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Kompositionsprobleme

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Wenn man den Titel des Romans bedenkt und ebenso in Rechnung stellt, was „der Verfasser“ einleitend über sich und seine literarischen Absichten schreibt, kann man den drei Bänden ein gut durchdachtes, überzeugendes inhaltliches Grundkonzept attestieren. In Bezug auf das erzählende und handelnde Ich erfahren wir, wie aus dem gerade erst in die USA eingereisten jungen Mann der prominente Old Shatterhand wird und wie er sich dauerhaft bewährt. In Bezug auf die Titelfigur werden wir Zeuge herausragender Ereignisse seiner Familiengeschichte: Wir nehmen im ersten Band teil am Tod des väterlichen Freundes Klekih-petra, des Vaters und der Schwester Winnetous, werden im zweiten durch einen rückblickenden Bericht über die traurigen Hintergründe seiner Ehelosigkeit informiert und sind im dritten zugegen bei seinem Tod; dass die Familiengeschichte vorrangig in Sterbeszenen kulminiert, passt bestens zu der programmatisch-elegischen Einleitung, mit der der Erzähler den Leser begrüßt. Es dient der Abrundung, dass wir auch erfahren, was aus dem Mörder des ersten Bandes, aus dem Mörder des von Winnetou umschwärmten Mädchens sowie aus Winnetous Testament wird. Ebenso präsent sind die Kernszenen der Beziehung zwischen Winnetou und Old Shatterhand: die komplizierte Vorgeschichte ihrer bemerkenswerten Freundschaft sowie ihre erste und ihre letzte Begegnung. Das Gros der Episoden des zweiten und dritten Bandes hat zwar weder mit Winnetous Familiengeschichte noch mit den Eckdaten seines Verhältnisses zu Old Shatterhand direkt zu tun, präsentiert aber beispielhaft die abenteuerlichen Gegebenheiten des Wilden Westens, von den immer wieder ins Spiel gebrachten Existenzbedingungen der indianischen Ureinwohner über charakteristische Landschaftsformationen bis zu den Besonderheiten des Westmannslebens. May hat weitestgehend gleichzeitig an den drei Bänden gearbeitet; damit mag es zusammenhängen, dass er ihnen trotz des teilweise episodischen Charakters ein beträchtliches Maß an Kohärenz einschreiben konnte.

Dieser episodische Charakter ergibt sich nicht zuletzt eben daraus, dass May den Roman zu einem erheblichen Teil aus älteren Erzählungen zusammensetzte, die ursprünglich völlig unabhängig voneinander entstanden waren.

Für Winnetou I gilt dies am wenigsten: Hier stammt lediglich die das erste Kapitel einleitende Charakterisierung des Greenhorns aus einem älteren Text, der 1888/89 im Deutschen Hausschatz erschienenen Erzählung Der Scout; alles andere wurde neu geschrieben. Der Scout als Ganzes bildet dann aber das Material für die ersten vier Kapitel von Winnetou II, während das fünfte und sechste auf der Erzählung Im fernen Westen basieren, die 1879 bereits in Buchform erschienen war und ihrerseits eine bearbeitete Version von Old Firehand darstellt, 1875 im Deutschen Familienblatt veröffentlicht. Lediglich das siebte Kapitel, Der Pedlar, in dem Santer einen maßgeblichen Auftritt hat, wurde von May gänzlich neu geschrieben. Der dritte Band entstand auf ähnliche Weise. Die Kapitel 1–4 gehen auf Deadly Dust zurück, eine 1880 im Deutschen Hausschatz publizierte Erzählung, und die drei folgenden, in denen Winnetous Tod geschildert wird, auf Im „wilden Westen“ Nordamerikas, 1882/83 in der Zeitschrift Feierstunden im häuslichen Kreise erstmals gedruckt; May lag bei der Arbeit am Winnetou vermutlich ein leicht veränderter Nachdruck von Im „wilden Westen“ Nordamerikas vor, der unter dem Titel Ave Maria 1890 in der Fuldaer Zeitung zu finden war. Das achte Kapitel und das Nachwort waren wiederum Neuschöpfungen.

