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3 Im Labyrinth

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Irgendwie war es eigentümlich, zusammen mit Shaka auf dem Dach zu sein. Eigentlich hatte Elias diesen Ort nur für sich selbst entdeckt. Um seine Ruhe zu haben und den Kopf klarzukriegen. Aber nun waren sie zu zweit hier oben und dadurch fühlte sich alles anders an. Als würde das Dach ihm nicht mehr wirklich gehören. Egal. Heute war er ja auch nicht zum Nachdenken hier heraufgekommen.

»Das nennst du einfach«, hatte Shaka sich beschwert, als sie sich die Feuerleiter hinaufgezogen hatte. Er hatte es verwundert zur Kenntnis genommen.

Nun rutschte seine Freundin nervös auf dem Kies hin und her, der das Flachdach bedeckte. Erst jetzt fiel Elias auf, wie hoch es hier war. Und Höhe war offenbar nicht Shakas Ding.

»Du hast wirklich nichts gefunden?«, fragte er, während er darauf wartete, dass es endlich dunkel wurde.

»Nicht das Geringste«, brummte Shaka missmutig. »Niemand scheint diese App zu kennen! Man kann sie nirgendwo herunterladen, sie wird in keinem Forum besprochen, es gibt keine Fotos im Netz, die damit erstellt wurden.«

»Vielleicht hast du nicht gründlich genug gesucht?«

Sie warf ihm einen giftigen Seitenblick zu und verzichtete auf eine Antwort.

»Na ja, jedenfalls wird das Haus bald auftauchen. Du musst dann da rüber schauen, links von diesem Schornstein, und …«

Elias’ Handy gab einen leisen Glockenton von sich. Das war ihm lieber als Shakas extravagante Tiergeräusche, nach denen sich immer die halbe U-Bahn umdrehte. Er zog das Gerät aus der Tasche und checkte kurz, was los war.

»Ein Download«, murmelte er mit einem flauen Gefühl im Bauch. »Aber ich habe doch gar nichts …«

Tatsächlich. Eine neue App war auf dem Display erschienen. Ein neonblauer Bogen. In-Between.

»Jetzt habe ich sie auch«, sagte er matt. »Die App, meine ich.«

»Das wird echt langsam komisch«, erwiderte Shaka. »Wenn das irgendein Massen-Spam wäre, den alle kriegen, müsste man doch etwas davon mitbekommen!«

»Ja, allerdings.« Elias tippte das neonblaue Icon an, und das Kamera-Display öffnete sich. Alles genau wie bei Shakas Handy. Er richtete das Gerät auf sie. Shaka winkte gelangweilt in die Kamera. Sie sah aus wie immer – keine Hörner oder sonstigen Veränderungen.

»Hmm … Mal sehen.«

Elias schwenkte das Handy entschlossen herum und fixierte den Horizont jenseits der Dächer, die Stelle, wo abends immer die Lichter erschienen waren. Ein Hochhaus war im Display zu sehen. Es stand weit hinten, auf der anderen Seite des Bahndammes, und sah heruntergekommen aus. Seine Außenwände bestanden aus grauem Beton. Die oberen drei Stockwerke hatte man mit dunkelbraunen Platten verkleidet, die fast noch hässlicher waren als die nackte Wand. Ganz oben, auf seinem flachen Dach, erhob sich ein Sendemast. Es gab offenbar ein zentrales Treppenhaus in der Mitte, von dem aus in beide Richtungen Balkone abgingen, die zu den einzelnen Wohnungen führten. Genau wie Elias aufgrund der Lichter vermutet hatte. Über dem obersten Treppenhaus-Fenster war ein blauer Torbogen aus Neonröhren an der Fassade angebracht. Sie leuchteten noch nicht, waren aber klar zu erkennen. Nun war sich Elias endgültig sicher: Das Zeichen sah exakt so aus wie das Icon der In-Between-App.

Am Haus tat sich etwas. Ein schimmernder Umriss flatterte von einem der Balkone auf, umkreiste einmal den Sendemast, wobei er rötliche Lichtschleier hinter sich herzog, und verschwand durch ein Fenster nach drinnen. Elias zoomte das Ding näher heran – und blinzelte perplex. Hatte er gerade wirklich eine kleine, menschenähnliche Gestalt mit schwirrenden Flügeln gesehen?

