Читать книгу Schwarzes Glas - Die Reise in die Zwischenwelt - Hendrik Lambertus - Страница 5

1 (K)ein Haus in der Dämmerung

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Kann man ein Foto von etwas machen, das es gar nicht gibt?

Elias hatte vor, genau das herauszufinden.

Er hockte im Schneidersitz auf einem kiesbedeckten Flachdach, von dem aus er gut über die Hinterhöfe des Viertels schauen konnte. Hier war sein Lieblingsplatz, der perfekte Ort, um allein zu sein und in die Dämmerung zu starren. Elias war stolz darauf, ihn entdeckt zu haben.

Das war nicht einfach gewesen. Man musste sich auf eine Garage hochziehen und anschließend eine rostige Feuerleiter hinaufklettern, die in einem dunklen Winkel verborgen lag. Der Weg war umständlich, aber dafür hatte er hier oben auf dem Dach garantiert seine Ruhe. Und die konnte er gerade wirklich gebrauchen.

Elias zog seine Knie enger an den Körper, holte sein Handy aus der Tasche und öffnete die Kamera-App. In den Häusern ringsum gingen die ersten Lichter an. Ein bisschen würde er noch warten müssen. Er ließ seinen Blick über den Hof direkt unter sich schweifen. Dieser war von Balkonen umgeben, die nicht besonders ordentlich aussahen. Klar, sie schauten ja auch nicht zur Straße, wo die Leute gucken konnten. Auf manchen Balkonen wurden Kisten und Gerümpel gelagert, Kinderwagen und ein alter Katzen-Kratzbaum, daneben übervolle Wäscheständer. Andere sollten offenbar ein kleines Naturparadies imitieren, zugewuchert von Topfpflanzen und vollgestellt mit Gartenzwergen und Plastik-Störchen. Elias war sich nicht sicher, was er hässlicher fand.

Er schaute lieber wieder hoch, dorthin, wo der Herbsthimmel hellgrau über den Häusern hing. Elias nahm sein Handy quer zwischen die Hände und fokussierte den Bereich im Display, wo die Dachkanten an den Himmel stießen. Dann drückte er ab. Zur Sicherheit gleich dreimal.

Anschließend betrachtete er seine Fotos in Ruhe. Sie sahen alle gleich aus: graue Flächen, bei denen ganz unten die Dächer als rot-brauner Rand zu erahnen waren. Nichts Interessantes. Nicht einmal ein Vogel. Aber Elias wusste, was er tat. Diese Fotos waren nur als Vergleich gedacht. Das eigentliche Motiv kam erst noch.

Elias streckte die Beine aus und wartete. Die Dunkelheit kam schnell in dieser Jahreszeit. Unten gingen immer mehr Lichter an. Es war kalt, aber er trug eine gut gefütterte Jacke. Außerdem fror er nicht so leicht. Und hier oben, in der Dämmerung auf dem Dach, war es immer noch gemütlicher als zu Hause. Dort packte jetzt sein Vater vielleicht schon seinen Kram zusammen. Oder er stritt mit seiner Mutter herum. Oder sie schwiegen sich an. Nein danke. Hier oben war es besser.

Langsam wurde es richtig dunkel. In den Straßen leuchteten die Laternen. Elias beugte sich gespannt vor und machte sein Handy bereit. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern.

Da! Drüben, jenseits der Dachkanten, gingen weitere Lichter an. Es war eine Reihe von mattleuchtenden Quadraten, sauber übereinandergestapelt. Wie die Fenster im Treppenhaus eines Hochhauses. Links und rechts davon leuchteten jetzt kleinere Rechtecke auf. Die Fenster der Wohnungen, zu denen das zentrale Treppenhaus führte.

Ganz oben, über dem höchsten Quadrat, erschien leicht verzögert noch eine leuchtende Linie. Sie war blau und seltsam geformt: wie ein umgedrehtes Hufeisen, vielleicht auch ein Torbogen. Vermutlich war es eine Art Schild oder Leuchtreklame.

Dann wurde es wirklich abgedreht: Rund um die Fenster begannen leuchtende Nebel durch die Dunkelheit zu tanzen. Manche schimmerten grünlich, andere blassblau oder rot. Elias hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Die schimmernden Nebel sahen unwirklich aus. »Nordlichter« war das Wort, das ihm dafür am ehesten einfiel. Natürlich war das Quatsch. Er war mitten in der Stadt und nicht am Nordpol.

Mit zitternden Fingern hielt Elias sein Handy hoch und machte eines der Fotos von eben auf. Darauf war nichts als grauer Himmel zu sehen. Kein Hochhaus, kein Turm, kein Funkmast. Schon gar keine Lichterscheinungen.

