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2 Motorik

Definition

Motorik bedeutet sowohl Bewegung als auch Haltung. Haltung und Bewegung werden vom zentralen und vom peripheren Nervensystem gesteuert und kontrolliert, teils bewusst und teils unbewusst.

Zu Beginn sollen einige Begriffe erläutert werden. Die vom Zentralnervensystem (ZNS) kontrollierte, bewusste Bewegung ist die Willkürmotorik. Als Körpermotorik bezeichnet man die Koordination der Haltung und Bewegung von Rumpf und Extremitäten. Unter Handmotorik versteht man die Handgeschicklichkeit und die Koordination der Fingerbewegungen. Statomotorik meint die Regulierung von Gleichgewicht, Aufrichtung und Gang.

Motorik ist eingebettet in ein System, das sich gegenseitig beeinflusst und kontrolliert. Dazu gehören das motorische, das sensible und das vegetative System. Diese drei Systeme haben unterschiedliche Aufgaben.

• Motorisches System

Steuerung der Willkürbewegungen und der reflektorischen, unbewussten Anpassung der Muskelaktivitäten an die äußeren Bedingungen.

• Sensorisches System

Erfassung und Verarbeitung (taktil-kinästhetische Wahrnehmung) von Signalen der Sinnesorgane in der Muskulatur, den Sehnen und den Gelenken an die Gehirnzentren, evtl. mit Bewusstwerdung.

• Vegetatives (autonomes) System

Koordination und Anpassung der Tätigkeit der inneren Organe (Atmung, Herz und Kreislauf, Verdauung, Blase). Es arbeitet »autonom«, also ohne bewusste Kontrolle.

Die Sensorik ist das System des Fühlens und der Körperwahrnehmung. Betrachten wir beide Systeme, Motorik und Sensorik, als eine Einheit, in der das eine System ständig Informationen des anderen Systems verarbeitet und rückmeldet, so sprechen wir von Sensomotorik (auch Kap. 11). Die Steuerung der Motorik ist jedoch nicht allein Aufgabe des taktil-kinästhetischen Systems, sondern es sind auch Teilbereiche der visuellen Verarbeitung, der Hörverarbeitung und des Gleichgewichtssystems beteiligt. Denken wir hingegen vor allem an ein Zusammenwirken von Motorik mit der psychischen und kognitiven Entwicklung, so sprechen wir von Psychomotorik.

Der unbewusste Antrieb zu einem Bewegungsablauf geht von subkortikalen, also unter der Hirnrinde gelegenen Motivationsarealen im Stirnhirn und im limbischen System aus. Das limbische System hat eine besondere Bedeutung bei der Verarbeitung von Emotionen und bei Gedächtnisleistungen. Emotionen sind ja oft ein wichtiger Antrieb für Bewegungsleistungen (ausführlich dazu Kap. 15). Automatisierte Bewegungen wie Hüpfen und Fahrradfahren werden anfangs bewusst erlernt, später unbewusst gesteuert.


Abb. 2.1: Großhirnareale der motorischen Steuerung

Bewusste Bewegungsmuster wie z. B. das Ausweichen vor einem Hindernis werden im supplementär-motorischen Kortex und im prämotorischen Kortex geplant ( Abb. 2.1). Das detaillierte Bewegungsprogramm entsteht in einem Zusammenwirken von supplementär-motorischem Kortex, Basalganglien (das sind große Kerngebiete unterhalb der Hirnrinde) und Kleinhirn.

2.1 Das pyramidale System

Die Aktivierung der Bewegung ist Aufgabe der Pyramidenzellen des motorischen Kortex, einer Hirnwindung, die vor der großen Zentralfurche liegt (Gyrus präzentralis). Die Pyramidenzellen sind große Neurone mit einem fast dreieckigen Zellkörper. Die Steuersignale der Pyramidenzellen werden nun über die Pyramidenbahn in das Rückenmark weitergeleitet ( Abb. 2.2). Die Pyramidenbahn wird von den absteigenden Axonen der Pyramidenzellen gebildet. Ihren Namen hat sie wohl aber nicht durch diese charakteristisch geformten Zellen, die es auch in anderen Bereichen des Großhirns gibt, sondern von der länglichen Vorwölbung, die die Bahn im verlängerten Rückenmark verursacht (pyramis = Kegel). Die meisten Axone kreuzen im verlängerten Mark (Medulla oblongata) auf die Gegenseite. Die anderen steigen ungekreuzt ab. Die Fasern, die aus der motorischen Rinde der linken Hemisphäre stammen, kommen im rechten Anteil des Rückenmarks an und umgekehrt. Im Rückenmark erreichen sie diejenigen Segmente, für deren Steuerung sie zuständig sind, z. B. liegen die Segmente für die motorische Steuerung der Arme im Rückenmark der Halswirbelsäule und die Segmente für die Steuerung der Beine im Rückenmark der Lendenwirbelsäule und des Kreuzbeins. Die Axone der Pyramidenbahn enden an den Neuronen des peripheren Nervs. Dort werden sie auf die peripheren Nerven umgeschaltet. Diese Neuronen, die die Verbindung zu den Muskelfasern herstellen, heißen Motoneurone und sind über den peripheren Nerv, der das Rückenmark und die schützende Wirbelsäule verlässt, mit den entsprechenden Muskelfasern verbunden. Der periphere Nerv zieht in den Gliedmaßen oder am Rumpf entlang zu den beteiligten Muskeln.


