbei, heute ein schilfbewachsenes Naturschutzgebiet, passiert die Radstrecke hohe, nackte Felswände. Vom Eiszeitgletscher geschmirgelt, speichert das helle Kalkgestein die Sonnenwärme und reflektiert das Licht, sodass man unwillkürlich die Augen zusammenkneift. Eine Smaragdeidechse huscht im dürren Laub unter dem Macchiagebüsch davon, im Aufwind unter dem blauen Himmel kreist ein Greifvogel. Dann zwei weite Schleifen, um den Passo San Giovanni zu erklimmen, und schon hat man den Scheitelpunkt erreicht, rollt nach Nago hinunter, erspäht zwischen Zypressen den glitzernden azurfarbenen Gardasee, ein Anblick, der schon Goethe »herrlich belohnt(e)« – und nach ihm ein Heer von sonnenhungrigen Italienreisenden anzog.
Triebwagen der M. A. R.
Arco war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Wintersitz vieler Adeliger aus Österreich geworden, nachdem Erzherzog Albrecht vor den mittelalterlichen Stadtmauern seine schlossähnliche Villa errichten hatte lassen. Rund um die in einen großen Park mit Palmen, Mammutbäumen und Magnolien gebettete erzherzogliche Residenz entstanden Hotels und Sanatorien. Die meisten gibt es noch, mittlerweile allerdings bleiben nicht wenige unbewohnt, andere werden als Schulen oder Büros der Stadtverwaltung verwendet. Auch das schmiedeeiserne Orchesterrund, wo die Kurkapelle zweimal täglich aufspielte, steht an seinem Platz neben dem Kurhaus, ebenso die überdachte Wandelhalle. An diesem Tag sitzen hier nur einige einheimische Rentner, die ihre gebräunten Gesichter in die Sonne halten, während sich im Hintergrund schneebedeckte Gipfel in den Himmel recken: Fast so wie früher, wie man auf historischen Postkarten entdecken kann. »Ein Jännertag in Arco«, heißt es unter einem Bild, wo sich hinter Palmen und Blumenrabatten weiße Berge abzeichnen und im Vordergrund Damen mit Hütchen und Sonnenschirm sowie Männer in spitzen Schuhen mit Spazierstock plaudernd herumsitzen. Auf Prospekten werben die Hotels mit elektrischen Aufzügen, fünfsprachigem Personal (Russisch, Polnisch, Französisch, Italienisch, Deutsch), und, ganz wichtig, mit den Hinweis: »Keine Lungenkranken im Haus«!
Mit dem Friedensschluss von 1866 sei dem nördlichen Gardaseegebiet eine Atempause gewährt worden, erklärt Mauro Grazioli. »Denn während Venetien und die Lombardei nach dem Dritten Unabhängigkeitskrieg an Italien abgetreten wurden, blieb Tirol beim Kaiserreich.« Der Mittsechziger, der mich am alten Bahnhof von Riva erwartet, ist einer der besten Kenner der lokalen Geschichte und hat sich bereit erklärt, mich auf einem Rundgang durch das 16 000-Einwohner-Städtchen zu begleiten. Vom Bahnhof, vor dem ein Stück der alten Bahntrasse erhalten geblieben ist – über dem Eingang prangt in roten Druckbuchstaben »Wartesaal« – schlendern wir durch eine Parkanlage zum Seeufer hinunter. »Da die Zeiten nach dem Frieden als sicher galten, wurde hier österreichisches und deutsches Kapital investiert, Arco und Riva verwandelten sich in touristische Boomtowns«, sagt Grazioli. Während sich die Nachbarstadt Arco als Winterkurort entwickelte, habe sich Riva stets als Seebad verstanden. Eine wichtige Rolle dabei spielte der Wiener Arzt Christoph Hartung von Hartungen. Er war der Enkel des Homöopathen Christoph Hartung, oberster Militärarzt der Provinzen Lombardei und Venetien, der durch seine homöopathische Heilung des Feldmarschalls Radetzky in ganz Europa bekannt geworden war. In den Fußstapfen seines Vorfahren zog Christoph Hartung von Hartungen 1888 nach Riva und gründete hier eine Natur- und Wasserheilanstalt. Als Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft Österreichs sowie des Vereins der homöopathischen Ärzte Österreichs machte der charismatische Arzt sein Sanatorium zu einem Treffpunkt von Künstlern, Wissenschaftlern, Adeligen und wohlhabenden Bürgern. Zu seinen Freunden und Patienten gehörten u. a. Rudolf Steiner, Sigmund Freud, Clara und Hermann Sudermann, Karl May, Franz Defregger, Peter Rosegger, die Brüder Heinrich und Thomas Mann sowie Christian Morgenstern. Letzterer verschied in den Armen Hartungens am 31. März 1914 in Meran, wohin sich der Arzt mit seiner Familie zurückgezogen hatte. Eine Marmortafel an der Villa Helioburg in meiner Heimatstadt erinnert daran.