»Das gibt es nicht!«, murmelte er. Die beleuchteten Fenster dort drüben stammten von einem Haus, das nicht da war. Jedenfalls nicht im Hellen.

»Und jetzt kommt der Beweis!«, flüsterte Elias aufgeregt und stellte wieder die Aufnahmefunktion ein. Er achtete darauf, dass er die Hände genauso hielt, wie er es eben bei den ersten Fotos gemacht hatte. Vielleicht sollte er das nächste Mal ein Stativ mitbringen. Papa hatte eines bei seinen Foto-Sachen. Ob die schon verpackt waren? Egal.

Elias konzentrierte sich auf das Handy-Display, das jetzt die Lichter jenseits der Dächer anzeigte. Dann drückte er ab, wieder dreimal. Neugierig tippte er auf dem Handy herum, um sich die Bilder möglichst rasch anzusehen. Enttäuscht ließ er die Hand sinken. Sie waren nicht gelungen: einfach nur schwarz. Erst dachte er, dass diese Schwärze reiner Datenmüll war. Dann entdeckte er unten, in der Bild-Ecke, den Schimmer einer Straßenlaterne.

Elias bekam ein flaues Gefühl im Bauch. Die Bilder waren doch etwas geworden – aber sie bildeten einfach nur den schwarzen Abendhimmel ab. Ohne das Haus in der Ferne. Weder die Rechtecke der Fenster waren zu sehen noch die tanzenden Leuchtnebel.

»Das glaub ich jetzt wirklich nicht«, flüsterte er.

Elias richtete das Handy auf eines der anderen Häuser im Viertel. Wieder drei Fotos. Dann prüfte er die Aufnahmen. Sie waren nicht gerade scharf und zeigten verwaschene Vierecke aus Licht. Aber es war auf jeden Fall etwas darauf zu erkennen! Am Handy lag es nicht.

Dann wandte er sich wieder den merkwürdigen Lichtern zu und zoomte sie ganz dicht heran. Als er zum dritten Mal abdrückte, flatterte irgendetwas quer über sein Display. Elias zuckte zurück. Er senkte das Handy und schaute sich misstrauisch um. Nichts. Wahrscheinlich nur ein verspäteter Vogel. Mit gerunzelter Stirn sah er sich die Fotos an. Das Display zeigte ausschließlich Schwärze. Kein vorbeiflatterndes Tier. Keine Lichter.

»Und was nun?«, fragte Elias sich selbst. Was machte man mit einem von tanzenden Lichtern umschwirrten Haus, das gar nicht da war? Zur Polizei gehen und ein paar schwarze und graue Handy-Fotos vorzeigen, damit sie das Haus verhaften konnten? Oder die Story ins Internet stellen und darauf warten, dass ihm irgendein Spinner erklärte, er hätte da einen Ufo-Landeplatz gefunden? Hmm. Er könnte natürlich auch seine Eltern darauf ansprechen. Aber das war die absurdeste Idee von allen.

Elias sprang auf die Füße und tigerte rastlos auf dem Kiesdach herum. Morgen in der Schule hatte er Shaka davon erzählen wollen. Aber ohne Beweis konnte er sich schon denken, welche liebevollen Kommentare über seine geistige Gesundheit sie ablassen würde. Vielleicht hätte sie damit sogar recht? Nee. Er musste einfach herausfinden, was hier los war!

Elias checkte die Uhrzeit. Eigentlich sollte er sich jetzt Richtung U-Bahn aufmachen, um rechtzeitig wieder zu Hause zu sein. Uneigentlich würde es eh niemandem auffallen, wenn er etwas später kam, und mit 13 konnte man seine Zeit ja wohl auch langsam selber so planen, dass es passte!

Er steckte das Handy ein und stieg die Feuerleiter vorsichtig hinunter. Als er gerade über das Flachdach der Garage lief, flatterte etwas über ihn hinweg. Elias schaute auf. Er sah nur noch, wie ein grauer Schemen hinter einer Ecke des Hauses verschwand. Dann war alles wieder ruhig.

Hinter seiner Stirn kribbelte es seltsam. Unwillig schüttelte Elias den Kopf. Wahrscheinlich war er irgendwie überreizt. Das war bestimmt nur eine Taube. Oder eine Fledermaus?

Vom Garagendach sprang er einfach hinunter. Er war nicht gerade der Größte und auch eher schmal gebaut, aber dafür flink und beweglich.