»Da. Schau selbst«, sagte er betreten und reichte das Handy an Shaka.

»Ich glaub’s ja nicht«, flüsterte diese. Ihr Blick wanderte immer wieder hin und her: vom Handy, auf dem eindeutig ein Haus zu sehen war, zum Horizont, wo es ebenso eindeutig kein Haus gab, und wieder zurück. Normalerweise hätte Elias jetzt triumphierend gegrinst und irgendeinen coolen Spruch abgelassen. Aber er war viel zu aufgeregt dafür.

»Das ist das Haus«, sagte er. »Ganz sicher. Die Fenster liegen genauso wie die Lichter. Das wirst du ja gleich sehen, wenn es dunkel wird.«

»Es ist da und gleichzeitig auch nicht da«, murmelte Shaka fasziniert. »Und da fliegt … eine verdammte Fee?!« Jetzt hatte sie ausgesprochen, was Elias nicht zu denken gewagt hatte. Shaka drückte den Foto-Auslöser. Erwartungsvoll öffnete sie das Bild. Es war nichts darauf zu sehen. Kein Haus und kein Flügelwesen.

»Genau wie bei dir und Niniane«, seufzte sie. Elias sprang auf und ging einige Schritte über den knirschenden Kies auf und ab. Er konnte jetzt nicht ruhig sitzen bleiben! Nicht mit diesem Gedanken …

»Das ist keine Witzfoto-App«, sprach er es schließlich aus. »Das ist eine App, die Dinge zeigt, die gar nicht da sind. Und die irgendwie doch da sind. Wie dieses Haus. Oder das Flügelding. Oder wie Ninianes Schleierflossen.«

Oder wie meine Hörner, dachte er, sagte es aber nicht. Die Vorstellung war einfach zu absurd. Er hatte keine Hörner, hatte nie welche besessen und wollte auch keine haben! Elias ertappte sich dabei, dass er mit der Hand misstrauisch über seine Stirn fuhr. Nichts, nicht mal der kleinste Huckel. Was denn auch sonst.

Shaka schaute ihn ernst an.

»Ich glaube dir, dass dich das stresst«, sagte sie. »Und ich weiß langsam auch nicht mehr weiter. Falls das irgendein Hoax ist, dann ist er jedenfalls verdammt gut gemacht.«

»Wenn man wenigstens Fotos davon haben könnte«, erwiderte Elias hilflos.

»Warte mal!« Shaka sprang plötzlich auf und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie öffnete die »In-Between«-App und richtete das Gerät auf das nicht vorhandene Haus. Es erschien brav auf dem Display.

»Und jetzt machst du ein Foto von mir, wie ich das Handy da draufhalte!«, rief sie. »Und pass auf, dass das Display gut zu erkennen ist! Wir haben leider kaum noch Licht.«

Elias verstand. Er öffnete seine Kamera-App, zoomte Shakas Hand mit dem Handy heran und drückte ab. Dann öffnete er das Foto. Hand und Handy waren darauf zu sehen. Das Haus nicht. Das Handy-Display auf dem Foto zeigte einfach nur ein dunkelgraues Stück Abendhimmel.

Wortlos reichte Elias das Gerät an Shaka. Sie schüttelte entgeistert den Kopf.

»Das Ding erscheint noch nicht mal auf dem Foto von einem Foto!«, schimpfte sie dann empört, als sei das Haus nur verschwunden, um sie persönlich zu ärgern. »Wie haben die den Mist bloß programmiert?«

»Keine Ahnung«, brummte Elias. Ihm war plötzlich kalt, trotz seiner gefütterten Jacke. »Gleich kommen übrigens die Lichter, es ist schon fast dunkel.«

»Eigentlich habe ich für heute genug gesehen«, meinte Shaka müde.

