Читать книгу Schwarzes Glas - Die Reise in die Zwischenwelt - Hendrik Lambertus - Страница 8
4 koenigin@threshold.iz
ОглавлениеAuf dem gesamten Nachhauseweg blieb ein flaues Gefühl in Elias’ Bauch zurück. Bei jeder Haltestelle, in deren Licht die U-Bahn einfuhr, rechnete er halb damit, dass auf dem Bahnsteig schon ein gehörntes Ungeheuer auf ihn wartete. Auf dem Weg von der U-Bahn-Station nach Hause schaute er sich mehrmals nervös um, ob irgendwo ein grauer Flügelschatten über die Dächer glitt. Nichts. Die Welt schien plötzlich wieder normal zu sein. Und doch hatte Elias noch immer weiche Knie, als er schließlich die Wohnungstür hinter sich schloss.
Der Flur lag im Halbdunkeln, zugestellt von den Umzugskartons, in denen sein Vater die Sachen für seinen Auszug sammelte. Im Wohnzimmer brannte Licht. Plötzlich stieg wieder Panik in Elias auf. War das vielleicht eine von diesen Gruselgeschichten, in denen das Grauen zu Hause auf einen wartete? Würde gleich das gehörnte Monster aus der U-Bahn am Esstisch sitzen und ihn breit angrinsen?
Elias schluckte und öffnete die Tür. Im Wohnzimmer saß kein Monster, sondern seine Mutter. Doch das war fast noch schlimmer, denn er kannte diesen speziellen Blick, mit dem sie ihn sofort bedachte. Es war nicht der übliche »Ich bin sauer«-Blick. Sondern die weitaus bedrückendere Variante »Ich bin sehr enttäuscht von dir«.
Das sagten jedenfalls Mamas Augen, als sie von ihrem Tablet aufschaute und ihn ansah. Ihr Mund hingegen sagte: »Elias! Gott sei Dank kommst du endlich nach Hause. Wo warst du bloß so lange?«
Unwillkürlich schaute Elias zu der alten Uhr von Oma Sabine, die über dem Sofa hing. Es war schon nach neun?! Er war doch gar nicht so lange unterwegs gewesen …
»Ich … ich muss irgendwie die Zeit vergessen haben«, stammelte er verwirrt.
»Warum hast du nicht wenigstens angerufen?«, fragte Mama. Sie sah noch ein wenig grauer aus als sonst. Eine zierliche, zerbrechliche Gestalt mit blondierten Strähnen im Haar, inzwischen eine Handbreite kleiner als Elias. »Ich habe versucht, dich zu erreichen«, fuhr sie fort, »aber bei deinem Handy ging nicht einmal die Mailbox ran.«
»Echt?« Überrascht zog er sein Gerät aus der Tasche. Es war angestellt und empfangsbereit, der Akku noch halb voll. Hatte sein Handy im U-Bahn-Labyrinth nicht funktioniert, weil dieser Ort tief unter der Erde lag – oder auf unnatürliche Weise noch viel weiter weg? Und war er womöglich weitaus länger durch die Gänge geirrt, als ihm bewusst war?
»Sorry, wird nicht wieder vorkommen«, murmelte er hilflos, weil er keine Ahnung hatte, wie er das Ganze erklären sollte.
Seine Mutter legte das Tablet beiseite und stand auf. Sie umrundete den Couchtisch, bis sie direkt vor ihm stand. »Elias«, sagte sie leise. »Ich weiß, das ist gerade alles ein bisschen viel für dich … Aber wir müssen uns aufeinander verlassen können! Ich mache mir Sorgen, wenn du abends so lange wegbleibst …« Sanft wuschelte sie ihm durchs Haar, wie sie es schon früher immer gemacht hatte – nur, dass sie jetzt den Arm dafür ausstrecken musste. »Wir sind doch ein Team, oder nicht?«
Elias zog den Kopf weg. Die Geste war etwas harscher, als er beabsichtigt hatte. Doch jetzt gab es kein Zurück. Er spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. Das mit dem Team hatte sie früher schon gesagt – aber da hatte sein Vater noch dazugehört.