Abb. 2.2: Die Pyramidenbahn: Das im Rückenmark absteigende Faserbündel aus dem motorischen Kortex erreicht die verschiedenen Rückenmarksebenen.

2.2 Das extrapyramidale System und das Kleinhirn

Neben dem sehr direkt, aber auch etwas grob steuernden pyramidalen System ist das extrapyramidal-motorische System parallel geschaltet. Es regelt die Haltungs- und Bewegungseinstellungen sowie die Muskelspannung (Tonus) und unterstützt die Verschaltung zum Kleinhirn. Es bezieht seine Signale vornehmlich aus dem prämotorischen und supplementären Kortex und gibt sie über Synapsen an die Basalganglien weiter. Die Basalganglien (auch Stammganglien genannt) sind große Kerngebiete unterhalb der Hirnrinde (subkortikal), die über eine Rückmeldeschleife über den Thalamus zur Großhirnrinde eine motorische Regulation leisten. Darüber hinaus sind sie in die Handlungsplanung, das vorausschauende Handeln, die motorische Spontaneität und Selektion sowie die Bildung von Handlungsabfolgen einbezogen.

In einer zweiten Schleife zur Feinregulation und Verknüpfung werden Signale der Pyramidenzellen in einem Nebenschluss zum Kleinhirn geleitet. Das Kleinhirn ist u. a. für die Steuerung der Bewegungen zuständig, also für Koordination, Feinabstimmung, unbewusste Planung und das Erlernen von Bewegungsabläufen. Darüber hinaus ist das Kleinhirn parallel zum Großhirn an der Verarbeitung optischer und akustischer Signale beteiligt.

2.3 Das spinale System

Das Rückenmark (Medulla spinalis) ist derjenige Teil des ZNS, der im Wirbelkanal der Wirbelsäule verläuft. Das spinale System umfasst also einerseits absteigende Bahnen der Motorik und andererseits aufsteigende Bahnen der Sensorik zur Weiterleitung der gefühlten Informationen. Auf jedem Segment des Rückenmarks verlassen periphere motorische Nerven rechts und links über die vordere Nervenwurzel den schützenden Nervenkanal. Die hintere Nervenwurzel wird auch als sensibles Neuron bezeichnet. Sie leitet Impulse aus dem Körper zur grauen Substanz des Rückenmarks.

Reflexe sind programmierte Bewegungsabläufe. Auf einen spezifischen äußeren Reiz folgt eine schnelle, typische und reproduzierbare Reaktion. Da das Gehirn an der Reflexbildung nicht oder nur gering beteiligt ist, laufen Reflexe unbewusst ab. Diese Reaktionen sind daher sehr schnell und schützen uns in kurzer Zeit. Die kürzeste Verschaltung zwischen einem Motoneuron und einem sensiblen Neuron ist der Muskeleigenreflex. Wird z. B. die Kniesehne durch einen Schlag mit einem Gummihammer gedehnt, sendet das sensible Neuron das Dehnungssignal über einen sensiblen Nerv an das Rückenmark. Dort wird es direkt auf ein Motoneuron umgeschaltet und gelangt über den motorischen Nerv zum zugehörigen Muskel. Beim Kniesehnenreflex zieht sich der streckende Oberschenkelmuskel zusammen und bewirkt eine Streckbewegung im Kniegelenk. Solche Reflexreaktionen haben den Vorteil, sehr schnell und automatisiert abzulaufen. Rhythmische Bewegungsmuster wie Laufen oder Hüpfen vereinen in sich Merkmale von Willkürbewegung und von unwillkürlichen, durch Reflexe beeinflusste Bewegungen. Der Beginn kann willkürlich, also kortikal und subkortikal ausgelöst und am Ende bewusst kontrolliert werden. Einmal ausgelöst, sind solche wiederkehrenden und erlernten Muster aber fast automatisch auf reflexhafte Weise ohne großen Aufwand zu bewältigen. Wenn man einmal das Laufen, das Schwimmen, das Autofahren oder das Ballwerfen erlernt hat, können deren unbewusste Bewegungsanteile rasch und zuverlässig abgerufen werden. Wenn ein erlernter Bewegungsablauf modifiziert und an neue Bedingungen angepasst werden soll, muss er bewusst gesteuert und geübt werden, um dieses neue Muster wieder zu automatisieren. Das spinale System hilft auch dabei, das Wechselspiel zwischen Anspannung (Kontraktion) und Entspannung von gegensinnig arbeitenden Muskeln zu steuern. So können das Beugen und Strecken des Unterarms oder des Unterschenkels nur im Wechselspiel zwischen gegensinnig arbeitenden Beuge- und Streckmuskeln wirksam werden.