Der Autor ließ sich einiges einfallen, um auch in Details den Eindruck von der Zusammengehörigkeit des Ganzen zu unterstützen. So wird notiert, dass das – neu entstandene – siebte Kapitel des zweiten Bandes „drei Monate nach den zuletzt beschriebenen Begebenheiten“ spielt, und es beginnt mit dem Plan, die von der Pelzjägergesellschaft Old Firehands gesammelten „Vorräte von Fellen“ (II 449) zu verkaufen, ein Unternehmen, das Old Firehand aufgrund seiner zuvor geschilderten schweren Verletzung nicht selbst durchführen kann; als möglicher Käufer wird ein Händler genannt, der sich später als der böse Santer entpuppt – damit ist über den Anschluss an das Vorherige hinaus die Verbindung zur Familiengeschichte Winnetous wieder hergestellt. Erhebliche Probleme warf die Integration von Der Scout in Winnetou II auf, denn in der ursprünglichen Fassung war der Ich-Erzähler kein rühmlich bekannter Old Shatterhand, sondern ein veritables Greenhorn, ein Neuling im Wilden Westen, der den Ansprüchen des abenteuerlichen Lebens noch keineswegs gewachsen ist, stundenlanges Reiten nicht verträgt und sogar zweimal vom Pferd fällt; zu dem Status des hochkompetenten Westmanns, den das Ich im Verlauf von Winnetou I bereits erreicht, passt das überhaupt nicht mehr. Für die Buchausgabe strich May deshalb die meisten der ungeeigneten Scout-Stellen oder gab ihnen eine andere Motivation, indem er dem handelnden Ich eine heimliche Freude daran zuschrieb, dem berühmten Begleiter Old Death etwas vorzuspielen, seinen Namen zu verschweigen und sich noch einmal freiwillig in die Rolle des Greenhorns zu begeben.

Manchmal schlägt sich der zeitliche Abstand zur Erstveröffentlichung der jetzigen Winnetou-Teile in winzigen Textveränderungen nieder. Eine Feststellung über Bisonherden, deren Bedeutung als Nahrungsquelle für die Indianer May wiederholt hervorhebt, wurde 1880 in Deadly Dust noch im Präsens formuliert, wandert aber in der Winnetou III-Veröffentlichung von 1893 ins Präteritum: 1880 „findet der wilde Bison (…) Pässe“8 für seine Herbst- und Frühjahrswanderungen, 1893 „fand“ (III 127) er sie; mag die Gegenwartsform auch schon für das Jahr 1880 historisch fragwürdig sein, so zeigt der Eingriff doch, wie präzise May bei den Bearbeitungen der eigenen Texte gelegentlich vorging. Immer wieder ist sein Bemühen erkennbar, dem Roman trotz der komplizierten Entstehungsgeschichte größtmögliche Geschlossenheit zu verleihen, und man wird nicht urteilen können, dass er dabei vollkommen gescheitert wäre.

Aber vollständig gelungen ist ihm die schwierige Komposition bei Weitem auch nicht: Mag die Grundkonzeption der Trilogie überzeugen, mögen die Selbstbearbeitungen des Autors häufig von Umsicht und Einfallsreichtum zeugen, so entsteht doch insgesamt kein harmonisches, abgerundetes, inhaltlich schlüssiges Gesamtwerk. Verantwortlich dafür ist in erster Linie der Umstand, dass die älteren Erzählungen, auf die May zurückgreift, noch von einem ganz anderen Bild des Wilden Westens geprägt sind, als er es in Winnetou I entwirft.

Die Erzählungen der 70er- und frühen 80er-Jahre zeigen im Vergleich zu den Fehsenfeld-Jahren einen Schauplatz, der sich überwiegend durch die Allgegenwart von Gewalt, Brutalität und Grausamkeit auszeichnet. Dieser Wilde Westen ist ein Territorium der immer neuen, martialisch ausgetragenen Kämpfe und Kleinkriege, die regelmäßig zahlreiche Todesopfer fordern. Zwar kann man meistens zwischen guten und bösen Menschen eine klare Trennung vornehmen, aber hinsichtlich der Aggressivität, mit der die eigenen Ziele verfolgt werden, unterscheiden sie sich höchstens graduell voneinander. Auch die positiv gezeichneten Figuren, handle es sich nun um die sympathischen unter den Indianern oder die Westmänner, stürzen sich mit beträchtlichem Elan ins tödliche Getümmel und beteiligen sich an den vielfältigen Gräueltaten. Blutrünstig und erbarmungslos geht es zu in den Erzählungen jener Zeit, und der Gedanke, dass man die nun einmal unvermeidlichen Konflikte anders als auf diesem Wege lösen könnte, spielt keine größere Rolle.

