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I. Entstehung und Struktur Leben und Streben

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Es ist Karl May nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einst zu den wirkungsmächtigsten Schriftstellern der deutschen Literaturgeschichte gehören sollte. Das „Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers“5, als das er sich selbst bezeichnete, wurde am 25. Februar 1842 in dem erzgebirgischen Städtchen Hohenstein – heute: Hohenstein-Ernstthal – als Sohn eines blutarmen Webers geboren und wuchs in extrem kümmerlichen Verhältnissen auf. Die in Heimarbeit tätigen Handwerker waren durch die internationale Ausbreitung maschineller Herstellungsverfahren in großen Fabriken und das Geschäftsgebaren ausbeuterischer Unternehmer ins Elend geraten: Opfer der Industriellen Revolution, deren Leid an anderen Orten zu den bekannten Weberaufständen führte. In seiner Autobiografie berichtet Karl May eindrucksvoll vom allgegenwärtigen Hunger jener Jahre, von milieuspezifischen Krankheiten sowie von einem Vater, der die Familie gelegentlich mit sadistischen Prügelorgien bedachte.

Dem überdurchschnittlich begabten Jugendlichen gelang es, den misslichen Umständen eine Ausbildung zum Lehrer abzutrotzen und erfolgreich zu beenden. Allerdings erwies sich die bürgerliche Berufslaufbahn nach kurzer Zeit als Sackgasse. Schon während seiner Seminarzeit ließ sich der junge Pädagoge einiges zuschulden kommen, was Eingang in die Personalakte fand, und die Verstöße setzten sich zu Beginn der selbstständigen Lehrtätigkeit fort. Sie reichten vom Diebstahl einiger Kerzen aus dem Vorrat des Ausbildungsseminars über eine unziemliche Annäherung an die Ehefrau eines Mannes, bei dem er sich eingemietet hatte, bis zur Aneignung der Uhr eines anderen Mannes, mit dem er sich danach die Unterkunft teilen musste. Dieses Delikt trug ihm eine Gefängnisstrafe von sechs Wochen ein; daraufhin wurde er aus der Liste der Lehramtskandidaten ein für alle Mal gestrichen. Wenig später geriet May endgültig auf die schiefe Bahn. In den Jahren 1864/65 und 1869 vagabundierte er als Dieb, Hochstapler und Betrüger durch die Umgebung seines Heimatortes; 1865–1868 und 1870– 1874 saß er die daraus resultierenden Haftstrafen ab. Anschließend gelang ihm eine umfassende Resozialisierung, auch wenn er 1879 noch einmal eine dreiwöchige Gefängnisstrafe wegen Amtsanmaßung auferlegt bekam. Von nun an konzentrierte er sich auf eine Tätigkeit als Schriftsteller und zunächst auch als Redakteur. Die Arbeit für verschiedene Publikationen des Dresdner Verlegers Heinrich Gotthold Münchmeyer, die beides umfasste (1875–1877), vermittelte ihm wertvolle Erfahrungen auf dem literarischen Feld im weitesten Sinne.

Obwohl nun also die schriftstellerische Laufbahn Karl Mays langsam in Gang kam, war noch keineswegs zu ahnen, dass er später vor allem mit weltumspannenden Abenteuererzählungen Erfolg haben würde. Bei den ersten Veröffentlichungen aus seiner Feder, von denen wir wissen, handelt es sich um kleine Gedichte unter Titeln wie Mein Liebchen – gemeint ist eine Tabakspfeife –, Liebeslied-Recept und Wandergrüße. Die anderen Arbeiten dieser Jahre bewegen sich in unterschiedlichsten Bereichen: Sachtexte, zu denen Geographische Predigten ebenso gehören wie ein voluminöses Buch der Liebe, Humoresken, Dorfgeschichten, historische Novellen. Karl May probiert aus, was er zu leisten vermag und was der Markt des Publikationsbetriebs verlangt bzw. ermöglicht. Auch kurze Erzählungen entstehen, die abenteuerliche Ereignisse in fernen Ländern schildern. Deren erste heißt Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling. Aus der Mappe eines Vielgereisten, Nr. 1; die Figur Inn-nu-woh lässt mit dem Klang ihres Namens und einigen anderen Eigenschaften bereits an einen späteren legendären Apachen denken.

Allmählich kristallisiert sich heraus, dass es dieses Genre ist, in dem Karl May am erfolgreichsten arbeitet. Ende der 70er-Jahre wird er mit Abenteuererzählungen zum regelmäßigen Mitarbeiter im Deutschen Hausschatz, einer renommierten Familienzeitschrift des katholischen Milieus, und seit 1887 publiziert er in Der Gute Kamerad, einer Zeitschrift für die männliche Jugend. Daneben wird er auch noch einmal für Münchmeyer aktiv, indem er ihm – überwiegend unter Pseudonym – fünf umfangreiche Fortsetzungsromane schreibt, die nach den damaligen Maßstäben des gutbürgerlichen Geschmacks als Trivialliteratur anrüchigster Art gelten, vergleichbar den Groschenheften des folgenden Jahrhunderts. Zu Beginn der 90er-Jahre hat May sich als Unterhaltungsschriftsteller etabliert, aber der materielle Erfolg hält sich immer noch in engen Grenzen.

