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Ein Landschaftsmensch

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NAGO

Ist es Glück oder Pech, wenn einem bestimmt ist, die vorletzte Station zu bilden? Klar, dass in Nago niemand haltmacht, wenn am Dorfausgang nach langer Anreise zum ersten Mal der Gardasee ins Blickfeld kommt, zum Greifen nah, in seiner glitzernden Pracht. Das kleine Dorf bildet mit Torbole am Seeufer eine zusammengeschlossene Gemeinde. Reihen sich dort Sportanlagen, Hotels, Restaurants und Geschäfte für den Freizeitbedarf aneinander, so herrschen oben im Hügeldorf Nago Ruhe und Abgeschiedenheit, allerdings abgesehen von der Durchzugsstraße, wo sich hinter einem Kreisverkehr die Straßen gabeln: Links geht es hinunter zum See, rechts entlang der ehemaligen Bahntrasse nach Arco und weiter ins Sarcatal. An Wochenenden stauen sich hier schon frühmorgens die Urlauberautos, und wenn abends Tausende wieder zurück in die Städte strömen, bietet sich dasselbe Schauspiel. Gewiss konnte Carl Dallago die Auswüchse des Massentourismus nicht voraussehen, als er 1912 für sich und seine Familie hier in Nago ein Haus baute. Aber vielleicht ahnte er manches, als er ein Grundstück möglichst abseits am oberen Dorfrand wählte.

Er nannte sich selbst einen Landschaftsmenschen. Er liebte die Natur, wanderte oft tagelang in den Bergen herum, auch seine Werke schrieb er nach Möglichkeit im Freien unter schattenspendenden Bäumen. Auf Fotos sieht Dallago wie ein Bauer aus, den man in einen Anzug gesteckt hat, mit gebräunter ledriger Haut, wie man sie nur unter der echten Sonne bekommt. Anarchist, Rebell, Naturapostel, Sonderling: So bezeichneten ihn Zeitgenossen. Dabei deutet, als Carl Dallago 1869 in Bozen in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie hineingeboren wird, nichts darauf hin, dass er später einmal einen ganz anderen Weg einschlagen wird. Als Karl Anton Maria getauft – erst später unterzeichnete er als Carl –, war Carl Dallago der Stammhalter, drei Brüder verstarben früh, ein vierter wird den geistlichen Beruf wählen.

Die Urgroßeltern Joseph Dal Lago und Christina Alneider kamen aus dem Grödental und siedelten sich als Geschäftsleute in Borgo an. Der dort geborene Großvater Johann Peter – der zur Schreibung Dallago überging – wanderte nach Bozen aus, wo er unter den Lauben ein Manufakturkurzwarengeschäft eröffnete. Über dem Geschäft »Johann Peter Dallago«, das der Vater Josef Maria vom Großvater übernehmen wird, spielen sich die ersten Lebensjahre des späteren Philosophen und Schriftstellers ab. Nach dem Besuch der Volksschule in Bozen absolvierte Carl Dallago zwei Jahre das Franziskanergymnasium, scheint aber mit »ungenügend« in Latein am Ende der zweiten Klasse kein Vorzeigeschüler gewesen zu sein. Nach dem Wechsel auf eine italienische Realschule in Rovereto sowie dem Besuch der Handelsakademie in Innsbruck, wo er eine kaufmännische Ausbildung erhielt, endete Dallagos Schulkarriere 1888.