Das gilt vor allem dann, wenn man dieses Wildwest-Bild mit dem vergleicht, das May im weiteren Verlauf der 80er-Jahre entwickelt und dann in Winnetou I besonders ausgeprägt kultiviert. Old Shatterhand und seine weißen Freunde geraten da zwar auch von einem gravierenden Konflikt in den anderen – schließlich bewegen wir uns in der Welt eines Abenteuerromans, der von solchen Auseinandersetzungen lebt –, und es ist oft nicht zu vermeiden, dass man zum Mittel physischer Gewalt greift; aber sie hängen doch der Vorstellung an, dass die Menschen eigentlich anders miteinander umgehen sollten, und zumindest bei den Apachen, vor allem bei ihren Häuptlingen, finden sie damit einigen Widerhall. Von fern deutet sich hier schon jene tendenziell pazifistische Haltung an, die May rund ein Jahrzehnt später mit dem Romantitel Und Friede auf Erden! umreißt, den er aus der im Lukas-Evangelium geschilderten Geburtsgeschichte des christlichen Erlösers bezieht. In Winnetou I findet sich eine Szene, in der ein erschütterter und empörter Winnetou nach der Ermordung seines Vaters und seiner Schwester spontan erklärt, er werde in der Reaktion darauf „die Krieger aller roten Nationen unter sich (…) versammeln“ und in einen gewaltigen Rachefeldzug gegen die Weißen führen, einen – im Urteil Old Shatterhands – „Verzweiflungskampf“, der „den wilden Westen mit Hunderttausenden von Opfern bedecken mußte“; es gelingt Old Shatterhand, den Blutsbruder zu besänftigen und damit „großes Unheil abzuwenden“ (I 406). Eine solche Szene wäre in einer Erzählung aus den früheren Jahren undenkbar gewesen.

Gerade an der Entwicklung, die die Figur Winnetou in Mays Gesamtwerk nimmt, werden die Differenzen zwischen dem frühen und dem späten Wildwest-Bild deutlich. Erstmals taucht ein Indianer dieses Namens in der später für Winnetou II verwendeten Erzählung Old Firehand (1875) auf. Er ist hier ein älterer Mann, skalpiert seine Feinde, weiß kaum etwas von den Merkmalen der fortschreitenden Zivilisation und erschrickt deshalb, als er eine Eisenbahn zu Gesicht bekommt; der Gedanke, dass man mit Feinden auch schonend umgehen könnte, liegt außerhalb seiner Vorstellungswelt, und die „Freundschaft zwischen dem Erzähler und dem Indianer ist vornehmlich eine Kampfgemeinschaft“9. In den Erzählungen der späteren Jahre wird Winnetou dann allmählich nicht nur zu einem jüngeren, sondern auch zu einem friedlicher gestimmten Menschen, dessen außergewöhnliche kriegerische Fähigkeiten zwar immer wieder betont, aber nicht mehr kontinuierlich und drastisch eingesetzt werden; auffällig ist, dass May bereits 1883 den Tod Winnetous schildert, mit der Figur aber intensiv weiterarbeitet. Allerdings ist sie, auch wenn er sie dabei in die beschriebene Richtung entwickelt, vor Rückfällen in alte Verhaltensweisen lange Zeit keineswegs gefeit. So enthält der im Guten Kameraden erstveröffentlichte, also ausdrücklich für jugendliche Leser bestimmte Roman Der Schatz im Silbersee (1890/91) eine Szene, in der Winnetou einem feindlichen Häuptling, der ihn mit schweren Beleidigungen überzogen hat, nach einer Warnung buchstäblich zu Tode tritt, indem er ihm mit dem Fuß die Hirnschale und einen Teil des Brustkastens zertrümmert. Zu den völlig andersartigen Unternehmungen des Apachen, die man sich zeitlich in den Lücken vorstellen muss, die die Bände Winnetou II und III lassen, gehört es, dass er, wie in einem später Satan und Ischariot genannten Roman des Hausschatz (1893–96) nachzulesen ist – heute in den Gesammelten Werken des Karl-May-Verlags unter den Titeln Die Felsenburg, Krüger Bei, Satan und Ischariot enthalten –, Old Shatterhand in Dresden besucht und anschließend mit ihm nach Nordafrika reist, wo es leider nicht zu einer Begegnung mit Kara Ben Nemsis orientalischem Freund Hadschi Halef Omar kommt; hier zeigt sich eine Weltläufigkeit Winnetous, die man sich bei ihrem Auftreten in den Erzählungen der 70er- und frühen 80er-Jahre nicht hätte vorstellen können.