»Ich kann auf mich aufpassen, Mama«, erwiderte er trotzig. »Ich bin kein kleiner Junge mehr!« Auch das kam ruppiger rüber, als er gewollt hatte – und leider auch kindischer.
Seine Mutter zog ihren Arm zurück. »Wenn du kein kleiner Junge mehr bist, dann benimm dich auch so«, seufzte sie. »Und ruf an, wenn es bei dir später wird!«
Irgendwie hatte sie recht, was die Angelegenheit noch ärgerlicher machte. Aber wie hätte er bitte schön anrufen sollen, wenn er gerade von einem gehörnten Monstrum durch ein Labyrinth gejagt wurde?
»Das verstehst du nicht«, erwiderte er deshalb entnervt.
»Dann erklär es mir doch.« Seine Mutter konnte so furchtbar vernünftig sein. Seine Erlebnisse erklären. Ja, klar. Als wenn er das gekonnt hätte!
Elias winkte ab. Seine Mutter setzte dazu an, noch etwas zu sagen – da hörte er den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür. Papa kam nach Hause. Falls man das denn so nennen konnte, wenn man nur noch für wenige Wochen irgendwo wohnte. In letzter Zeit arbeitete er immer lange – oder war bei »ihr«, wie Mama es bezeichnete. Sofort verspannte sie sich.
»Ich bin dann mal weg«, brummte Elias, der keinerlei Lust hatte, den nächsten Akt der Streitereien seiner Eltern mitzubekommen. Er lief in die Richtung seines Zimmers. Auf dem Flur entschied er sich um, murmelte Papa einen Gruß zu, den er selber nicht verstand, und schlüpfte durch die Küche raus auf den Balkon. Er brauchte jetzt frische Luft. Seufzend ließ er sich auf einen Gartenstuhl aus Plastik fallen.
An der Wand hinter ihm hing das Wagenrad, das sein Vater mal aufgehängt hatte, damit der Balkon wie die Terrasse eines alten Gutshofs aussah. Es hatte nicht viel genutzt, und hier erinnerte gar nichts an einen alten Gutshof. Elias starrte in den Abend hinaus. Ringsum schimmerten die Lichter von Gebäuden, die genauso aussahen wie das Haus, in dem er aufgewachsen war: Mehrfamilienhäuser mit vier Stockwerken und flachen Satteldächern. Früher waren sie spinatgrün gestrichen gewesen. Dann hatte man das alles renoviert, und seitdem erstrahlten sie bonbonfarben in Zartrosa und Zitronenfaltergelb. Elias schaute lieber auf die schwarzen Baumwipfel der Grünanlangen ringsum. Der Ärger in seinem Bauch verschwand langsam und machte einem seltsamen Nicht-Gefühl Platz. Kalt und leer war es in ihm, während die gedämpften Stimmen seiner Eltern durch die Balkontür nach draußen drangen.
Als er schließlich einen grauen, geflügelten Schatten durch die Bäume huschen sah, zuckte er nur leicht zusammen. Die Welt war ein absurder Ort, an dem man sich auf nichts verlassen konnte. Was machten da schon Flügelschatten und gehörnte U-Bahn-Monster aus?
»Elias!« Shaka lief hinter ihm her, als er am nächsten Tag nach dem Unterricht aus der Schule schlurfte. »Ey, nun wart doch mal!«
Seufzend wurde Elias langsamer.
Seine miese Laune hatte sich seit gestern Abend gehalten. Elias hatte furchtbar schlecht geschlafen und von endlosen Labyrinthen voller Ungeheuer geträumt. Vom Unterricht hatte er kaum etwas mitbekommen, in den Pausen Shaka gemieden und ihre Kurznachrichten einsilbig beantwortet. Denn er hatte keine Ahnung, wie er ihr von dem Gehörnten erzählen sollte. Ein Haus zu sehen, das es gar nicht gab, war eine Sache – ein leibhaftiges Monster etwas völlig anderes.
»So«, sagte Shaka, nachdem sie zu ihm aufgeschlossen hatte. »Und jetzt verrätst du mir, was los ist!«
»Was soll schon sein?«, knurrte Elias. »Die ganzen komischen Sachen in letzter Zeit stressen mich halt.«
»Du meinst die In-Between-App und das Haus? Nachvollziehbar.«
»Mrrm«, erwiderte er unbestimmt.