Die jüngere Literaturgeschichte zeigt, dass der Weitblick und das Geschick von Verlegern oft eine wichtige Rolle bei der Entwicklung literarischer Karrieren spielen. Bei May wird diese Funktion nach seinem Tod der Jurist Euchar Albrecht Schmid mit der Gründung des Karl-May-Verlags übernehmen; in Bezug auf Mays Lebzeiten ist insbesondere Friedrich Ernst Fehsenfeld zu nennen. Fehsenfeld gründet 1890 in Freiburg i. Br. einen eigenen Verlag, dessen Veröffentlichungen sich zunächst den verschiedensten Themen widmen. Bei der Suche nach profitablen Texten stößt er auf die Zeitschriften-Publikationen Mays, ist fasziniert von ihnen und konfrontiert May brieflich mit dem Gedanken, sie in Büchern gesammelt vorzulegen. May reagiert erst einmal zurückhaltend, aber ein persönlicher Besuch Fehsenfelds führt dann zu der angestrebten Zusammenarbeit. Am 17. November 1891 schließen Fehsenfeld und May einen Vertrag, der die Buchausgabe der zuvor verstreut erschienenen Reiseromane Mays vorsieht. Die auf diese Weise entstehende Edition wird 1912, in Mays Todesjahr, 33 Bände umfassen, darunter auch einige, die May nicht mit älteren Arbeiten füllt, sondern ganz oder teilweise neu schreibt. Schon nach kurzer Zeit fällt der finanzielle Ertrag so gewaltig aus, dass May es sich leisten kann, in Radebeul bei Dresden eine ansehnliche Villa zu kaufen, die er „Villa Shatterhand“ nennt; später wird er eine anderthalbjährige Orientreise von seinen Einkünften finanzieren. In den Jahren nach 1900, als May aus verschiedenen Gründen ins Zentrum heftiger öffentlicher Kontroversen rückt und literarisch neue Wege geht, bricht der Verkauf allerdings ein, und Fehsenfeld denkt gelegentlich daran, seinen Verlag zu verkaufen. In die bittere Armut seiner Kinderzeit fällt May allerdings auch nicht annähernd zurück, zumal er Fehsenfeld im Zuge einiger Vertragsveränderungen immer günstigere Konditionen abgerungen hat.

Als die Buchreihe eröffnet wird, ist es wichtig, gleich einen ebenso attraktiven wie umfangreichen Roman zu präsentieren, und so werden 1892 sechs Bände veröffentlicht, die – mit kleinen Veränderungen und einem eigens geschriebenen Anhang – das heute als Orientroman bzw. Orientzyklus bekannte Werk enthalten, das zuvor in Fortsetzungen über mehrere Jahre hinweg im Deutschen Hausschatz erschienen war: Durch Wüste und Harem (später: Durch die Wüste), Durchs wilde Kurdistan, Von Bagdad nach Stambul, In den Schluchten des Balkan, Durch das Land der Skipetaren, Der Schut. Der nächste Roman führt auf den anderen großen Schauplatz der May’schen Abenteuerzählungen: in den sogenannten Wilden Westen Nordamerikas, durch den sich Mays Ich-Held, der im Orient Kara Ben Nemsi heißt, unter dem Namen Old Shatterhand bewegt. In der Besinnung auf eine schon vorher bestens eingeführte „prächtige Gestalt“6 gibt May dem nun entstehenden Werk den Namen Winnetou, der Rote Gentleman. Er kalkuliert zunächst mit zwei Bänden, entscheidet sich dann aber für eine Trilogie.

Deren Komposition – im doppelten Sinne als Erstellung des Textes und als deren Ergebnis – gestaltet sich überaus heikel und kompliziert. Während May den ersten Band weitestgehend neu schreibt, füllt er die Bände zwei und drei überwiegend mit verschiedenen älteren Erzählungen, die er im Hinblick auf den jetzigen Zusammenhang natürlich verändern muss, und ergänzt sie um einige Kapitel, mit denen er sinnvolle Übergänge und Ergänzungen zu schaffen und eine harmonische Verbindung im Sinne einer schlüssig fortlaufenden Handlung herzustellen versucht. Eine Einleitung in Band I und ein Nachwort in Band III runden den umfangreichen Text ab.7 Das Verfahren ist also deutlich anders als bei der Neupublikation des Orientromans: Da reproduziert die Buchausgabe im Wesentlichen einen fertigen, in sich geschlossenen Text, während der Fehsenfeld-Winnetou zum erheblichen Teil aus früheren Erzählungen besteht, die völlig unabhängig voneinander geschrieben und veröffentlicht worden sind; in einigen der Folgebände wird May noch einmal anders verfahren und mehrere separat entstandene Erzählungen ohne Versuch einer nachträglichen Verknüpfung aufnehmen, die Bücher also als Sammelbände anlegen. Betrachtet man den Verlagsvertrag mit Fehsenfeld, so ist das Procedere beim Winnetou zweifellos zulässig, vielleicht sogar wünschenswert, aber es stellt den Autor vor Probleme eigener Art und steht literaturgeschichtlich als etwas überaus Seltenes, wenn auch nicht einzig da; z. B. hat Honoré de Balzac seinen Roman Die Frau von dreißig Jahren (1842) ebenfalls aus mehreren Werken zusammengesetzt, die ursprünglich eigenständig und getrennt voneinander erschienen waren, und auch Raymond Chandler ist so verfahren, z. B. bei Der große Schlaf (1939).

Was erzählt nun der auf diese Weise erarbeitete Roman aus dem Jahr 1893?

Die Winnetou-Trilogie

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