Es liegt auf der Hand, dass der Autor der Winnetou-Trilogie in große Schwierigkeiten gerät, wenn er dem Leser des ersten Bandes einen bereits in jungen Jahren milde und tendenziell friedlich gestimmten Winnetou vorstellt und bei der Darstellung seiner weiteren Lebensgeschichte dann Texte nutzt, in denen diese Figur wie selbstverständlich das Etikett des ‚Wilden‘ im buchstäblichen Sinne rechtfertigt; da dies in einem Umfeld geschieht, das überhaupt in erster Linie als Schauplatz brutal-blutrünstiger Ereignisse Konturen gewinnt, spitzt sich das Problem noch zu. Die Winnetou-Bände II und III sind denn auch voll von Charakterisierungen und Handlungsschilderungen, die in krassem Widerspruch zum ersten Band stehen. „Es war ein wilder, grauenhafter Kampf“ (II 433): Ein solcher Satz erscheint im wörtlichen wie im übertragenen Sinne typisch für das, was sich in den beiden letzten Winnetou-Bänden zuträgt; es würde wohl auch für den ersten passen, aber nur mit der gewichtigen Ergänzung, dass andere Zustände wünschenswert wären und die guten Menschen ihnen zuarbeiten.

Immer wieder profiliert sich der Winnetou der späteren, entstehungsgeschichtlich aber früheren Auftritte vorrangig in der Rolle des erfolgreichen und rüden Kriegers und Killers, fern jener Besonnenheit, die ihn in Band I ausgezeichnet hat. Im zweiten Band zieht er einmal mit dem Revolver in der linken und dem Tomahawk in der rechten Hand in die Schlacht, und „während jede Kugel aus dem ersteren mit Sicherheit einen Comanchen niederstreckte, sauste das Schlachtbeil wie ein Blitz von Kopf zu Kopf“ (II 256); auch frönt er jetzt der Sitte des Skalpierens, was das erstaunte Ich zu der Überlegung veranlasst, er müsse sein Opfer wohl „grimmig (…) gehaßt haben“ (II 363). In Band III möchte Winnetou seine Gegner, die Comanchen, „vertilgen von der Erde“ (III 139), und die Ogellallah, „die Kröten“, will er, „wenn sie aus ihren Löchern kommen, (…) zertreten“ (III 329); auch hier sammelt er wieder Skalpe als Zeichen kriegerischen Triumphs. Es fällt auf, dass die meisten dieser Aktivitäten und aggressiven Pläne feindlichen Indianern gelten. Aber auch Weiße fallen einem im Blick auf den ersten Band irritierenden Verhalten Winnetous zum Opfer. Einem weißen Verbrecher, der in Gefangenschaft geraten ist, verspricht er die Freiheit, sofern es ihm gelingt, einen Zweig von einem in der Nähe befindlichen Baum abzubrechen und herbeizubringen, denn „der Zweig ist das Zeichen des Friedens und der Gnade“. Als der Mann sich anschickt, die scheinbar leichte Aufgabe zu lösen, und den Baum erreicht, erschießt Winnetou ihn hinterrücks und erklärt, er habe ja nun „den Zweig nicht gebracht“ (III 146); außerdem wäre er über kurz oder lang von irgendjemand anderem umgebracht worden. Kurioserweise ändert sich mit Winnetous Verhalten auch seine Sprache. Während er in Winnetou I einwandfrei und manchmal in ausgesprochen elaborierten Wendungen redet, kommen viele Äußerungen aus den Folgebänden bzw. den alten Erzählungen mit einem merkwürdigen Satzbau daher: „Winnetou wird gehen mit den weißen Männern, um zu sehen Parranoh und die Ponkas.“ (II 402)