»Aber da ist noch mehr, oder?«, bohrte Shaka nach. »Gestern hast du mich auf dieses Dach gezerrt – und heute willst du nicht mal mehr darüber sprechen? Du hast doch was.«
Elias seufzte. Shakas Scharfsinn wurde nur von ihrer Dickköpfigkeit übertroffen. »Es ist ziemlich schwer zu erklären«, rückte er unwillig heraus. Shaka warf unternehmungslustig ihren schwarzen Zopf zurück.
»Okay, wir machen Folgendes«, sagte sie. »Wir fahren rüber ins Ulmen-Center und holen uns einen Milchshake. Das ist gut für deine Seele. Und dann erklärst du mir das, was so schwer zu erklären ist. Das ist gut für dein Schienbein.«
Sie hob angriffslustig eine Fußspitze. Elias musste gegen seinen Willen grinsen. »Na schön. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«
Shaka erwiderte sein Grinsen. »Vor dir kann man gar nicht genug gewarnt werden …«
Die beiden nahmen die Straßenbahn, die in dieser Gegend glücklicherweise oberirdisch fuhr. Elias hatte keinerlei Lust auf weitere Begegnungen in U-Bahn-Stationen. Das Ulmen-Center lag einige Stationen entfernt, nahe dem Wohngebiet, in dem die Familie Thapar ihr Reihenhäuschen hatte. Wenn Elias Shaka besuchte, dann hingen sie oft irgendwo in diesem Einkaufszentrum ab.
Hier war alles hell gekachelt und grell ausgeleuchtet. Zahllose Menschen eilten auf drei Ebenen an Boutiquen und Schuhgeschäften vorbei, drängten sich auf den Rolltreppen und quetschten sich an winzige Café-Tischchen, während im Hintergrund nichtssagende Musik dudelte. Alles war so banal und alltäglich, dass Elias das Gefühl hatte, die letzten Tage einfach geträumt zu haben.
Sie holten sich einen Shake im Eiscafé. Elias nahm Pistazie, wie er es eigentlich immer tat. Auch Shaka blieb ihren Gewohnheiten treu: Sie probierte jedes Mal etwas Neues aus, diesmal war es eine violette Eissorte namens »Heidelbeer-Cheesecake«. Schließlich setzten sie sich mit ihren Shakes an einen der Brunnen im Erdgeschoss des Centers.
Einige Tropenpflanzen mit mächtigen Palmwedel-Blättern sollten hier eine Art Mini-Dschungel simulieren. Jauchzende Kinder versuchten, die aufspritzenden Wasserfontänen zu fangen, während ihre Eltern sich verzweifelt bemühten, durchnässte Klamotten zu vermeiden.
»Also?«, fragte Shaka schließlich, nachdem sie die Showeinlage eine Weile verfolgt hatten.
Elias stellte unbehaglich seinen Milchshake zur Seite.
»Gestern, nachdem wir auf dem Dach waren, ist mir noch etwas Seltsames passiert. Ich konnte in der U-Bahn-Station den Weg zum Bahnsteig nicht finden und …«
»Du hast dich in der U-Bahn verlaufen?« Shaka warf belustigt ihren Zopf zurück.
»Soll ich’s dir jetzt erzählen oder nicht?«
»’tschuldigung.«
Er fuhr seufzend fort und beobachtete, wie Shakas Gesichtsausdruck im Verlauf seines Berichts immer mehr entgleiste. Und das, obwohl er sich größte Mühe gab, seine Erzählung so sachlich und unaufgeregt wie möglich klingen zu lassen …
»So«, beendete Elias schließlich seine Ausführungen. »Nun kannst du die Zwangsjacke aus dem Rucksack ziehen.«
»Das würde ich ja gerne tun«, erwiderte Shaka und spielte unbehaglich mit ihrem Zopf. »Allerdings könnte ich mir die dann auch gleich selbst anziehen. Ich habe nämlich inzwischen ebenfalls etwas Merkwürdiges erlebt.«
»Ach nee?« Elias beugte sich aufgeregt zu ihr vor. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Ich wollte deinen Bericht nicht beeinflussen«, erwiderte Shaka ungerührt. »Außerdem ist meine Entdeckung nicht so spektakulär wie dein Monster.«
»Was ist es denn nun?«, fragte Elias ungeduldig.
