Читать книгу Die Winnetou-Trilogie - Helmut Schmiedt - Страница 5
Оглавление„Unsterblichkeit. Mindestens das
Gute, Edle, Schöne soll ewig leben.
Winnetou! Martin Luther King!
Marilyn Monroe!“
(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,
26. 11. 2017)
Einleitung
Karl May ist der meistgelesene Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte. Winnetou wiederum ist Mays prominenteste Schöpfung, ein Begriff auch für viele, die nie ein Buch von ihm gelesen haben, und die „neben Faust wohl berühmteste Figur der deutschen Literatur“1.
Es gibt etliche ungewöhnliche Indizien, die bereits auf den einzigartigen Rang Winnetous hinweisen. Als Karl May 1987 aus Anlass seines 75. Todestages eine Briefmarke gewidmet wurde, war darauf nicht etwa er selbst zu sehen, sondern das Winnetou-Porträt, das den Band Winnetou I in der Ausgabe des Karl-May-Verlags schmückt. Winnetou ist es auch als einziger Figur dieses Autors beschieden, in den Duden aufgenommen worden zu sein. Bei den Segeberger Karl-May-Festspielen, die alljährlich Hunderttausende von Zuschauern anlocken, ist zu erfahren, dass sie für viele jugendliche Zuschauer wegen der überragenden Präsenz ihrer ständig wiederkehrenden Hauptfigur inzwischen ‚Winnetou-Spiele‘ heißen; dass der verantwortliche Schriftsteller auch eine große Zahl von Romanen geschrieben hat, die außerhalb Nordamerikas spielen, dürfte vielen Besuchern unbekannt sein. Der Schauspieler Pierre Brice avancierte mit den Karl-May-Filmen der 1960er-Jahre in der Rolle Winnetous zum Star und Teenager-Idol, und als nach seinem Tod im Jahr 2015 sein durchaus unspektakulärer Nachlass öffentlich versteigert wurde, war das den verschiedensten Medien eine ausführliche Berichterstattung wert. Wann immer möglich, greifen künstlerische und kommerzielle Erzeugnisse, die mit Karl May zu tun haben, auf den Namen Winnetou zurück. In Ratgeber-Literatur der jüngsten Vergangenheit wird dargelegt, wie man mit Hilfe von zehn sogenannten Winnetou-Prinzipien „ethisch-moralisches Verhalten im Wirtschaftsleben“2 durchsetzen kann und wie man dank einer Winnetou-Strategie das eigene Dasein selbstbestimmt, glücklich und erfolgreich gestaltet: „Werde zum Häuptling deines Lebens“3.
Auch im Werk Karl Mays selbst spielt der fiktive Apache4 natürlich eine herausragende Rolle, denn er war in dessen literarischer Karriere – wie übrigens auch Faust in derjenigen Goethes – von den Anfängen bis zum Ende beharrlich präsent, wenn auch mit Unterbrechungen. Schon in einer der ersten kurzen Abenteuererzählungen Mays, Old Firehand (1875), taucht ein Indianer dieses Namens auf. Anderthalb Jahrzehnte später, als Mays Ruhm seinem Gipfel zutreibt, wird in großer Auflage ein nach ihm betitelter Roman veröffentlicht, der nicht weniger als drei Bände umfasst. Wiederum knapp zwei Jahrzehnte später trägt Mays letzter Roman den Titel Winnetou. 4. Band (1910) und handelt davon, welche Art von Nachruhm dem großen Häuptling angemessen ist, eine Problematik, mit der sich May – außer in Bezug auf sich selbst – nur bei dieser Figur beschäftigt, während etwa der ebenfalls nach einem heroischen Protagonisten benannte mehrbändige Old Surehand-Roman auf einen solchen Nachfolger verzichten muss. Ferner tritt Winnetou zwischendurch in vielen anderen Arbeiten seines Schöpfers auf, darunter so beliebten wie dem gerade genannten, dem Schatz im Silbersee und dem Ölprinz.