Besonders deutlich werden die Unterschiede zwischen dem Winnetou des ersten und dem des zweiten und dritten Bandes, wenn man zwei motivisch eng benachbarte Handlungssequenzen miteinander vergleicht. Im ersten Band ist einmal der Kampf zwischen Apachen und Kiowas nach Lage der Dinge nicht zu vermeiden, und dabei gibt es Todesopfer auf beiden Seiten; die Apachen, als Sieger in der Auseinandersetzung, sind aber so großmütig, die zahlreichen überlebenden Kiowas nach einiger Zeit in die Freiheit zu entlassen. In Winnetou II gibt es unter ähnlichen Voraussetzungen einen Kampf zwischen Apachen und Comanchen. Winnetou lockt die mehrere Hundert Personen starke Truppe der Gegner in einen Talkessel, versperrt den Eingang, besetzt die Höhen mit seinen Apachen und fordert die völlig hilflosen Feinde auf, sich zu ergeben; diese sind so verblendet, sich zu weigern. Es gäbe nun verschiedene Möglichkeiten, sie weiter unter Druck zu setzen und den Konflikt nach dem Muster des ersten Bandes wenigstens halbwegs friedlich zu lösen: Die Apachen könnten nach und nach einige wenige Comanchen erschießen und so den übrigen drastisch vor Augen führen, dass Widerstand zwecklos ist; mittelfristig könnte man sie auch aushungern und damit zur Aufgabe bewegen. Aber Winnetou tut nichts dergleichen: Nach kurzen rhetorischen Bemühungen, die Gegner zum Einlenken zu bewegen, gibt er das Zeichen zur umfassenden Vernichtung. „Weit über vierhundert Schüsse krachten“ (II 291), nicht ein Comanche überlebt das Massaker, und Winnetou verlässt, nachdem er sein Bedauern über das Geschehen ausgedrückt hat, mit den weißen Freunden umgehend „diesen entsetzlichen Ort“ (II 292).

Merkwürdig – zumal im Hinblick auf die mitfühlenden Worte, die May in der Einleitung über die Indianer findet – erscheint auch das unterschiedliche Verhalten der Westmänner. Sam Hawkens etwa kann schon in Winnetou I auf die leidvolle Erfahrung zurückblicken, dass vor längerer Zeit „ein oder zwei Dutzend Pawnees über mich kamen und mir die Haare samt der Haut vom Kopfe rissen“ (I 32), und trägt deshalb eine Perücke. Das hindert ihn in diesem Band aber nicht daran, zu den Indianern, mit denen er es zu tun bekommt, ein von Pragmatismus bestimmtes, im Fall der Apachen gar zunehmend freundliches Verhältnis zu pflegen. In Band II dagegen beobachtet Old Shatterhand, dass Sam seinerseits feindliche Indianer, die er im Kampf getötet hat, skalpiert und dabei eine Freude empfindet, die auch bei naiver Lesart etwas pervers anmutet: „(…) ein Skalp macht mir mehr Vergnügen als der feinste Dickschwanz“ (II 393). Von Old Firehand, einem der angesehensten Westmänner und einem großem Freund Winnetous, wird bei seiner Einführung gar gesprochen als dem „berühmtesten unter den Indianerfeinden“ (II 355). Der Westmann Sans-ear schließlich, eine Zeitlang Begleiter Old Shatterhands in Winnetou III, hat durch die böse Tat weißer Verbrecher seine Familie verloren und durch die Grausamkeit feindlicher Indianer seine Ohren. Dafür rächt er sich nun an anderen Indianern, schneidet für jeden von ihm getöteten eine Kerbe in sein Gewehr und befreit ihn von seinen Ohren. Einer der letzten Sätze des ersten Kapitels, in dem diese Figur auftaucht, lautet so: „(…) bald lagen die toten Indsmen nebeneinander, die abgeschnittenen Ohren in den Händen“ (III 72). Sogar Old Shatterhand zeigt Seiten, die man nach seinen Auftritten in Band I wohl kaum erwartet hätte. Mit liebevoller Treue zum Detail wird in Band II ausgemalt, was geschieht, als er einen Indianer unschädlich machen muss: Hätte er ihn im ersten Band vermutlich mit seinem legendären Hieb an die Schläfe besinnungslos zu Boden gestreckt – ein für die Betroffenen in gesundheitlicher Hinsicht stets unbedenkliches, da nebenwirkungsfreies Ereignis –, so zieht er ihm nun, indem er sich von hinten anschleicht, das Messer „mit solchem Drucke durch die Kehle, daß der Schrei, welchen er auszustoßen im Begriffe gestanden hatte, als ein pfeifendes Gurgeln sich durch die Schnittwunde drängte und er (…) niedersank“ (II 441).