»Gestern Abend habe ich noch ein bisschen herumgesurft und nach diesem seltsamen Haus und der App gesucht«, begann Shaka.
»Und?«
»Ich habe etwas gefunden. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was das sein soll …«
Sie zog ihr Handy hervor und öffnete mit dem Browser eine Webseite. Auf dem Display erschien ein bläulich leuchtender Halbbogen vor schwarzem Hintergrund. Wie ein Tor aus Leuchtröhren.
»Das ist das Zeichen von dem Haus!«, rief Elias.
»Und von der App«, bestätigte Shaka.
»Was macht diese Webseite?«
Shaka sah plötzlich etwas missmutig aus. »Keine Ahnung. Einfach nur da sein, schätze ich.«
»Wie meinst du das?«
»Man kann nichts damit anfangen!«, empörte sich Shaka. »Es gibt keine Texte, keine Videos, keine Links auf weitere Seiten. Einfach nur dieses Symbol als Startseite. Sonst nichts. Nicht einmal ein Impressum oder sonst eine Kontaktmöglichkeit.«
»Wie heißt die Seite denn?«, fragte Elias.
»Das ist sogar noch verrückter. Schau!« Shaka öffnete die Adresszeile. Dort war zu lesen: »www.threshold.iz«.
»Threshold?«, wunderte sich Elias.
»Ja. Englisch für Türschwelle.«
»Und was ist.iz für ein Länderkürzel? Izland? Izenburg?«
Matt ließ Shaka ihr Handy sinken. »Wenn ich das nur wüsste! Dieses Kürzel dürfte es eigentlich gar nicht geben.«
»Nirgendwo? Nicht mal für irgendeine kleine Südsee-Insel?«
»Nein. Ich habe weiter nachgeforscht – und nicht das Geringste dazu gefunden.«
»Verstehe.« Elias strich sich das widerspenstige Haar zurück. »Das ist auch ziemlich schräg.«
»Das Beste kommt ja noch.« Shaka tippte wieder auf dem Gerät herum. »Ich habe mir dann mal den Quellcode der Seite angeschaut. Hier ist er.«
Sie zeigte ihm das Display. Es war mit merkwürdigen Schriftzeichen bedeckt, wie Elias sie noch nie zuvor gesehen hatte. Manche sahen ein wenig so aus, als hätte man kleine Menschen oder Tiere als Buchstaben gezeichnet, andere waren ein Chaos aus verschlungenen Strichen.
»Wie Hieroglyphen«, murmelte Elias.
»Ja«, bestätigte Shaka. »Jedenfalls nicht so, wie ein vernünftiger Quellcode aussehen sollte. Das ist keine Programmiersprache, von der ich je etwas gehört habe.«
Ratlos ließ Elias die Schultern sinken. »Eigenartig«, murmelte er. »Kannst du nicht deinen Vater danach fragen? Der macht das doch beruflich.«
Shaka rutschte unzufrieden auf dem Brunnenrand herum. »Wenn er denn mal Zeit hat«, sagte sie. »Heute ist er gerade erst zu irgendeiner Konferenz gefahren.«
»Mmh«, brummte Elias enttäuscht. »Wie hast du diese Webseite überhaupt gefunden?«
»Mit ganz banalen Suchbegriffen«, erwiderte Shaka. »Haus im Dunkeln, schwebende Lichter oder so ähnlich. Hätte nie erwartet, dass da etwas Brauchbares kommt. Und doch war es gleich der erste Treffer.« Sie stockte kurz. »Es war fast so, als hätte die Webseite mich gefunden.«
Elias schaute Shaka von der Seite an. Sie sah ungewöhnlich ernst aus und hatte die Lippen zusammengepresst. Shaka hatte es noch nie leiden können, wenn sich etwas ihrem rationalen Verstand entzog.
Für einen Moment schwiegen die beiden, während um sie herum die Leute flanierten und in ihrem Rücken der Brunnen vor sich hin plätscherte. Dann ertönte plötzlich ein keckerndes Lachen, das in ein kehliges Knurren überging. Es kam von Shakas Handy.