Elias ließ die Garagen rasch hinter sich und schaute sich suchend um, während er die Haare aus seinem Gesicht strich. Er trug sie halblang, und da sie ziemlich widerborstig waren, fiel ihm eigentlich immer eine Strähne irgendwie vor die Augen.

Von oben sah das Viertel einigermaßen überschaubar aus, doch hier unten begrenzten überall hohe Häuserfronten die Sicht. Die Lichter waren so nicht zu erkennen. Aber Elias war sich ziemlich sicher, dass er sie weiter hinten gesehen hatte, wo die Bahnlinie die Stadt zerteilte. Er folgte den Straßen in diese Richtung, so gut es eben ging.

Heute früh hatte es geregnet und überall klebte nasses, matschbraunes Laub auf dem Asphalt. Die Leute hatten ihre Jacken und Mäntel hoch zugeknöpft und beeilten sich, um rasch ins Warme zu kommen. Elias kam sich komisch dabei vor, dass er entgegengesetzt unterwegs war, weg von zu Hause.

Er durchquerte ein Viertel mit Altbauten aus Backsteinen, zwischen denen sich hin und wieder neuere Beton-Gebäude drängten. In den Häusern gab es gelegentlich kleine Läden, die jetzt schon geschlossen hatten, an den Ecken auch Kneipen mit beleuchteter Bierwerbung. Ansonsten war die Gegend ein reines Wohngebiet ohne Ziele für jemanden, der hier niemanden kannte.

Ihm kam ein klapperndes Geräusch entgegen. Eine verwahrlost wirkende Frau schob einen Einkaufswagen voller Zeug vor sich her. Sie bewegte sich seltsam, roch seltsam, summte eine seltsame Melodie vor sich hin. Aus kleinen, wachen Augen schaute sie Elias von der Seite an. Er machte einen Bogen um sie und eilte weiter, ehe sie ihn ansprechen konnte. Dieser eindringliche Blick war ihm irgendwie unheimlich …

Am Ende der Straße stieß er auf den Bahndamm. Nach seiner Schätzung lag das Haus, das es nicht gab, irgendwo dahinter. Allerdings sah er nirgends einen Übergang. Er ging an der Betonwand des Bahndamms entlang, der nun auch noch einen weiten Bogen machte. Elias musste aufpassen, dass er die Richtung nicht endgültig verlor. Schließlich stieß er auf eine Treppe, die zu einem schmalen Fußgängertunnel hinabführte. Mindestens die Hälfte der Leuchtstoff-Röhren, die hier für Licht sorgen sollten, war kaputt. An die Wände hatte jemand Tags aus verzerrten Buchstaben gesprayt. Unbehaglich zog Elias sich die Jacke fester um die Schultern. Dann atmete er tief durch und stieg in die Unterführung hinab. Rasch, aber nicht ängstlich. Genau die richtige Geschwindigkeit für manche Gegenden der Stadt.

Als er den Tunnel etwa zur Hälfte durchquert hatte, war da wieder dieses kribbelnde Gefühl hinter seiner Stirn. Plötzlich war er sich ganz sicher, dass jemand dicht hinter ihm war! Aber er konnte nichts hören, nur seine eigenen Schritte. Ruckartig wandte er sich um. Die Unterführung war leer. Er war allein mit dem flackernden Neonlicht. Oder? Die letzten Tunnelmeter rannte er fast.

Auf der anderen Seite des Bahndamms lag ein Gewerbegebiet. Hier gab es keine Wohnhäuser mehr, sondern Lagerhallen, Autohäuser und Betriebe, die Sanitäranlagen oder Fassadendämmungen verkauften. Auf den Gehsteigen war niemand unterwegs, nur Autos rauschten gelegentlich vorbei.

Elias schaute sich prüfend um. Alle Gebäude ringsum waren vergleichsweise niedrig. Wenn es hier wirklich ein Hochhaus gab, müsste es eigentlich irgendwo über ihnen aufragen. Aber da war nichts. Nur der dunkle Abendhimmel und ganz weit oben der zögerliche Lichtpunkt eines Flugzeugs.

Jetzt hatte er doch die Orientierung verloren! Oder das Haus war wirklich gar nicht da und er hatte sich alles nur eingebildet. Er ging ein paar Schritte eine Straße hinunter, die grob in die Richtung führte, in der er das Haus vermutete. Dann wurde er langsamer und kehrte schließlich um. Das machte so keinen Sinn. Vielleicht sollte er noch mal bei Tageslicht wiederkommen. Aber er hatte das dumpfe Gefühl, dass dann erst recht kein Haus zu sehen sein würde. Ärgerlich kickte Elias ein Steinchen weg.

