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Ricketicketack
II

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Sie zog mit der Kuh zum Bache, das spärliche Gras aufsuchend, welches seinen Rand umsäumte. Schritt vor Schritt ging sie vor dem Thiere her, welches an einem Leitseil ihr folgte. Da wo die Haide an die tiefer liegenden moorigen Wiesen stößt, und Erlen und Wachholder dichter sich drängen, verließ sie den Fußpfad. Eine Buche steht da einsam; ein Vogel hat sie wohl gesäet, denn so weit man sehen kann, findet man kein Laub, welches dem ihren gliche. An dem Fuße des Baumes sank Lena nieder; sie beugte das Haupt tief, schaute regungslos vor sich hin, das Leitseil entfiel ihrer Hand und die gewohnte Träumerei kam über sie.

Nun, in freier Luft, unter dem schönen tiefblauen Himmel entlastete sie ihr Herz von der ganzen schwere der Betrübniß, welche über sie gekommen; ihr Mund klagte nicht, kein Seufzer entstieg ihrer Brust, doch ein stilles Bächlein heller Perlen rollte in ihren Schooß. Lange, sehr lange saß sie also da; doch ließen ihre Thränen langsam nach und endlich hob sie das Haupt und sang ruhiger ihr altes, liebes Liedchen:

Ricketicketack,

Ricketicketu.

Eisen warm,

Hoch den Arm,

schlaget zu,

Ricketicketu.


Was bedeuteten nur die sonderbaren Verse? Man würde Lena vergebens darum gefragt haben, denn sie wußte selber nicht, wie es kam, daß ohne ihr Wissen, ohne ihren Willen fast die trippelnden Worte ihr unaufhörlich auf die Lippen kamen. Schwach erinnerte sie sich, daß Jemand einst ihr dieselben vorgesungen hatte, doch das war schon lange, lange her. Obschon es nur undeutlich sprach, hatte sie es doch immer lieber gewonnen und immer mehr wurde es der Gefährte ihrer Freuden und Leiden.

Nachdem sie es einigemal wiederholt, und immer fröhlicher es wiederholt, schien sie ganz ihre unglückliche Lage vergessen zu haben; Friede strahlte aus ihrem Angesicht, sie stand auf, brachte munterer die Kuh an eine bessere Stelle der Weide und lief dann einem Sandhügel zu, der sich ein wenig weiter über die Fläche erhob.

Man sah, daß sie dieses Plätzchen öfter besuchte, denn die Stelle, wo sie sich niederließ, war von öfterm Sitzen tief eingedrückt. Die Hände am Knie schaute sie von da auf einen bläulichen Punkt am äußersten Ende des Horizonts hin. Es mochte wohl eine Stadt sein, dieser Punkt, oder ein größerer Ort; immerhin lief ein Weg von ihm aus und in hundert spielenden Bogen über die Haide hin, bis er sich an dem Pachthofe in dem Moore verlor. Sie glich der Waise eines Fischers, die von hoher Dünenspitze das ruhigere Meer überschaut, eines Bootes harrend, welches doch nie mehr wiederkehren wird. Doch war ihr Loos nicht ganz ein solches. Wohl erharrte sie auch etwas, doch wußte sie nicht, was es war, wonach ihr Herz sich sehnte. Unbeweglichen Auges schaute sie dem Wege nach, hoffend wohl, daß auf ihm einst ihr Erlöser zu ihr eilen würde; dabei aber kannte sie doch Niemand in der Welt, ihre Umgebung ausgenommen, und Hunderte von Reisenden konnten vorüberziehen, ohne daß sie Acht auf einen derselben gegeben hätte. Närrin nannten die Töchter des Pachthofes sie darum, doch das war sie durchaus nicht.

Stetes Leiden und der Druck gänzlicher Verstoßenheit hatten Lena sich ein eignes Leben nach innen schaffen lassen, die Einsamkeit, zu welcher sie meist verwiesen war, ihren Geist verfeinert und ihre Phantasie gestärkt. Was mit ihr vorging, das erwog und überdachte sie gar wohl, das fühlte sie tief, doch die summe alles Erwägens, alle ihre Gefühle verschloß sie tief in ihrer Brust.

Schon beschien die Sonne den westlichen Abhang des Sandhügels; es war seit lange Nachmittag und noch immer saß Lena, das Auge fest auf dem blauen Punkte. Sie hatte Hunger und fühlte es wohl und herbe, doch blieb sie sitzen.

Da drang ein junger Bauer vorsichtig durch die Erlen am Rande des Baches hin; dann und wann wandte er den Kopf nach dem Pachthofe, als fürchte er entdeckt zu werden, bis endlich er an der Buche stand, an welcher das Mädchen vorher geweint hatte. Dort angekommen kehrte er sich gegen den Sandhügel, hielt die Hände zu beiden Seiten des Mundes, um der stimme eine sichere Richtung zu geben, und rief:

»Lena! Lena!«

Die Gerufene stand auf von ihrem Sitze und nahte langsam dem Bauern, der mit dem Finger neben sich zeigend, sie zum Sitzen einlud. Als sie dieß gethan, holte er unter seinem Kittel eine dicke schnitte Brods und ein Stück Speck hervor, theilte das letzte auf dem Brode mit seinem Messer in kleine Stückchen und bot es dem Mädchen; dann langte er auch ein Krüglein Bier aus der Tasche, lehnte es an einen Wachholderstrauch und sprach leise:

»Da Lena hast du Essen und Trinken.«

Das Mädchen schaute ihn mit tiefem Danke an und genoß das Gebrachte.