Über das Wirken Hartungens findet man im heutigen Riva wenige Hinweise. Eine eher bescheidene Gasse, die von der Hauptstraße SS 240 abzweigt und zum ehemaligen Sanatorium führt, trägt den Namen »Via Christoph Hartung von Hartungen«. Schöner ist es, wenn man sich von der Seeseite nähert. Eine Promenade schlängelt sich am Ufer entlang. Rentner führen hier ihre Hunde aus. Auf den gekräuselten Wellen jagen Surfer im Zickzackkurs hin und her, das Aufschlagen ihrer Bretter ist bis ans Ufer zu hören – da hier am Nordrand des Gardasees praktisch immer der Wind weht, bildet Riva eine Hochburg der Segler und Surfer. Die sportlichen Gäste interessieren sich kaum für die Geschichte des ehemaligen Kurortes, daher bleibt auch das gelbgetünchte einstige Sanatorium unbeachtet, das sich wie ein verwunschenes Schloss inmitten eines weiten Parks erhebt. Üppiges Grün umwuchert die Freitreppe unter einem zum See ausgerichteten Balkon. Wo einst gebauschte Röcke über den Marmorboden streiften und Herren mit Einstecktuch den Damen Komplimente machten, hört man heute die Vögel zwitschern. Außer den Stadtgärtnern, die das Grün zurückstutzen, kommt hier selten jemand vorbei. Vom faschistischen Italien in eine Ferienkolonie für Kriegswaisen umgewandelt, wartet das Gebäude seit Jahren auf eine neue Verwendung. Unterdessen verblasst langsam die auf Italienisch verfasste Inschrift »Waisenkolonie« über der Freitreppe.
Im Ersten Weltkrieg hatten italienische Geschütze Teile von Rivas Altstadt zerstört. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden in die Bombenlücken neoklassizistische Bauten gestellt: »Den neuen faschistischen Machthabern ging es darum, die ›Italianità‹ der Region zu beweisen«, erklärt mein Begleiter Grazioli. Mit einem Sportstadion, einem Tennis- und Segelclub sowie zahlreichen Häusern im Zentrum schufen Mussolinis Architekten ein neues modernes Riva. Ein Juwel direkt am Seeufer ist die von Giancarlo Maroni entworfene Badeanstalt Spiaggia degli Olivi: Ein eleganter zweigeschossiger Bau mit zwei schlanken Ecktürmen, die einen Kreis einfassen. Im Erdgeschoss rundet sich eine geschlossene Fensterfront, im Obergeschoss wird die Fläche von einem Gebälk über luftigen Säulen begrenzt. Ins Wasser vorgeschoben, ragt ein Zehnmeterturm wie ein Ausrufezeichen empor. Zum See hin präsentiert die Badeanstalt ihre Prachtseite. Wie ein weißer Dampfer scheint sich die Spiaggia degli Olivi vor dem Hintergrund ineinander verschachtelter Altstadtdächer auf große Fahrt zu begeben. Mauro Grazioli erinnert sich an abendliche Feste im mondänen Seebad: »Als wir jung waren, trafen sich hier berühmte Gäste, Kellner wieselten herum, Damen im Abendkleid und Herren im Zweireiher tranken im Obergeschoss einen Aperitif, im Untergeschoss wurde zu Klaviermusik getanzt.« Für ihn und seine Freunde sei die Spiaggia degli Olivi ein Sehnsuchtsort gewesen. »Durch die Fenster im Untergeschoss warfen wir scheue Blicke hinein. Das Bad, zu dem wir ohne Geld keinen Zutritt hatten, verkörperte für uns die große Welt.« An seinem heutigen Zustand ärgern Grazioli Verschandelungen wie ein grüner Kunstrasen oder eine mit Bambusmatten kaschierte Wand, die den Lautsprecherlärm dämpfen soll. »Eine Schweinerei«, findet er und macht mit dem Handy ein Foto. »Vielleicht schreibe ich im Lokalblatt einen bösen Kommentar.«
Gleich hinter dem Strandbad erhebt sich die Stadtfestung. Eine Zeitlang diente sie den Bischöfen von Trient als Residenz, unter den Österreichern befanden sich hier der Sitz der Militärverwaltung sowie das Hauptquartier der k. und k. Kriegsmarine am Gardasee. Heute ist in der ehemaligen Festung das Stadtmuseum untergebracht. Es beherbergt eine archäologische Sammlung und Werke regionaler Künstler, Teil des Museumkomplexes ist auch die Galeria Civica mit einer Dauerausstellung zu Leben und Werk des aus der Nachbarstadt Arco stammenden Malers Giovanni Segantini. Doch wir lassen diese Sammlungen alle links liegen, um ins oberste Stockwerk hinaufzusteigen, dort sind die Gegenstände meines Interesses ausgestellt: Ein schwarzer Zweispitz mit goldenem Emblem, ein silbrig-goldener Präsentiersäbel sowie ein ovales Ölgemälde in dunklem Holzrahmen, das einen großgewachsenen Mann in Uniform mit gezwirbeltem Schnurbart zeigt, an seiner Brust prangt ein Orden. Die Linke des Uniformierten umfasst locker den Säbelschaft, die Rechte einen schwarzen Hut. Eine Bildunterschrift erklärt auf Deutsch und Italienisch, dass es sich um ein Portrait Otto Karl Stöbers handelt.
Seine märchenhafte Verbindung mit der Baronin sollte übrigens kein gutes Ende finden: Am 25. November 1896 kam bei der Geburt ein Töchterchen ums Leben, zwei Tage später war auch die Mutter tot. Mutter und Tochter wurden im Familiengrab der Lindegg in Rovereto begraben, während der Witwer eine neue Stelle im Nordosten des Riesenreichs antrat, um über den Schicksalsschlag hinwegzukommen. Aus den Quellen ist leider nichts über den Friedhof in Rovereto zu erfahren. Telefonanrufe in dortigen Pfarreien bleiben erfolglos. Und da auch mein lokaler Gewährsmann das Familiengrab der Lindegg in Rovereto nicht kennt, bleiben die Objekte im Museum die einzigen Erinnerungsstücke an den Eisenbahner, der es dank glücklicher Verbindung aus kleinen Verhältnissen zum ersten Stationsvorstand der »k. und k. Privatbahn Mori-Arco-Riva« gebracht hat.