Sie standen stumm nebeneinander, während die herbstliche Abenddämmerung immer grauer und schließlich schwarz wurde. Dann flammten jenseits der Dächer die Lichter auf. Ein Stapel aus hellen Quadraten für das Treppenhaus in der Mitte, nach und nach auch kleinere Umrisse für die Fenster der Wohnungen ringsum. Ganz oben erschien als Letztes der neonblaue Leuchtbogen. Bunte Leuchtnebel tanzten durch die Dunkelheit. Die schimmernden Lichter erinnerten Elias verdächtig an das Flattergeschöpf, das er auf dem Display gesehen hatte. Leuchtende Flügelwesen? Echt jetzt?

»Da«, sagte Elias leise.

»Was?«, fragte Shaka und sah ihn irritiert an.

»Na, die Lichter«, gab Elias zurück. »Dafür sind wir doch hier.«

»Wann kommen die denn endlich? Ich muss langsam nach Hause. Mein Vater ist heute früher daheim.«

»Die sind doch schon lange an! Guck doch!« Elias zeigte direkt darauf. Shaka kniff konzentriert die Augen zusammen und starrte ins Dunkel hinaus. Dann schaute sie Elias an.

»Da sind keine Lichter, Elias.«

»Natürlich sind da welche! Ich sehe sie doch!«

»Ich nicht.«

»Ja, aber …«

Shaka hob ihr Handy hoch und richtete es mit der »In-Between«-App auf das Haus. »Meinst du diese Lichter? Hier auf dem Display?«

»Natürlich! Das Ding zeigt sie auch an. Aber ohne Handy …«

»… kann ich sie nicht erkennen, Elias. Offenbar siehst du mehr als ich.«

Für einen Moment wusste Elias nicht, was er sagen sollte. Andere konnten die Lichter nicht sehen? Er war plötzlich sehr dankbar, dass sie die »In-Between«-App hatten. Nicht auszudenken, wenn er Shaka ohne das Teil hier raufgeführt und ihr irgendwelche Lichter gezeigt hätte, die nur er sehen konnte!

»Das liegt wahrscheinlich an meinen Hörnern«, schnaubte er, um witzig zu sein. Zu allem Überfluss kitzelte es nun auch noch hinter seiner Stirn.

»Ja, vielleicht«, erwiderte Shaka, ohne zu lächeln. Die beiden schwiegen unbehaglich.

»Langsam macht mich das nervös«, gab Elias schließlich zu. Er musste an den grauen Schemen denken, den er gestern aus dem Augenwinkel gesehen hatte.

»Und mich macht es neugierig!«, erwiderte Shaka entschlossen. »Solche Sachen passieren nicht einfach so. Da steckt irgendetwas dahinter. Und wir werden herausfinden, was das ist!«

»Ja, das sollten wir wohl«, erwiderte Elias, der versuchte, sich von Shaka anstecken zu lassen. »Forschen wir gleich morgen weiter?«

»Jupp. Wir durchforsten das ganze Web danach. Auch zweimal, wenn es sein muss. Aber jetzt muss ich langsam los. Du weißt ja, mein Vater.«

Er nickte. Shakas Vater arbeitete bei einer großen Software-Firma und kam meist erst spät nach Hause. Wenn er es doch mal früher schaffte, legte er Wert darauf, die ganze Familie Thapar einträchtig um sich versammelt zu sehen. Elias war ein bisschen neidisch, auch wenn Shaka nicht allzu begeistert wirkte.

Gemeinsam stiegen sie über die Feuerleiter vom Dach. Elias sprang wieder direkt von den Garagen und wartete dann einen Moment, während seine Freundin sich fluchend bäuchlings vom Garagendach rutschen ließ.

An der nächsten Straßenecke trennten sie sich. Shaka musste mit dem Bus in eine andere Richtung. Elias ging nachdenklich die Treppe zur U-Bahn-Station hinunter, die Hände in den Jackentaschen vergraben.