Aber auch in anderen Fällen als denen ausschweifender Brutalität fallen Unzulänglichkeiten der Bearbeitung auf. Der Gedanke, dass der omnipotente Old Shatterhand dem routinierten Old Death gegenüber seine wahre Identität verleugnet und sich fälschlich als Greenhorn ausgibt, mag spontan als geschickte literarische Reaktion darauf erscheinen, dass Old Deaths Begleiter in der Erstveröffentlichung der Geschichte tatsächlich ein Greenhorn ist; aber es wirkt in Winnetou II dann doch etwas befremdlich, wenn die beiden wochenlang miteinander unterwegs sind und der verkappte Old Shatterhand beharrlich an dieser Rolle festhält, die so gar nicht seinem Naturell entspricht, wie der Leser aus Band I weiß. Auffällig erscheint auch die Beziehung zwischen dem Ich und Harry, Old Firehands jugendlichem Sohn. Kaum taucht Harry vor Old Shatterhand auf, da ruht dessen „Auge mit der lebhaftesten Aufmerksamkeit auf ihm“, und eine ausgesprochen poetische Formulierung folgt: „Der Schein der sich dem Horizonte zuneigenden Sonne umflutete ihn mit goldenen Strahlen“ (II 332) – spricht ein Mann so vom Sohn eines Freundes? Die Kommunikation der beiden wird zwar durch Missverständnisse auf Seiten Harrys belastet, aber das hindert Old Shatterhand nicht daran, auf die spätere Wiederbegegnung „freudig überrascht“ zu reagieren und sich ihm sogleich „mit raschen Schritten“ (II 383) zu nähern; auch das weitere Miteinander verläuft anders als sonst zwischen Old Shatterhand und männlichen Menschen in Harrys Alter, und es dauert nicht mehr lange, bis Harry seinerseits „mir mit einem schnellen Schritte nahe trat und die Hand auf den Arm legte“ (II 385). Das alles klingt, als bahne sich hier eine Liebesbeziehung an – und so verhält es sich in der ursprünglichen Vorlage tatsächlich. In Old Firehand hat Old Firehand freilich keinen Sohn, sondern eine Tochter Ellen, in die sich der hier noch namenlose Ich-Erzähler mit konstruktivem Ergebnis verliebt. Schon in der Buchfassung Im fernen Westen entschied sich May, die Liebesgeschichte vordergründig zu tilgen und Ellen in einen Sohn namens Harry zu verwandeln; aber es hat sich bis hin zu Winnetou II einiges von der zunächst geschilderten Kommunikation im Text erhalten, das in Anbetracht der neuen Geschlechterzuordnung irritierend wirkt.

Gelegentlich hat May offenbar den Überblick über das verloren, was er sich während der Arbeit an gleich drei Bänden ausdachte. In Winnetou I ist es unzweideutig ein Mann namens White, dem für den bislang namenlosen Ich-Helden die Bezeichnung „Shatterhand“ (I 48) einfällt; rund 100 Druckseiten später notiert der Erzähler dagegen, dieses Wort habe „Wheeler ausgesprochen“ (I 152), eine andere Nebenfigur. Noch gravierender erscheint, dass May sich zunächst nicht einmal durchgängig darüber im Klaren war, wer seinen Titelhelden in den Tod schickt: Winnetou wird im dritten Band zweifellos von einem Indianer erschossen, aber in der Erstveröffentlichung des ersten Bandes ist davon die Rede, er sei gestorben „durch die mörderische Kugel eines Weißen“ (I 12 und 544); in den Auflagen ab 1904 wurde der Fehler korrigiert, für Winnetous Tod sorgt nun der Schuss „eines Feindes“ (I 12). Man kann spekulieren, wie der Widerspruch zustande kam: Als May die Einleitung schrieb, passte der Gedanke an einen weißen Mörder Winnetous bestens zu der hier entwickelten Argumentation bezüglich des großen historischen Verbrechens, das die Weißen an den Indianern begehen; als May bei der Erarbeitung des dritten Bandes den Tod Winnetous mit Hilfe eines älteren Textes schilderte, in dem der Täter ein Indianer ist, hielt er sich an die dort zu findende Version, da er sonst die Vorlage mit erheblichem Aufwand völlig hätte umgestalten müssen, und die Erinnerung an die Aussage der Einleitung war ihm momentan wohl abhandengekommen.