»Wieder der bengalische Königstiger?«, fragte Elias zweifelnd.
»Quatsch«, erwiderte Shaka mit einem tadelnden Blick. »Eine Tüpfelhyäne. Die meldet sich bei eingehenden Mails.«
Shaka öffnete ihr E-Mail-Programm – und stutzte.
»Guck doch, was gerade gekommen ist«, sagte sie.
Elias schaute auf die Nachricht, die sie geöffnet hatte. Der Absender lautete »koenigin@threshold.iz«. Der Text war so kurz wie merkwürdig: »Hilfe erwünscht.« Darunter folgte eine Reihe von Zahlen. Sonst nichts weiter.
»Langsam reicht es mir mit diesen Seltsamkeiten«, knurrte Shaka. Dann begann sie, eifrig auf ihrem Handy herumzutippen.
»Was tust du?«
»Eine Antwort schreiben und weitere Infos anfordern.«
Sie schickte die Mail mit einem energischen Klick ab. Kurz darauf verzog sie das Gesicht.
»Na toll«, murmelte sie. »Ich komme nicht zum Absender durch. Muss irgendeine No reply-Variante sein …«
Für einen Moment schwiegen beide ratlos.
Dann bemerkte Elias plötzlich eine Bewegung. Sie ging fast im allgemeinen Gewusel ringsum unter – und stach doch heraus. Weil sie aus der falschen Richtung kam: aus dem Mini-Dschungel neben dem Brunnen. Dort hatte gerade einer der Palmwedel verdächtig gewackelt. War das ein Kind?
Auf einmal spürte Elias wieder dieses seltsame Kribbeln hinter seiner Stirn. Und war sich sicher, dass das kein Kind war. Er wandte den Kopf, so langsam und unauffällig wie möglich. Zwischen den Grünpflanzen war nichts zu sehen. Er griff beiläufig in seine Tasche, zog sein Handy hervor und öffnete die In-Between-App. Dann richtete er die Kamera ruckartig auf den Topfpflanzen-Dschungel. Tatsächlich! Hinter dem Stamm einer Pflanze mit hellgrünen Riesenblättern hockte eine kleine, graue Gestalt – mit einem Paar ledriger Flügel auf dem Rücken.
Für einen Moment starrte er das Flügelding fassungslos an. Es starrte aus kleinen, klugen Augen zurück. Dann breitete die graue Gestalt ihre Flügel aus und huschte davon.
»Oh nein!«, rief Elias spontan und ignorierte Shakas seltsamen Blick. »Du bleibst hier!« Er schwenkte das Handy, um die Kreatur vor der Linse zu behalten.
»Was ist denn los?«, fragte Shaka verwirrt. Elias zeigte ihr das Display. Darauf war zu sehen, wie eine kleine, geflügelte Gestalt durch das Center huschte. Gerade bog sie in einen Seitengang ein, vorbei an Toiletten und Wickelraum – und schlüpfte durch eine angelehnte Metalltür mit der Aufschrift »Nur für Mitarbeitende«.
Shaka schaltete sofort. »Los, hinterher!«
Die beiden ließen ihre Milchshakes stehen und rannten zur Tür hinüber, vorbei an überraschten Passanten. Noch ehe Elias darüber nachdenken konnte, dass sie eigentlich keine Mitarbeitenden waren, hatten sie sich schon durch den Türspalt gequetscht. Dahinter lag ein kahler Gang, auf dem sich einige Pappkartons und Paletten stapelten. Von dem Flügelding war nichts zu sehen. Hektisch schwenkte Elias sein Handy herum. Die Kreatur musste hier doch irgendwo sein!
»Hörst du das auch?«, fragte Shaka plötzlich. Elias hielt inne und lauschte. Stimmt, irgendwo ächzte und schnaufte es! Es kam von oben, wo ein schmales Fenster knapp unter der Decke ein wenig Tageslicht einließ. Es war gekippt.
Elias hob sein Handy und fokussierte das Fenster mit der Kamera. Im Display sah er das graue Flügel-Wesen, das gerade verzweifelt versuchte, sich durch den Fensterschlitz nach draußen zu schieben. Allerdings waren seine Lederschwingen zu breit dafür. Es steckte fest.