Unten erwartete ihn ein gewölbter, weiß gekachelter Gang mit stechend-greller Beleuchtung. Grüne und blaue Streifen auf den Kacheln sollten das Ganze wohl auflockern. Elias schenkte ihnen keinen zweiten Blick und trottete in Gedanken versunken weiter in Richtung Bahnsteig. Erst als er an eine Abzweigung kam, blieb er stehen. Der Gang teilte sich hier auf. Man konnte nach links oder rechts weitergehen. Auf beiden Seiten gab es weiße Kacheln und grelles Licht. Elias schaute sich irritiert um. Seit er seine Zuflucht auf dem Dach gefunden hatte, stieg er fast jeden Tag hier in die Bahn. Es war nur eine kleine Station mit direktem Weg zu den Bahnsteigen – ohne Abzweigungen. War er gedankenverloren zu einer falschen Station gestiefelt? Elias trat einen Schritt zurück und schaute hoch. An den größeren Umsteige-Bahnhöfen hingen für gewöhnlich Hinweisschilder an den Abzweigungen, die den Weg zu den einzelnen Bahnlinien zeigten. Hier hing gar nichts. Über ihm war nur die nackte Kacheldecke. Er blickte in beide Richtungen. Auf der linken Seite beschrieb der Gang nach einigen Metern einen Bogen nach rechts. Blaue Streifen liefen als Muster über seine Kachelwände. Auf der rechten Seite kam schon bald eine Treppe, die noch tiefer in die Erde hinabführte. Hier waren die Zierstreifen rot. Vom Bahnsteig war nichts zu sehen.

Erst jetzt wurde Elias bewusst, dass er allein war. Kein Mensch war mit ihm hier unten, um die Bahn zu erwischen, kein einziger von den Pendlern, die sich am Abend sonst immer in die überfüllten Züge drückten. Nicht einmal Schritte oder Stimmen waren zu hören. Um ihn herum war es völlig still.

Elias’ Herz klopfte. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Abrupt drehte er sich um und lief wieder zurück, in Richtung der Treppe. Schon nach wenigen Schritten merkte er, dass der Gang zu lang war. Er müsste die Treppe zum Ausgang längst sehen können! Doch der weiße Kachelgang ging weiter und weiter. Schließlich stieß der Gang auf eine weitere Abzweigung. Gleich drei Gänge taten sich hier vor Elias auf: rechts, links oder geradeaus. Wieder gab es kein Hinweisschild. Nur ein Werbeplakat hing an der Wand. Es zeigte auf einer schwarzen Fläche einen neonblauen Torbogen, den Elias inzwischen ziemlich gut kannte.

Er stolperte zurück, als wäre der Bogen ein wildes Tier, das jeden Moment aus dem Plakat springen und ihn zerreißen könnte. Natürlich tat er nichts dergleichen. Er hing einfach nur da, als wollte er Elias durch seine bloße Anwesenheit verhöhnen.

»Okay … Ganz ruhig bleiben«, murmelte er zu sich selbst. Es gab eine Erklärung für das alles. Irgendwo musste die Treppe sein, auf der er eben noch hier heruntergekommen war. Wenn er reingekommen war, gab es auch einen Ausweg. Er konnte sich wohl kaum in einer U-Bahn-Station verlaufen! War er vielleicht in irgendwelche Wartungsgänge für Bahn-Arbeiter geraten?

Vorsichtig schaute er in den linken Gang. Er schien lange geradeaus zu führen und in der Ferne in eine weitere Abzweigung zu münden. Rotgrüne Streifen zierten seine Wände. Kopfschüttelnd wandte er sich dem Mittelgang zu. Schon nach einigen Metern stieß dieser auf eine Treppe nach unten. Hier war die Streifenfarbe blau. Als er sich gerade den rechten Gang anschauen wollte, hörte er ein Geräusch. Schwere Schritte näherten sich ihm, mächtig und zielstrebig. Ein behäbiges KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK, das weit durch die Gänge hallte. Es kam von vorne, wo der Gang nach einigen Metern eine Biegung beschrieb.

Elias hatte den Drang, einfach abzuhauen. Er zwang sich, trotzdem stehen zu bleiben. Vielleicht näherte sich da gerade ein Bahn-Mitarbeiter, der ihm hier heraushelfen konnte. Es ergab keinen Sinn, einfach blindlings durch die Gegend zu stürmen. Also wartete er. Die Schritte kamen näher und näher. KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK. Ein Schatten fiel ins grelle Licht. Die Person musste jetzt unmittelbar hinter der Gangbiegung sein. Elias konnte einen massigen, breitschultrigen Umriss ausmachen. Einen Umriss mit einem Paar mächtiger Hörner am Kopf!