»Jan, Gott wird dir lohnen,« sprach sie dann, »daß du mir also beistehst in meinem Jammerleben. Ich dank dir für deine Liebe und Freundlichkeit.«

Ein heftiger Schmerz wühlte unterdeß in der Brust des jungen Bauern; er sprach nicht, doch sank eine flüchtige Thräne von seiner Wange herab. Als Lena gegessen hatte, legte sie die Hand auf seine Schulter und sprach:

»Jan, mein liebster Freund, betrübe dich nicht mehr um mich. Deine Thränen thun mir mehr weh, als die Schläge deiner Mutter.«

»Vergieb’s ihr, Lena, um meinetwillen, denn wenn du ja stürbest, ohne ihr vergeben zu haben und ohne für sie zu beten, dann gäb es ja keinen Himmel für sie.«

»Ich hab ihr nichts zu vergeben, Jan; in mir wohnt kein Haß, ich denke selbst nicht mehr an mein Leiden. Ich habe bereits alles vergessen.«

»Betrüge mich nicht, Lena. Wer kann solche Mißhandlungen vergessen?«

»Ich hab’s dir mehr denn einmal gesagt und du verstehest mich nicht, weil ich mich selbst kaum verstehe. Während ich geschlagen und gestoßen werde, fühlt mein Körper wohl Schmerz, doch mein Geist bleibt frei und träumt fort von dunkeln, mir unbekannten Dingen, die vor ihm hin und her schießen und mich freuen und erheitern. Die Träume sind eine Stärkung für meine Seele, in ihnen vergesse ich Alles, sie sprechen mir von einem andern bessern Leben und lassen mich hoffen, daß ich nicht stets eine Waise bleiben werde. Soll Gott im Himmel mein Vater werden, oder soll ich meine Mutter sehen, bevor ich sterbe? ich weiß es nicht.«

»Deine Aeltern sind todt, Lena. Meine Mutter hat es mir oft gesagt, doch sei darum nicht betrübt. Sieh einmal, was ich schon für ein paar Arme habe. Noch einige Jahre und ich bin ein starker Mann. Ach, bleib doch noch so lange leben, Lena, ich will ja gern vom Morgen bis zum Abend für dich arbeiten, und müßt ich ewig dein Knecht sein.«

»Mein Knecht, du. Nein, das nicht, Jan. Sieh mich nur an und sage mir, was du auf meinen Wangen siehst.«

Der junge Bauer schlug beide Hände vor die Augen und seufzte still:

»Den Tod, ach den Tod.«

Lange blieben Beide stumm nebeneinander sitzen. Endlich faßte Jan Lena’s Hand und sprach:

»Lena, du hast deine abgestorbenen Aeltern nicht gekannt, bist von Kindsbeinen an bei meiner Mutter aufgezogen und hast da meiner Seel! mehr Betrübniß ausgestanden, als zehn Menschen tragen können. Wenn das fortdauerte, dann müßtest du sterben, das muß ich mit Thränen in den Augen selbst bekennen. Wenn man dich aber von jetzt an ruhig ließe und dich gut behandelte, würdest du dann nicht leben bleiben?«

»Leben bleiben«, wiederholte Lena. »Wer kennt sein Todesstündlein? Ich weiß, was du thun willst. Warum aber meinetwillen deine Mutter reizen und ihren Haß auf dich ziehen?«

»Warum?« rief Jan mit halbem Aerger. »Warum? Das weiß ich nicht, aber das kannst du glauben, wenn du so einen festen Gedanken oder einen Traum hast, der dir überall nachgeht, dann hab ich auch einen Gedanken, der mich bei der schwersten Arbeit so wenig, als beim tiefsten Schlafe verläßt. Der Gedanke ist, daß ich dir das Böse vergüten muß, was meine Mutter dir thut. Ach Lena, ich kann weder so schön noch so kräftig sprechen, wie du, aber um Gotteswillen, zweifle nicht dran. Von dem Tag ab, wo du stirbst, arbeite ich keinen schlag mehr, und dann legen sie mich auch bald neben dich auf den Kirchhof unter’s Gras. Und wenn du mich fragst, warum, dann weiß ich das auch nicht. Sieh, da, unter meinem Kittel klopft ein Herz das fühlt; du bist ein armes Waisenkind und das ist mir genug. Ach, bleib dann auch leben, Lena, bis ich großjährig bin, meine Arbeit wird . . .

»Nach Haus mit der Kuh!« rief in der Ferne eine drohende Stimme.

Jan stand auf, blickte noch einmal flehend in Lena’s Auge und verschwand zwischen den Erlen, während er ihr noch zuflüsterte:

»Ich komme sogleich auf den Hof. Geh nur, sie wird dich nicht schlagen.«

Lena griff nach dem Kuhseil, lenkte langsam auf den Fußsteig ein und schritt dem Hofe zu.

Abendstunden

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