»He!«, rief Elias dem Wesen zu, ohne nachzudenken. »Wir können dich sehen.«
Das Schnaufen hörte auf. Dann flimmerte die Luft im Fensterschlitz, und ein grauer Umriss erschien aus dem Nichts. Jetzt konnte Elias die Kreatur auch mit bloßem Auge erkennen. Shakas ungläubiges Keuchen verriet ihm, dass es ihr genauso ging.
Das Wesen hatte zwei Arme und zwei Beine wie ein Mensch, war aber viel kleiner und gedrungener. Graue, rissige Haut bedeckte seinen Körper, zwei kleine Hörnchen saßen auf seinem Kopf, der an den eines Ziegenbocks erinnerte. Aus seinen Schultern wuchsen ledrige Fledermausflügel. Einer von ihnen hatte einen breiten Riss, den man mit groben Nadelstichen zusammengenäht hatte. Elias musste bei dem Anblick an die Wasserspeier denken, die manchmal auf den Dächern von alten Kirchen hockten.
»Wenn ihr mich sehen könnt«, sagte eine krächzende Stimme, »dann helft mir doch auch bitte schön hier raus, ihr Glotzköpfe!«
Elias und Shaka tauschten einen verwirrten Blick.
»Starren kann jeder – machen ist gefragt!«, fuhr die kleine Kreatur fort. »Falls ihr das noch nicht verlernt habt, bei eurer ewigen Handy-Glotzerei … Pff, diese Jugend! Als ich in eurem Alter war, bin ich nächtelang um die Kirchtürme geflogen, bei Regen, Schnee und Hagelgewitter!«
Elias trat zögerlich einen Schritt auf das Wesen zu. Shaka hielt ihn zurück.
»Erst sagst du uns, was du hier machst und was du von uns willst«, befahl sie streng.
Der kleine, graue Kerl seufzte. »Was soll ich hier schon machen?«, knurrte er. »Wonach sieht es denn aus? Pilze sammeln? Den Schiefen Turm von Pisa aus Streichhölzern nachbauen? Ich bin dabei, euch zu beschatten, ihr Alles-Checker! Das mache ich.«
»Aber warum?«, fragte Elias ratlos.
»Weil ich ein Lästerspeier bin. Das ist meine Aufgabe.«
»Leute beschatten?«, entgegnete Elias empört.
»Dich beschatten, Elias Karpinski, um genau zu sein«, präzisierte das Geschöpf.
»Mich?« Das wurde ja immer besser!
»Ja. Dich. Soll ich es dir auf eine Postkarte schreiben? Oder weißt du schon gar nicht mehr, was das ist?«
Shaka räusperte sich streng. »Mein Freund hat dich etwas gefragt«, sagte sie. »Warum beschattest du ihn?«
»Weil er schon seit Tagen das Vier-Winde-Haus anglotzt und gestern auch noch durch das U-Bahn-Labyrinth gestolpert ist wie ein betrunkenes Mammut«, erwiderte das graue Ding – der Lästerspeier, wie es sich genannt hatte. »Das passiert normalerweise nicht. Menschen verirren sich nicht dorthin. Das ist auffällig. Genau das Richtige für die Lästerspeier.«
»Inwiefern?«, bohrte Shaka nach. »Details, bitte!«
Der Lästerspeier stöhnte genervt. »Mit eurer Unwissenheit könnte man eine Turnhalle bis unter die Decke füllen!«
»Dann erlöse uns bitte davon«, rief Elias, dem das beständige Gekeife langsam auf die Nerven ging. »Im Gegenzug befreien wir dich auch aus diesem Fenster.«
»Na schön«, knurrte der graue Kerl. »Wir Lästerspeier gleiten als Schatten über die Straßen und hocken unbemerkt auf den Dächern. Wir beobachten alles. Und erzählen es weiter. Wir verbreiten Lästereien und Gerüchte, Tratsch und Klatsch, was eben so passiert in der Stadt. Das ist unsere Aufgabe. Hättet ihr jetzt wohl die Güte, mich freizulassen?«
»Wenn du dich so gut auskennst«, überlegte Shaka, »kannst du uns dann auch sagen, was das hier sein soll?«
Sie hielt ihr Handy hoch und deutete auf das seltsame Torbogen-Icon auf dem Display.