Die weitere Laufbahn schien vorgezeichnet: Er trat in das väterliche Geschäft ein, widmete sich sportlichen Vergnügungen wie dem Radrennsport und dem Skifahren und heiratete 1892 die Kaufmannstochter Adelheid Auckentaler. Im selben Jahr nach dem Tod des Vaters übernahm er das väterliche Geschäft. Das Ansehen der Familie Dallago in Bozen – schon damals wurden Geschäftsinhaber unter den Lauben halb spöttisch, halb bewundernd »Laubenkönige« genannt – lässt sich am Nachruf auf Carls Vater im »Tiroler Volksblatt« ermessen: Er beanspruchte eine ganze Seite, nie, heißt es dort, habe man seit den Begräbnissen von Erzherzog Rainer, Graf Sarnthein und Probst Thaler eine so große Menschenmenge gesehen. Im Jahresabstand kamen fünf Kinder zur Welt. Doch im Mai 1900 sollte Carl Dallago in zwei Bozner Zeitungen mit einer Annonce erklären, dass er das Geschäft einem Partner übergebe, der es unverändert weiterführen werde. Hinter der lakonischen Mitteilung verbirgt sich eine dramatische Lebenswende, der Bruch mit allem Bisherigen. Dallago verließ seine Frau und die Kinder und wählte die ungesicherte Existenz eines freien Schriftstellers. Eine neue Frau an seiner Seite, Franziska Moser, veröffentlichte Dallago seine ersten Werke, Gedichte und lyrische Dramen. Er nahm Kontakt auf mit Künstlerkreisen in München und Wien. Vorübergehend hatte Carl Dallago die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen, ein Schachzug, um sich scheiden zu lassen, da es damals die Zivilehe nur in der ungarischen Reichshälfte gab. Er begann für Zeitschriften zu arbeiten und ließ sich 1904 nach längeren Aufenthalten dort endgültig mit der neuen Familie in Riva am Gardasee nieder, der Ehe sollten drei Kinder entspringen.

Portraitfoto Carl Dallagos

Mehrere Anrufe bei der Gemeindeverwaltung in Riva, um Dallagos ehemaligen Wohnsitz auszuforschen, bleiben erfolglos. Meine Bekannten vor Ort können mir in dieser Angelegenheit auch nicht weiterhelfen – und selbst sein Biograf Anton Unterkircher, der für die 2013 erschienene Biografie bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial erforscht hat, hält sich bedeckt, was die Wohnorte der ersten Jahre betrifft. In dem über vierhundert Seiten umfassenden Werk ist das Geburtshaus in Bozen mit Laubengasse 42 angegeben. Bei der Anreise habe ich mich dort umgesehen und unter besagter Adresse nur ein Kleidergeschäft, keine Namenschilder, die auf darüberliegende Wohnungen schließen lassen, gefunden. Auch keine Tafel erinnert an den bedeutenden Sohn der Stadt. Vielleicht ist das die logische Folge, wenn man sich vorher türenschlagend verabschiedet hat. »Wie ich keine Freude mehr hatte am Geschäftemachen, und wie es mich immer hinauszog in die liebe lichte Welt. – Wie mich darob alle schalten: meine Untergebenen und die Standesgenossen. Wie man noch mehr erboste, als ich mich von allem losriss«, schreibt Dallago im Rückblick.

Dafür werde ich in Nago fündig, was nicht zuletzt ein Verdienst Tullio Rigottis ist. Der pensionierte Mitarbeiter einer Elek-trogesellschaft hat sich dafür eingesetzt, dass eine Straße im Ort nach Carl Dallago benannt wurde. Und: Rigotti ist im ehemaligen Haus Dallagos in Nago aufgewachsen, wo er heute noch lebt, vor dem Eingang ließ Rigotti eine Erinnerungstafel an den prominenten ersten Bewohner anbringen.

Bevor ich Tullio treffe, suche ich nach der Via Carl Dallago. An der Durchzugsstraße, wo ein Mexikanisches Restaurant mit einem Riesenkaktus Kunden anzulocken versucht, lotst mich das Navigationsgerät auf die Via Europa. Diese heutige Nebengasse bildet den alten Weg zum See hinunter. Hier sind alle vorbeigekommen: Montaigne, Goethe, das Heer der Bildungsreisenden, prominente und weniger prominente Maler und Schriftsteller. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass Dallago, der notorische Fußgänger, vor hundert Jahren die damals noch staubige Straße entlang marschierte, mit aufgeknöpftem Hemd, das Jackett lässig über die Schulter geworfen, wie er auf Fotos zu sehen ist.

In Riva lernte Dallago im September 1909 auch ein Prager Schriftstellertrio kennen, das mit der M. A. R. angereist war und in der günstigen Hotel-Pension-Riva gleich neben dem Bahnhof Quartier genommen hatte: die Brüder Max und Otto Brod sowie Franz Kafka. In seinem 1926 im »Prager Tagblatt« erschienenen »Nachruf auf eine Badeanstalt« erinnert sich Brod an die gemeinsamen Tage, die man träumend »auf den alten rissigen, von der Sonne durchglühten Steinen und Brettern der Badeanstalt mit dem klangvollen Namen Bagni alla Madonnina unterhalb der Ponalestraße« verbracht hat. Max Brod schreibt in besagtem Artikel auch über Carl Dallago. Dieser begleitete die Prager auf einem Ausflug zum Toblinoschloss im Sarcatal und »tauchte« im Madonnina-Bad mit seinem »kraftvollen bronzebraunen Leib aus dem Wasser« auf, um den jungen Freunden Gesellschaft zu leisten.