Neben dem Eigenreflex gibt es noch andere Arten von Reflexen. So schützt uns der angeborene Lidschlussreflex vor einer Augenverletzung. Darüber hinaus gibt es erlernte (konditionierte) Reaktionen, wie die bedingte Sekretproduktion, die allein auf den durch Training zum bedingten (konditionierten) gewordenen Glockenton beim Pawlowschen Hund ausgelöst werden kann. Solche Arten von erlernten Reaktionen erfordern ein Zusammenspiel verschiedener Hirn- und Rückenmarkszentren.

Beim Säugling gibt es zwei Arten von Reflexen, die wir kennen sollten: die Neugeborenen-Reflexe, die leider manchmal noch Primitiv-Reflexe genannt werden, und die reflexähnlichen Säuglings-Reaktionen.

Als Neugeborenen-Reflexe werden angeborene Reflexbewegungen bezeichnet, an denen mehrere Muskelgruppen beteiligt sind und die nach vier bis acht Wochen spontan abklingen. Dazu gehören u. a. der Saugreflex, der Suchreflex, der Schreitreflex, der Fußgreif- und der Handgreifreflex. Nur eine schwache Form des Fußgreifreflexes kann manchmal noch über einige Monate ausgelöst werden. Die Neugeborenen-Reflexe statten den kleinen Säugling mit nützlichen Bewegungsschablonen aus, die überlebenswichtig sind: Der Suchreflex wird bei Berührung der Wange ausgelöst und führt zu einer Bewegung des Köpfchens zur Seite und zu einer Öffnung des Mundes. Er erleichtert das Auffinden der mütterlichen Brustwarze. Der Saugreflex tritt sofort ein, wenn die Lippen berührt werden. Der Saugreflex wird schon im Mutterleib genutzt: Das ungeborene Kind lutscht manchmal stark an seinem Daumen. Bekommt der Säugling Milch, wird gleichzeitig der Schluckreflex ausgelöst. Auch der Schluckreflex wird schon vor der Geburt im Ultraschallbild beobachtet: Das Kind schluckt Fruchtwasser.

Die Säuglingsreaktionen sind Haltungs- und Stellreaktionen. Ihre komplexen Muster erfüllen eigentlich nicht mehr die Charakteristika von Reflexen, da der Ausprägungsgrad je nach Alter und Reifung des Kindes unterschiedlich sein kann und auch vom Wachheitsgrad und von emotionalen Faktoren abhängt. Zu den Säuglingsreaktionen zählen die »Landau-Reaktion« (Kind wird auf der Hand aus der Bauchlage hochgehoben), die Unterstützungsreaktion (Kind wird senkrecht unter den Armen gehalten und auf eine Unterlage gestellt) und die Traktionsreaktion (Kind wird aus der Rückenlage langsam an den Händen hochgezogen).

2.4 Zusammenfassung: Das motorische System

1. Pyramidales System: direkte Verbindung der Pyramidenzellen der motorischen Rinde mit Neuronen im Rückenmark

2. Extrapyramidales System: supplementär-motorischer Kortex, motorischer Kortex, Basalganglien

3. Kleinhirn: Verbindung zum assoziativen und zum motorischen Kortex und zur Muskulatur

4. Spinales System: Rückkopplungsschleife zwischen Muskeln und Rückenmark

Reflexe sind unbewusst ablaufende, vorprogrammierte Bewegungsmuster. Der Muskeleigenreflex verschaltet auf dem kürzesten Weg über das Rückenmark einen Dehnungsreiz mit einem motorischen spinalen Neuron. Reflexe und komplexe reflexartige Reaktionen ergänzen die Willkürmotorik mit automatisierten Bewegungsmustern. Die angeborenen Neugeborenen-Reflexe klingen in den ersten Lebenswochen und -monaten spontan ab. Säuglingsreaktionen und konditionierte Reflexe sind komplexe Bewegungsabläufe, die von Vigilanz, Emotion und bewussten und erlernten Mustern modifiziert werden.

Weiterführende Literatur

Brühlmann-Jecklin, E. (2016). Arbeitsbuch Anatomie und Physiologie. München: Urban & Fischer/Elsevier.

Putz, R. & Pabst, R. (2007). Sobotta – Der komplette Atlas der Anatomie des Menschen in einem Band. München: Urban & Fischer/Elsevier.

Vaupel, P. & Schaible, H.-G. (2015). Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie des Menschen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter

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