»Vielleicht«, knurrte der Lästerspeier. »Holt mich endlich hier raus, dann kann ich einen Blick darauf werfen.«
»Und du fliegst nicht einfach so davon?«, fragte Elias skeptisch.
»Ihr habt mein Ehrenwort.«
»Und keine Ahnung, was das wert ist.«
»Jetzt wäre ich fast beleidigt!«, schimpfte der Lästerspeier. »Wenn ihr keine dummen, unwissenden Festwelt-Menschen wärt …«
»Und jetzt wären wir fast beleidigt«, erwiderte Elias.
Er schaute zu Shaka, die mit den Schultern zuckte. Sie konnten den geflügelten Kerl wohl kaum da oben hängen lassen. Also stieg er auf eine Palette und griff nach dem feststeckenden Wesen. Er erwischte einen der krallenbewehrten Füße. Die graue Haut fühlte sich rau wie Stein an. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Lästerspeier nach innen.
»Autsch!«, meckerte dieser, als er auf dem Boden auf kam. »Das geht auch sanfter, du grobpatschiger Mensch!«
Keifend richtete er sich auf und sortierte seine Flügel. Er reichte Elias bis knapp über das Knie.
»Also?« Shaka hielt dem Lästerspeier das Handy mit dem Icon ungerührt unter die Nase. Dieser sog schnüffelnd die Luft ein – und bekam plötzlich große Augen.
»Das riecht nach der Königin auf der Schwelle«, flüsterte er. »Gefährliches Zeug! Am besten vergesst ihr es sofort wieder.«
Shaka roch mit gerunzelter Stirn an ihrem Handy und schüttelte mit ihrem schönsten Der-spinnt-wohl-Blick den Kopf.
»Wieso?«, fragte Elias unterdessen. »Welche Königin?«
Der Lästerspeier senkte seine Stimme. »Der Herr der Spiegel hat gerade Streit mit ihr«, sagte er. »Darum mag er niemanden, der sich mit ihr abgibt. Nehmt euch vor ihm in Acht!«
Er beugte sich verschwörerisch vor. »Die anderen Lästerspeier sind schon bei ihm«, flüsterte er. »Sie verkaufen ihm frische Gerüchte, unsere Spezialität. Die frischesten sind über dich, Elias Karpinski. Schon bald wird der Spiegelherr wissen, dass es dich gibt. Am besten hältst du den Kopf unten.«
Elias stöhnte überfordert. Herr der Spiegel? Gefahr? Was sollte das?
Der Lästerspeier aber fuhr ungerührt fort: »Ich rate dir das in Freundschaft. Weil du mir geholfen hast – wenn man diese Grobheit so nennen kann. Ich muss jetzt los, meine Gerüchte abliefern. Dass ihr mit der Königin zu tun habt, wird den Herrn der Spiegel sehr interessieren …«
»Sagtest du denn nicht, der sei gefährlich?«, rief Elias.
Der Lästerspeier zuckte mit den Flügeln. »Ist er. Aber Geschäft ist Geschäft. Und wer kommt schon gegen seine Natur an? Tut mir leid …«
Er breitete die Schwingen aus und flatterte an ihnen vorbei, zurück in die Einkaufspassage. Elias starrte ihm verdattert hinterher. In seinem Bauch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus.
»Wirst du irgendwie schlau aus dem Ganzen?«, fragte er leise.
Shaka schüttelte den Kopf. »Nee«, sagte sie und klang irgendwie müde. »Aber eines weiß ich ganz sicher: Ich werde dir ab jetzt alles glauben, was du mir erzählst. Und wenn du mit geflügelten Elefanten im rosa Tutu ankommst.«
Elias hätte gerne etwas Witziges erwidert. Doch danach war ihm nicht zumute.
»Ich hoffe nur, wir haben da keinen Fehler gemacht«, sagte er und deutete auf Shakas Handy.
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Shaka. Beklommen schauten sie sich an. Beide wussten sie es besser.