Die Via Dallago zweigt von der Europastraße ab, die Via Montaigne in prominenter Nachbarschaft. Es ist hier wie so oft, wenn man die Hauptwege verlässt. Keine fünfzehn Minuten Fußweg vom überlaufenen Gardaseeufer entfernt, trifft man auf eine andere Welt. Vor einem Haus beweist ein kleiner Junge stolz seiner Großmutter, wie er schon ohne Stützräder Rad fahren kann. Ein sonnengebleichtes Ape-Dreirad kommt mir entgegen, hinten auf der Ladefläche Kisten und Schaufeln, vorne zusammengequetscht ein dickes Paar, das von der Feldarbeit heimkehrt.

Mit Tullio bin ich am Parkplatz neben der Durchzugsstraße verabredet. Ich solle dort auf ihn warten, erklärte er am Telefon, man benötige ein sehr kleines Auto, um zu seinem Haus fahren zu können. Tullio erscheint in einem betagten Fiat Panda. Als wir einen kopfsteingepflasterten Platz mit einem runden steinernen Brunnen in der Mitte passieren und in eine wirklich enge Gasse einbiegen, wird klar, dass mein Begleiter nicht übertrieben hat. Während wir an Häusern aus eckigen Natursteinen vorbeikommen und man über wappenverzierten Bogeneingängen einen Blick auf dunkle Holzbalkone erhascht, erklärt Tullio lachend, dass er auch ohne enge Gassen ein kleines Auto besitzen würde. Früher hätten die Dorfbewohner auf den Balkonen die geernteten Maiskolben getrocknet. »In meiner Kindheit aßen wir Polenta, Polenta, Polenta – gab es mal Fisch oder ein Huhn, stürzten wir uns alle darauf.« Vor einem schulterhohen Mäuerchen parkt Tullio seinen Wagen, die Tafel an der Mauer erklärt auf Italienisch, dass hier von 1912 bis 1922 »der Naturphilosoph und Poet Carl Dallago« gelebt habe. »Bei der Einweihung musste ich eine Rede vor fünfzig Leuten halten, alles Uni-Professoren, ich war schrecklich aufgeregt«, sagt Tullio. Das Haus steht in einem Garten, so wie es 1912 erbaut worden ist: ein zweigeschossiger, viereckiger Klotz, mittelgroß, der Eingang nach Südwesten zum See ausgerichtet, darüber drei Zimmer mit Seeblick, zwei Fenster, dazu eines mit Balkontür. Die Fenster »weisen ins Freie, auf Berge und See und nach dem endlosen Raum darüber. Und verbinden so mit dem Endlosen …«, beschreibt Dallago das neue Wohnambiente. Und fordert weiter, dass der Mensch selbst »wie ein Haus« werden solle, »dessen vergängliche Leiblichkeit sich Fenster ausbricht, die ins Unvergängliche weisen.«

Dallagos Wohnhaus in Nago

Eine einfache, auf das Praktische reduzierte Bauweise war Dallago wichtig. Inspiriert von Adolf Loos, war er der Ansicht, dass sich das Gebaute der Umgebung angleichen, der Landschaft unterordnen solle. Später im Alter zog er den Schluss, zwar in dem, was man Karriere nennt, »nichts erreicht« zu haben, es aber andererseits mit dem »ornamentlose(n) Mensch(en)« weiter als Loos gebracht zu haben. Vom Garten mit dem alten Steintrog aus Dallagos Zeiten geht der Blick zum See hinunter, auf dem weiße Segelboote tanzen, rechts auf einem kleinen Hügel holt sich die Natur allmählich die Überreste des von den Franzosen während der Napoleonischen Kriege gesprengten Castello Penede zurück. Tullio zeigt ein altes Foto, auf dem das Haus und der Garten zu sehen sind, dort pflanzte Dallago einen Tannenbaum, eine Zypresse und eine Schirmkiefer. Der Garten sollte die hiesige Vegetation symbolisieren, »in der sich der Norden und Süden begegnen«, vermutet mein Gastgeber. Für den Nietzsche-Schüler Dallago bedeutet der Süden eine Landschaft, »die Großartigkeit aufkommen« lässt und die schöpferischen Kräfte weckt. Von den Bäumen steht heute nur mehr die inzwischen haushohe Kiefer, in ihrem Schatten verbringt Tullio manchen Sommernachmittag. 1910 hatte Dallago in Innsbruck Ludwig von Ficker besucht – es kam zu Gegenbesuchen am Gardasee, man beschloss die Gründung einer neuen Zeitschrift: »Der Brenner«, deren Herausgeber Ludwig von Ficker war. Dallago wurde in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Mitarbeiter.

