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Der stumme Frühling. Ein globales Lernprojekt
Оглавление1962 war Rachel Carsons Buch «Der stumme Frühling» in den USA und fast gleichzeitig in der Bundesrepublik Deutschland erschienen. In den USA war damit eine heftige Kontroverse ausgelöst worden, die sich über die gesamten sechziger Jahre hinzog und schliesslich im Jahre 1972 zum Verbot der Produktion und Anwendung von DDT führte. Die meisten westlichen Staaten schlossen sich wie die Bundesrepublik diesem Verbot an.
Es lohnt sich, jene Auseinandersetzung in Erinnerung zu rufen, weil sie aus heutiger Sicht gewissermassen als Prototyp gelten kann für Lernprozesse der Öffentlichkeit, die eine Änderung der vorherrschenden Sichtweise einschliessen. Rachel Carson hatte in ihrer Studie nicht nur das Verschwinden der Singvögel erklärt, die von dem Insektengift umgebracht wurden – meist DDT –, das sie mit ihrer Nahrung aufnahmen und in ihrem Organismus speicherten, sondern auch dargelegt, dass Menschen keineswegs vor dem Gift gefeit waren. Auch sie nahmen es mit ihrer Nahrung auf – in Gemüse, Salat, im Fleisch von Schlachttieren –, und das in ihrem Fettgewebe angespeicherte DDT erwies sich als karzinogen, hatte also auch auf Menschen eine fatale Wirkung. Carson schilderte eine Reihe von bestens untersuchten Fällen, die diese Konsequenz in ihrer ganzen Bösartigkeit belegten. Vermutungen in ähnlicher Richtung waren bereits Jahre vorher hier und da geäussert worden, und es gab amtliche Empfehlungen zum Umgang mit Insektiziden, die Schutzmassnahmen für Menschen aufführten. Aber der systematische Zusammenhang einer Verkettung der Lebewesen miteinander und der Mechanismus der Akkumulation von Giftstoffen war dem breiten Publikum der Nichtfachleute noch weitgehend neu. Rachel Carsons Informationen brachten die Unausweichlichkeit der Vergiftungsprozesse zu Bewusstsein.
Leser mit einer Neigung zur Satire hätten sich nach der Lektüre des Buches bemüssigt sehen können, das Foto vom Erdaufgang auszumalen, etwa durch den Auftrag einer toxisch anmutenden Farbgebung.
Mächtige Chemiekonzerne – DuPont, Monsanto – suchten die Verfasserin des «Stummen Frühlings» zu diskreditieren und investierten beträchtliche Mittel in die Auseinandersetzung (Monsanto allein soll dafür 250000 USD ausgegeben haben), aber Carson hatte unter Wissenschaftlern einen guten Ruf als hervorragende Biologin, spezialisiert auf die Lebewesen der Meeresküste. Und sie hatte das Manuskript in enger Zusammenarbeit mit Fachleuten verfasst, die ihr detaillierte Kenntnisse und Erfahrungen zur Verfügung stellten. Wichtig war auch die Besonnenheit ihrer Folgerungen für die landwirtschaftliche Praxis, sie forderte kein Totalverbot, sondern die umsichtige und sparsame Anwendung. Entscheidend waren vielleicht ihre Auftritte im Fernsehen und als Zeugin vor dem Kongress. Sie erschien, im Gegensatz zu ihren polemischen Kontrahenten, als ganz und gar sachbezogen, überlegen sachkundig und souverän.
Der interessierteren Öffentlichkeit war sie vor der Kontroverse als liebenswerte Verfasserin weit verbreiteter Fachbücher über das Leben der Ozeane bekannt geworden, Bücher, in denen sie Fachkenntnisse mit poetischen Schilderungen verband. (Mir selber ist eine Passage aus dem 1957 auf Deutsch erschienenen «Am Saum der Gezeiten. Eine Küstenwanderung» in Erinnerung, in der sie eine Krabbe beschreibt, die auf den Steinen im Brandungssaum auf das Ansteigen der Flut wartet: Diese Krabbe sei auf ähnliche Weise in den Rhythmen ihrer Welt zu Hause wie sie, die Betrachterin, in ihrer eigenen.) Rachel Carson legte als Schriftstellerin ihre Zuneigung zu allen Lebewesen an den Tag. Das Anklagen fiel ihr schwer, aber die zunehmende Vergiftung der Welt liess ihr keine Wahl. Sie hat das Buch «Der stumme Frühling» dem freundlichen Albert Schweitzer gewidmet, den sie aber mit einer düsteren Vorhersage zitiert: «Für Albert Schweitzer, der gesagt hat ‹Der Mensch hat die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen, verloren. Er wird am Ende die Erde zerstören›»