Das war zu viel. Elias rannte los. Egal wohin, nur weg von diesem gehörnten Ungetüm! Er stürzte in den nächstbesten Gang und hetzte ihn entlang, bis er an eine Abzweigung kam. Hektisch warf er einen Blick über die Schulter. Eine große Gestalt schob sich hinter ihm um die Ecke. KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK.

Elias rannte weiter, bog willkürlich nach rechts ab, nahm am Rande einen pinkfarbenen Streifen wahr, stieß schließlich auf eine Rolltreppe nach unten, die leise vor sich hin brummte. Er zögerte kurz, dann hetzte er die Stufen hinab. Er konnte es sich nicht leisten, wählerisch mit seinem Weg zu sein. Elias rannte weiter, vorbei an Abzweigungen und Kreuzungen. Blaue Streifen, pinke Streifen, gelb-braune Streifen. Hin und wieder mal ein Plakat mit einem neonblauen Bogen. Und Gänge, noch mehr Gänge, zuweilen auch Rolltreppen. Das absurde Gangsystem schien unvorstellbar groß zu sein.

Schließlich blieb er erschöpft stehen, direkt an einer Dreier-Abzweigung. Nach einigen gehechelten Atemzügen lauschte er ängstlich auf seine Umgebung. Es waren keine Schritte zu hören. Offenbar hatte er den Gehörnten abgehängt.

»Und was jetzt?«, fragte er sich leise, während seine Knie immer noch zitterten. Natürlich hatte er nicht darauf geachtet, wohin er gerannt war. Der Ort, an dem er hereingekommen war, lag viele Gänge und Treppen hinter ihm. Überall sah es gleich aus, wenn man einmal von dem Durcheinander der Streifenmuster absah. Er war gefangen.

»Geh systematisch vor, du Trottel!«, schoss es ihm durch den Kopf. Das hätte Shaka jetzt zu ihm gesagt. Und sie hätte recht damit. Elias griff in seinen Rucksack und kramte einen Filzstift heraus. Rasch malte er ein Kreuz auf eine Kachel an der rechten Gangmündung. Er würde einfach nacheinander alle Wege abarbeiten und dort Zeichen setzen, wo er schon gewesen war. Dann würde früher oder später schließlich der Ausweg übrig bleiben. Er hatte das Kreuz noch nicht zu Ende gemalt, als schwere Schritte durch den Gang hallten. Sehr laut. Sehr nah. KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK.

Und der hünenhafte Körper des Gehörnten schob sich aus einer Gangöffnung direkt neben ihm. Er überragte Elias um drei Köpfe, war größer als jeder erwachsene Mann, den er kannte – und dabei so breit, dass er den Gang fast ganz ausfüllte. Bekleidet war er mit einem abgewetzten Blaumann, auf den ein Namensschild genäht war: M. Taurus. Verschiedene Werkzeuge und ein dicker Schlüsselbund blitzten an seinem Gürtel. Seine nackten, muskelbepackten Arme wurden von schwarzem Fell bedeckt, sein Kopf sah aus wie das Haupt eines Stiers mit stolz geschwungenen Hörnern und großen, trüben Augen. Ein dicker Goldring zierte seine Nase.

Der Stiermann stieß ein wütendes Schnauben aus und hob drohend seine Faust. Elias ließ den Filzstift mitten in der Bewegung fallen und rannte. Er stürmte in den Gang hinein, den er gerade markiert hatte, bog an der nächsten Kreuzung scharf ab, folgte einem weiteren Gang. Die Schritte des Gehörnten hinter ihm wurden leiser. Schließlich erreichte er wieder eine Rolltreppe nach unten. Auf den Stufen erlaubte Elias sich, durchzuatmen.

Entlang der Treppe waren viele kleine Rahmen mit Plakaten an der Wand befestigt. In der Stadt fand sich dort meist Werbung für irgendwelche Musicals oder Restaurants, manchmal auch Fahrpläne oder Karten des U-Bahn-Netzes. Hier jedoch hing überall das gleiche Motiv: ein neonblauer Bogen auf schwarzem Grund. Das musste doch irgendeinen Sinn haben!