Die substanziellsten Informationen über den literarischen Winnetou vermittelt die nach ihm benannte Trilogie aus dem Jahr 1893, denn darin geht es sozusagen um Eckdaten seiner Lebensgeschichte: um den Beginn seiner Bekanntschaft mit Old Shatterhand – die, weil Old Shatterhand als Ich-Erzähler vieler Winnetou-Geschichten fungiert, in einem sehr elementaren Sinne die Grundlage dafür bietet, dass wir so viel über den Apachen erfahren –, um eine frühe Liebesgeschichte und den Tod mehrerer Personen, die ihm nahestanden, und schließlich um Winnetous eigenen Tod und sein Testament. Wer also lesen will, wie es im Grundsätzlichen um diese populärste Figur im literarischen Kosmos Karl Mays bestellt ist, muss sich vor allem den ersten drei Bänden zuwenden, die er nach ihr benannt hat und in engster zeitlicher Folge erscheinen ließ. Unzählige Leser haben das denn auch getan: Winnetou I erreicht mit vier Millionen verkaufter Exemplare die höchste Einzelauflage in der Reihe der Grünen Bände, der weithin bekannten Edition des Karl-May-Verlags, über die die Mehrheit der deutschen Leser diesen Autor kennengelernt hat. Winnetou II und Winnetou III folgen in gebührendem Abstand.
Das Gewicht des Romans bestätigt sich in zahlreichen anderen Ausgaben und Projekten. Wenn Karl May ediert wird, steht häufig Winnetou am Anfang, insbesondere der erste Band. Auch Versuche, Mays Texte in völlig neuer Gestalt anzubieten – sie haben sich in letzter Zeit gehäuft –, setzen oft mit diesem Werk ein oder beschränken sich darauf. Das war beim Karl-May-Verlag so, als er zu Beginn des 21. Jahrhunderts daranging, Mays Abenteuerromane in neuem Design und mit veränderten Titeln in gekürzter Form für junge Leser anzubieten: Die drei Winnetou-Bände tauchten da sogleich als Blutsbrüder, Der alte Scout und Tödlicher Staub auf. Das war so, als in den Jahren 2008–2010 ein österreichischer Verlag Karl Mays Winnetou neu erzählt von Engelbert Gressl publizierte; diesmal lauten die Titel Freunde am Marterpfahl, Mörderjagd in der Prärie und Das Geheimnis des Häuptlings. Eine für Unterrichtszwecke konzipierte „Schulausgabe“ des Winnetou I, die der Verlag Hase und Igel 2009 veröffentlichte, trägt den Titel Mein Blutsbruder Winnetou; sie wird ergänzt durch ein für Lehrkräfte bestimmtes Heft, das „Materialien & Kopiervorlagen“ enthält. Auch in einer vom Arena Verlag produzierten Reihe, die sich der altersgerechten Aufbereitung von Kinder- und Jugendbuchklassikern für Schüler der 2. Klasse, d. h. für Erstleser, widmet, tauchte 2014 eine entsprechend gekürzte, sprachlich angepasste und illustrierte Fassung von Winnetou I auf. Auf der anderen Seite des Editionsspektrums erschienen 2015 die drei Winnetou-Bände sowie Der Schatz im Silbersee gemeinsam in einem Schuber im Haffmans Verlag bei Zweitausendeins; diese aufwändig gestaltete Leipziger Ausgabe erfolgt „getreu nach den Erstausgaben“, legt also Wert auf die Nähe des Textes zur ersten Buchausgabe von 1893. Erzählungen Karl Mays sind darüber hinaus in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt worden; eine Version mit lateinischem Text gibt es jedoch nur von einem Winnetou-Band, in diesem Fall dem dritten: Vinnetv. Tomvs tertivs. Narratio itineraria quam in Latinum vertit Johannes Linnartz (1998).
Nahezu unüberschaubar ist die Zahl der Bemühungen, den Winnetou-Roman unter Beanspruchung künstlerischer Freiheit in anderem Rahmen als dem einer Buchveröffentlichung anzubieten. Der Bogen spannt sich von einer Theaterversion des ersten Bandes, die 1919 nach einem Buch von Hermann Dimmler am Deutschen Theater München uraufgeführt wurde, bis zu aktuellen, mit immer neuen Textversionen aufwartenden Inszenierungen auf rund einem Dutzend Freilichtbühnen des deutschsprachigen Raums. Winnetou gab es als siebenteilige Hörspielserie des WDR in den 1950er-Jahren und als deren parodistische Version unter dem Titel Ja Uff erstmal (2000), ausgeführt von Stars der deutschen Comedy-Szene, als Musical, in diversen Comics und natürlich im Film. Es wäre eine eigene, ausführliche Untersuchung wert, der multimedialen Verwertung des Winnetou-Romans systematisch nachzugehen.