Mir erscheint der Text aus dem Jahre 1962 als Grundlage für das Verständnis der heutigen Lage der Dinge immer noch bestens geeignet. Im Kapitel «Elixiere des Todes» erklärt die Verfasserin die chemische Zusammensetzung und Wirkweise von Giften, vor allem die der Chlorkohlenwasserstoffe (unter denen DDT das schwächste ist), aber auch die der organischen Phosphate (Parathion – E 605, Malathion) und schliesslich die der systemischen Insektizide, die sie mit dem giftigen Gewand vergleicht, das – nach dem altgriechischen Mythos – die Zauberin Medea ihrer verhassten Nachfolgerin in Jasons Bett zum Geschenk machte. Neonikotinoide sind systemische Tötungsmittel, die zu Rachel Carsons Zeiten noch nicht bekannt waren. Sie wurden bei Bayer erst im Lauf der 1980er-Jahre entwickelt und 1985 patentiert. Auch Glyphosat, Hauptbestandteil des von Monsanto mit enormen Umsätzen vertriebenen Herbizids Roundup, war in den sechziger Jahren noch nicht auf dem Markt. Carson behandelt die speziell zum Abtöten von Pflanzen («Unkraut») entwickelten Gifte in ihrer Auflistung von «Elixieren des Todes». Sie berichtet aus Regionen Amerikas von Fällen, in denen selbst hoch verdünnte und vergleichsweise spärliche Dosierungen der als «harmlos für Mensch und Tier» geltenden Herbizide zum Verschwinden von Fischen, Vögeln und Säugetieren führten. Das anfangs zur Überraschung der zuständigen Fachleute, deren Recherchen dann allerdings zeigten, dass selbst winzige Mengen der Gifte von kleinsten Algen aufgenommen und gespeichert werden – nichts verschwindet – und dass die Zunahme der Giftstoffe über die Nahrungskette in enormen Sprüngen anschwillt, sodass Tiere am Ende der Nahrungskette von einer Überdosis umgebracht werden, deren Heftigkeit sich keiner hatte vorstellen können.
Während ich diesen Text im Jahr 2019 schreibe, ist in verschiedenen Gerichtsbarkeiten weltweit die juristische Auseinandersetzung darüber in Gang gekommen, ob Glyphosat als Krebs erzeugende Chemikalie einzuordnen ist oder als ein für Menschen harmloses Mittel der Agrarwirtschaft. Carson wäre, so scheint mir, auf Seiten der Glyphosat-Gegner, die den Einsatz des Giftes zu verhindern suchen. Die Quintessenz von Carsons Lehre liegt in der Vorstellung des Verwobenseins aller Lebewesen miteinander. Das ist die elementare ökologische Einsicht, die sämtliche nachfolgenden Einsichten informiert und durchtränkt. Ganz gleich, ob ein Gift an einer bestimmten Stelle der Nahrungskette eingeimpft oder über Wasser, Luft und Boden in die Welt eingeschleust wird – es verbreitet sich über alle Lebewesen bis in fernste Gegenden hinein und landet über kurz oder lang mit Sicherheit auch im Organismus von Menschen. Wir speichern die Insektizide, Herbizide, Pestizide ebenso wie Schwermetalle, Arsen, Dioxin und andere Schadstoffe in unseren Lebern und Lungen und in den Fettschichten um unsere Eingeweide. Alle Gifte, die Insekten, Pilze, unerwünschte Pflanzen töten, sollten Biozide heissen, sagt Rachel Carson an einer Stelle am Anfang ihres Textes: Lebenskiller.
Das Buch erschien 1962 neben der Buchausgabe als eine Artikelserie im «New Yorker» und erreichte als «Book of the Month» auch Schichten der Bevölkerung, die ausser Büchern dieser Reihe andere Lektüre kaum kannten.
Die von der Chemieindustrie betriebene Kampagne gegen Carsons Plädoyer mobilisierte eine Gegenbewegung wissenschaftlicher Kräfte auf Seiten Carsons und beeinflusste die Bildung der öffentlichen Meinung, was zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses des Kongresses beitrug.
Rachel Carson selbst war gezwungen, sich aus dem immer weitere Kreise erreichenden Aufklärungsprozess zurückzuziehen: Seit der Entfernung eines malignen Tumors aus der Brust im Jahr 1960 hatte sie sich einer Strahlenbehandlung unterziehen müssen, die sie zunehmend schwächte. 1964 starb sie.
In den folgenden Jahren formierte sich eine Kampagne zum Verbot von DDT, und 1970 wurde die Umweltbehörde (EPA) gegründet, von der es hiess, sie sei der verlängerte Schatten des «Stummen Frühlings». Auch das im Jahre 1972 in den USA – denen sich alsbald die meisten westlichen Länder anschlossen, so auch die Bundesrepublik Deutschland – verfügte Verbot von DDT kann als Ergebnis von Rachel Carsons Argumentation in diesem Buch bezeichnet werden.
Wer hätte dies Ergebnis erwartet? Und doch war es geschehen: Beharrliche Aufklärung der Öffentlichkeit und der entscheidenden Personen in Politik und Justiz hatten den mächtigen Verbund von Agrarwirtschaft und Industrie in diesem Punkt bezwungen und zum Verbot der Produktion und der Anwendung des überall eingesetzten Umweltgiftes DDT geführt.