Er zog spontan sein Handy aus der Tasche. Mit einigen raschen Klicks öffnete er die »In-Between«-App und schaute angespannt auf das Display. Die Umgebung hatte sich nicht verändert. Aber die Plakate sahen plötzlich anders aus. Er richtete sein Handy auf eines von ihnen. Vor dem Hintergrund des neonblauen Torbogens zogen sich nun mehrere Zeilen mit Schrift über seine Fläche:

»Verbotener Park – Grüne Linie

Gesichtslose Gassen – Gelb-rote Linie

Vier-Winde-Haus – Blaue Linie

Schwarzer Spiegelturm – Schwarze Linie

U-Bahn, Festwelt – Grün-blaue Linie«

Es folgten noch einige Zeilen, aber Elias las nicht weiter. Zur U-Bahn, mehr wollte er ja gar nicht. Er rannte wieder los. Nach einigen Metern stieß er auf eine Abzweigung. Der Gang links wurde von einem grünen Streifen verziert, rechts war der Streifen rot-gelb. Keine Spur von Grün-blau. Mist! Egal. Elias folgte aus dem Bauch heraus dem rechten Gang und lief weiter. Schon bald traf er auf eine Kreuzung. Rechts ein gelber Streifen, mittig Rot-gelb, links Grün-blau. Na also! Hier bog er ein.

Dann kam eine weitere Dreier-Abzweigung. Die grün-blaue Markierung führte geradeaus. Er folgte ihr. Rechts und links, wieder geradeaus, zweimal rechts … Stets gaben die grün-blauen Streifen einen der Wege vor. Elias hielt sich jedes Mal daran. Was hätte er anderes tun sollen?

KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK. Aus der Ferne stampften plötzlich wieder die Schritte des Gehörnten heran. Elias beeilte sich. Von vorne hörte er nun auch ein Geräusch. Es war ein Rumpeln und Rauschen, als würde irgendetwas Großes, Schweres ächzend durch die Gänge klappern. Rasch kam es näher. Panik stieg in Elias auf. War er nun zwischen zwei Ungeheuern eingekesselt? Dann wurde ihm bewusst, dass er dieses Rumpeln gut kannte. Er rannte umso schneller.

Elias stolperte auf den Bahnsteig hinaus, als gerade quietschend die Linie 5 einfuhr. Seine Bahn. Eine Handvoll Leute standen herum und warteten. Die Türen öffneten sich klappernd. Fahrgäste stiegen aus, andere drängten hinein. Elias stürmte vor und warf sich in die Bahn.

»He!«, beschwerte sich eine ältere Dame. »Immer mit der Ruhe, junger Mann!«

Er murmelte atemlos eine Entschuldigung und quetschte sich tiefer in den Wagen. Um ihn herum standen die Fahrgäste dicht an dicht. Es roch nach Parfüm und nassen Mänteln. Ein Kind quengelte irgendwo. Für gewöhnlich fand Elias solche Fahrten stressig. Gerade war er einfach nur dankbar, nicht mehr in diesem Labyrinth festzustecken.

Die Bahn fuhr los. Durch das Fenster warf Elias einen Blick zurück auf den sich leerenden Bahnsteig. Dort stand eine große, gehörnte Gestalt und schwenkte einen Gegenstand in ihrer behaarten Faust. Es war ein Filzstift. Dann fuhr die Bahn auch schon in den Tunnel ein und hinter dem Fenster war nur noch Schwärze zu sehen.

Elias schaute sich verstohlen um. Alle anderen Fahrgäste starrten glasig vor sich hin oder tippten auf ihren Handys herum. Niemand sah so aus, als hätte er gerade ein Ungetüm auf dem Bahnsteig gesehen.

Er schloss die Augen und atmete durch. Morgen würde er Shaka viel zu erzählen haben. Und mit sehr viel Glück würde sie ihm sogar das eine oder andere Wort davon glauben.

Schwarzes Glas - Die Reise in die Zwischenwelt

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