Die vorliegende konzentriert sich jedoch in erster Linie auf die Buchfassung des Romans, wie sie zu Lebzeiten des Autors erschien. Das Ziel liegt darin, eine möglichst umfassende, perspektivenreiche Analyse zu erarbeiten: Wie ist er entstanden? Wie erzählt May? Wie geht er mit der historischen Realität um? Mit welcher Tendenz schildert er die Angehörigen verschiedener Länder und Kulturen, deren Mit- und Gegeneinander den Kern der Handlung bildet und seinen Ruf als „Abenteuerschriftsteller“ im Wesentlichen begründete? Welches Bild von den Geschlechtern zeichnet der Autor, und wie ist es um die sogenannten „Westmänner“ bestellt, eine Spezies von Menschen, die es sonst eigentlich gar nicht gibt, die May selbst aber in den Mittelpunkt des Geschehens rückt? Schließlich: Wie ist das Werk literaturhistorisch einzuordnen, und wie ist man nach dem Tod des Autors – von der erwähnten quantitativen Wirkung abgesehen – mit ihm umgegangen?
Angesichts der Bedeutung, die der Winnetou-Roman in Mays gesamtem Schaffen einnimmt, und im Hinblick auf seine Wirkungsmächtigkeit liegt es nahe, eine derart weitreichende Untersuchung gerade an diesem Text vorzunehmen. Schon in früheren Forschungsarbeiten, die Teilaspekte ins Auge fassen, gibt es Anzeichen dafür, dass sie sich lohnt. Eine grundlegende These zur Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts zielt beispielsweise darauf, dass diese Art von Romanen grandiose Initiationsprozesse vorführt, bei denen sich eine Figur zu einer gänzlich neuen, besseren Persönlichkeit verwandelt; wo könnte das eindringlicher beobachtet werden als an einem Roman, dessen Ich-Figur binnen kurzer Zeit vom biederen Hauslehrer in St. Louis zum bewunderten Helden im Wilden Westen aufsteigt? Selbst Themen, die zunächst nebensächlich wirken, lassen sich offenbar ebenfalls ertragreich in Bezug auf diesen Roman abhandeln: Eine Untersuchung über Mays weibliche Figuren bezieht sich schon im Titel auf Winnetou I bzw. konkret auf Winnetous Schwester, die nur hier auftaucht, deren Mörder dann aber in den beiden Folgebänden gejagt wird: Nscho-tschi und ihre Schwestern (2012). Auch Merkwürdigkeiten, die der Aufklärung harren, treten zutage: Manche Leser der Erstausgabe werden mit einiger Irritation zur Kenntnis genommen haben, dass nach dem Vorwort des ersten Winnetou der Titelheld von einem Weißen erschossen wird, während ihn nach dem Zeugnis des dritten Bandes doch unzweifelhaft ein Indianer tötet.
Die drei Winnetou-Bände werden im Folgenden mit Klammerzusätzen im fortlaufenden Text nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert, unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl; die Grundlage dieser Edition wiederum bildet die 1909 erschienene Ausgabe letzter Hand. Der Nachzügler Winnetou IV – heute eher bekannt unter dem Titel Winnetous Erben – wird auf dieselbe Art zitiert nach dem 1984 erfolgten Reprint der ersten Buchausgabe.
–Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe für die Karl-May-Stiftung. Herausgegeben von der Karl-May-Gesellschaft. Abteilung IV. Band 12, 13, 14: Winnetou. Erster Band/Winnetou. Zweiter Band/Winnetou. Dritter Band. Hrsg. v. Joachim Biermann/Ulrich Scheinhammer-Schmid. Bamberg/Radebeul 22013, 22014, 2013.
–Karl May: Freiburger Erstausgaben. Hrsg. v. Roland Schmid. Band 33: Winnetou. IV. Band. Reprint der ersten Buchausgabe von 1910. Bamberg 1984.