Das Beispiel ist typisch für einige der Misshelligkeiten, die ein aufmerksamer Leser beim Vergleich des ersten Bandes mit den beiden anderen in grundsätzlicher Hinsicht entdeckt: Natürlich hätte May im Zuge seiner Bearbeitungstätigkeit noch einiges verbessern können, wenn er sich mehr Zeit genommen hätte und aufmerksamer zu Werke gegangen wäre. Die Frage, wer für den Tod der Titelfigur verantwortlich ist, ließ sich ja später durch die Ersetzung eines einzigen Wortes widerspruchsfrei beantworten, und es wäre auch ohne gar zu großen Aufwand möglich gewesen, etwa die Sprache Winnetous durchgängig gleich zu gestalten, zwischen Harry und Old Shatterhand ein in jeder Hinsicht unverdächtiges Verhältnis herzustellen und die eine oder andere Brutalität des zweiten und dritten Bandes weiter abzumildern.

Aber auch bei noch so großem Bearbeitungsaufwand wäre eine vollständig zufriedenstellende Einheitlichkeit letztlich nicht zustandegekommen. Der Wilde Westen und seine Bewohner im ersten Band einerseits und in den Vorlagen für den zweiten und dritten andererseits sind ihrem Wesen nach zu unterschiedlich, als dass sie sich schlüssig einander hätten zuordnen lassen. Nie und nimmer passt – um nur ein besonders eklatantes Beispiel noch einmal zu nennen – der Winnetou des zweiten Bandes, der ohne zwingende Not Hunderte wehrloser Comanchen erschießen lässt, zum besonnen und tendenziell human auftretenden Winnetou des ersten. May hätte die alten Erzählungen völlig umgestalten und mehr oder weniger neu schreiben müssen, um sie ganz konsequent mit dem übrigen Text der Trilogie zu verbinden – diese Arbeit hat er sich nicht gemacht, die Zeit drängte, und der Vertrag mit Fehsenfeld sah ja vor, die alten, verstreut erschienenen Erzählungen in der neuen Buchreihe zugänglich zu machen. So ist ein Werk entstanden, das mancherlei Spuren eines souveränen Grundkonzepts und einer schlüssigen Komposition zeigt, aber auch voller Widersprüche und Brüche steckt. Wenn man es positiv sehen will und von der schlichten inhaltlichen Ebene abstrahiert, kann man den drei Bänden den Charakter einer notdürftig in Romanform gebrachten Anthologie zusprechen, eines Sammelwerks, das exemplarisch Einblicke in die Entwicklung der Wildwest-Epik Karl Mays gewährt, von den Arbeiten der mittleren 70er-Jahre bis zum Beginn der 90er, und dabei nahezu sämtliche wichtigen Motive und Schauplätze vorführt.

May selbst sind die Fragwürdigkeiten des Winnetou nicht entgangen. Am 16. Oktober 1892 teilt er Fehsenfeld mit: „Am Liebsten schriebe ich alle 3 Bände neu. Es müßte ein ethnographisch-novellistisches Meisterstück werden, nach welchem 100,000 Hände griffen (…) Es ist wirklich nicht leicht, diese zusammenhanglosen Einzelerzählungen (…) so zusammenzufassen, daß sie als ein einziger Guß und Fluß erscheinen. Doch Allah will es, und so wird es gehen!“ Ein halbes Jahr später, am 16. März 1893, legt er noch einmal dar, wie schwierig es ist, aus inkohärenten Materialien Einheitliches zu produzieren: „Der Inhalt von Bd. 2 und 3 setzt sich aus einzelnen Erzählungen zusammen, welche ohne innere Verbindung sind. Diese muss ich erst herstellen. Es giebt da viel hinwegzunehmen, zu ändern und hinzuzusetzen.“10

Man kann die ganze Angelegenheit auch so zusammenfassen: Ein Schriftsteller erarbeitet sehenden Auges und mit höchst respektablem Ergebnis einen Roman, dessen zweiter und dritter Teil viel von dem dekonstruieren, was er im ersten gestaltet; wenn man den Hintergründen dafür nachgeht, stößt man auf ein kompliziertes Geflecht aus literarischer Entwicklung, ästhetischer Ambition, kommerzieller Erwartung und nüchternem Pragmatismus. Schön, dass mittlerweile längst weit mehr als „100,000 Hände“ nach einem solchen Musterbeispiel der Grundprobleme des literarischen Feldes gegriffen haben.

Die Winnetou-Trilogie

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