Etwas Ähnliches war ihm vor einiger Zeit schon einmal passiert. Damals hatte er seinen Lieblingsplatz auf dem Dach noch nicht gefunden. Er war einfach so durch die Stadt gestreift, wenn es sich zu Hause mal wieder nicht wie zu Hause angefühlt hatte. Er hatte sich in die U-Bahn gesetzt, war irgendwo ausgestiegen und in der Gegend herumgelaufen. Dabei hatte er von einem Parkdeck aus Baumwipfel zwischen den Dächern eines Viertels mit stolzen Villen aufragen sehen. Die Bäume hatten weit ausladende Kronen und mussten uralt sein. Elias war losgelaufen und in die Straßen eingetaucht, um den Park zu erkunden. Doch er hatte ihn nicht finden können. Obwohl er kreuz und quer durch alle umliegenden Straßenzüge geirrt war, hatte er lediglich einen winzigen Kinderspielplatz zwischen Hagebuttenhecken entdeckt. Keinen Park, keine weit ausladenden Bäume. Damals hatte er es darauf geschoben, dass offenbar sein Orientierungssinn versagt hatte, und war schulterzuckend nach Hause gefahren. Doch heute fragte er sich, ob irgendein Muster dahintersteckte.

Gab es in der Stadt Orte, die man zwar sehen, aber nicht erreichen konnte? Oder war er einfach nur zu blöd, sie zu finden?

Elias schlurfte zurück zur Unterführung. Das Neonlicht leuchtete ihm kalt entgegen. Er hatte keine Lust, noch einmal durch den Tunnel zu gehen. Aber es gab keinen anderen Weg. Er atmete tief durch. Und hinein. Seine Schritte halten vom nackten Beton wider. Nach zwei, drei Metern war da plötzlich wieder dieses kribbelige Gefühl. Elias wandte sich um und rannte zum Eingang zurück. Er sah gerade noch, wie ein kleiner, grauer Umriss ins Gebüsch huschte. Ohne nachzudenken stürmte Elias weiter und wühlte in den Büschen. Nichts. Nur eine alte Getränkedose und eine zerfetzte Plastiktüte. Keine graue Gestalt. Was hatte er auch erwartet? Wahrscheinlich war bloß irgendein Tier aufgeschreckt. Und doch kam es ihm so vor, als wäre es genau derselbe Schemen, der ihm schon oben auf dem Dach vor die Linse geflattert war. Missmutig suchte er noch ein wenig in den Büschen herum und gab es schließlich auf.

Elias beeilte sich, durch die Unterführung zu kommen, und ging mit schnellen Schritten der U-Bahn-Station entgegen. Jetzt wollte er wirklich nach Hause. Während er das Wohnviertel durchquerte, zog er sein Handy hervor und scrollte noch einmal durch die Fotos, die er vorhin gemacht hatte. Schwarz, schwarz, schwarz. Grau, grau, grau. Nichts. Er überlegte, ob er die Bilder gleich an Shaka schicken sollte. Ganz ohne Kommentar, sie einfach fragen, was sie darauf erkennen konnte. Vielleicht fiel ihr ja etwas Sinnvolles auf.

Er entschied sich dagegen. Das würde mehr als seltsam wirken. So wie die verwaschenen Fotos in dem Forum über Verschwörungstheorien, die Shaka ihm letztens lachend gezeigt hatte – graubraunes Pixel-Wirrwarr, das angeblich Außerirdische zeigte. Nur dass Elias jetzt nicht wirklich nach Lachen zumute war. Die Sache war spannend, aber einfach zu schräg.

»Das gibt es nicht«, murmelte er noch einmal, als er sich der U-Bahn-Station näherte, und meinte es aus vollem Herzen. Er würde Shaka die Bilder morgen in der Schule persönlich zeigen. Dinge, die man nicht erklären konnte, klärte man am besten selbst.

Elias eilte die Rolltreppe zur U-Bahn hinab. Er bemerkte nicht, dass grellgrüne Augen ihm aufmerksam hinterherschauten, bis er unten verschwunden war. Eine kleine, graue Gestalt löste sich aus dem Schatten einer Mülltonne. Dünne Finger mit langen Krallen kritzelten ein paar Zeilen in ein Notizheft und klappten es schließlich zu. Die Gestalt entfaltete ein Paar ledriger Fledermaus-Schwingen an ihren Schultern. Mit flatternden Flügelschlägen verschwand sie in der Dunkelheit über den Dächern.

Schwarzes Glas - Die Reise in die Zwischenwelt

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