Über Ficker lernte Dallago Georg Trakl kennen. Im April 1914 folgten Ficker und Trakl einer Einladung Dallagos und besuchten ihn in Nago. Man saß abends beim Wein zusammen, beriet sich, diskutierte. »Es ging um gegensätzliche Anschauungen über Religion, Trakl war Atheist, Dallago neigte einem mystischen Christentum zu«, sagt Tullio. Trakls Gedicht »Gesang einer gefangenen Amsel« ist eine Frucht dieser Tage in Nago. Für Tullio Rigotti besteht kein Zweifel: Im Gedicht sei von der hiesigen Landschaft die Rede, von einem Ölbaum und »grünem Gezweig«; die Freunde hätten nicht im Wirtshaus gehockt, »sondern hier, am Steintisch vor dem Hauseingang, mit Blick auf den Gardasee und die untergehende Sonne.« Leider gibt es den Tisch – zwei senkrechte Betonsockel, quer darübergelegt eine massive Steinplatte – nur mehr auf Fotos, er musste einem Wintergarten Platz machen.

Als der Krieg ausbrach und die Italiener im Mai 1915 auf die gegnerische Seite wechselten, wurde Dallago eingezogen und mit Botengängen und Materialtransporten in den umliegenden Bergen beauftragt. »Vor etlichen Jahren kam hier ein Mann vorbei – zuerst dachte ich, ein Tourist auf Wohnungssuche, doch dann stellte er sich als Freund Dallagos vor. Wir haben über den Krieg gesprochen und der Mann war überzeugt, dass Dallago als Pazifist nie einen Schuss abgegeben hat«, erzählt Tullio. Sein Vater, der ein paar Häuser entfernt aufwuchs, hätte Dallago noch gekannt. Im Dorf galt der Schriftsteller als gutmütiger Kauz. »Meinem Vater und auch den anderen Nachbarn kam es seltsam vor, dass er oft beim Guckfenster über der Haustür hinausspäte und sich dann plötzlich versteckte, als jemand näher ans Haus herankam.« Heute vermutet Tullio, dass Dallago aus Angst vor den Faschisten so gehandelt hatte: In den Zwanzigerjahren hatte er eine Reihe von Schriften, in denen er den Faschismus und den Duce scharf kritisierte, veröffentlicht. 1922 musste Dallago sein Haus in Nago wegen Schulden verkaufen. Aus Furcht vor einer Verhaftung durch das faschistische Regime emigrierte er 1926 nach Nordtirol, wo er auch gestorben ist.

Es ist spät geworden, als ich mich von Tullio verabschiede. Wir haben noch einen Espresso in seinem Wohnzimmer getrunken, wo er mir die Kopie eines Katasterauszuges vom 19. Juli 1912 gezeigt hat, in dem die Besitzrechte auf das Haus in Nago eingetragen sind: »Dallago Carlo und Dallago Francesca, Frau von Carlo« heißt es in elegant geschwungener Kurrentschrift. Dann fährt mich Tullio die inzwischen dunkle Gasse durch das Dorf zu meinem geparkten Wagen hinunter. Dabei kommen wir auch an einem niedrigen Häuschen vorbei, dem ehemaligen Bahnhof von Nago, wo heute eine einheimische Familie wohnt. Ob Dallago hier bei seinen häufigen Reisen ein- und ausgestiegen sei, frage ich Tullio. Doch mein Begleiter meint, das wäre eher unwahrscheinlich. »Dallago ging ja am liebsten zu Fuß – sogar bis Innsbruck.« Dabei hätten die Leute den Schriftsteller wegen seines unkonventionellen Auftretens manchmal für einen Herumstreuner gehalten. Es wird ihm recht gewesen sein, so konnte er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Vom eitlen Schein der Welt hatte sich der Dichter und Naturapostel ja schon lange losgesagt.

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