Читать книгу Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter - Henning Rosenkötter - Страница 8
1 Vom Gehirn und vom Neuron
ОглавлениеDas menschliche Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neurone), die durch etwa 100 Billionen Kontaktstellen (Synapsen) miteinander in Verbindung stehen. Unter dem Begriff Zentralnervensystem (ZNS) werden das Gehirn und das Rückenmark zusammengefasst. Als peripheres Nervensystem werden alle Anteile außerhalb des ZNS bezeichnet: vor allem die motorischen Nerven, die das Rückenmark verlassen, und die sensiblen Nerven, die vom Gewebe zum Rückenmark kommen, und auch das vegetative Nervensystem. Der Kortex, die Rinde des Großhirns, ist 2–5 mm dick und so stark gefaltet, dass seine Oberfläche 1800 Quadratzentimeter einnimmt. Diese dichte Zellschicht wird die graue Substanz genannt, während die zu- und wegführenden Nervenfasern die weiße Substanz bilden. Die Nervenfasern verbinden die Hirnzentren miteinander, oder sie verlassen das Gehirn in dichten Bündeln zum Rückenmark hin, von wo sie ihre Signale als motorische Nerven zu den Muskeln (efferente Nerven) leiten, oder dem Gehirn als sensible Nerven Informationen aus der Peripherie (afferente Nerven) bringen.
Abb. 1.1: Die Lappen des Großhirns und zwei wichtige Hirnfurchen
Den größten Raum im ZNS nimmt das Großhirn ein. Es besteht aus einer linken und einer rechten Großhirnhemisphäre. Beide sind durch ein breites Faserbündel, den Balken (Corpus callosum), miteinander verbunden. Sie werden in jeweils vier Lappen unterteilt ( Abb. 1.1): Stirnlappen (Frontallappen), Scheitellappen (Parietallappen), Schläfenlappen (Temporallappen) und Hinterhauptslappen (Okzipitallappen). Das Stirnhirn und der Scheitellappen sind durch eine tiefe Furche, die Zentralfurche (Sulcus zentralis) voneinander getrennt. Jeder Lappen hat seine eigenen Windungen und Furchen. So liegt die vordere Zentralwindung (Gyrus präzentralis) vor, die hintere Zentralwindung (Gyrus postzentralis) hinter der Zentralfurche. Die Sylvische Furche trennt den Stirnlappen vom Schläfenlappen.
Zwischen den Großhirnhemisphären und um den dritten Hirninnenraum (Ventrikel) herum liegt das Zwischenhirn. Es besteht aus dem Thalamus, dem darunter liegenden Hypothalamus und der kleinen, hormonbildenden Hypophyse. Der Thalamus ist eine außerordentlich wichtige Sammel- und Umschaltstelle. Außer der Riechbahn werden dort alle ankommenden Informationen (sensorisch, optisch, akustisch) von der einen Nervenbahn auf mehrere andere verteilt. Solche Umschaltzentren werden im Gehirn auch häufig Kern (Nucleus) genannt. Für das Sehen und das Hören gibt es im Thalamus Umschaltstationen, die dem Thalamus wie kleine Vorwölbungen aufgesetzt sind, die so genannten Kniehöcker. Aber auch alle ausgehenden Signale wie z. B. die motorischen Befehle werden im Thalamus umgeschaltet. Der Thalamus ist daher das unter der Rinde liegende Tor zum Kortex des Großhirns. Im Hypothalamus werden wichtige unbewusste Regulationen gesteuert: der Wasserhaushalt, die Temperaturregulation, die Nahrungsaufnahme.
Abb. 1.2: Zwischenhirn, Mittelhirn, Hirnstamm, Kleinhirn
Das Mittelhirn ist ein kleiner Gehirnteil, der das Zwischenhirn und die Brücke (Pons) miteinander verbindet. Brücke und das darauf sitzende Kleinhirn (Zerebellum) bilden zusammen eine funktionelle Einheit ( Abb. 1.2). Das Kleinhirn übernimmt Aufgaben in der Feinsteuerung der Motorik und in der Seh- und Hörwahrnehmung. Seine Fältelung und seine Zellstruktur sind besonders fein differenziert und dicht. Die Oberfläche des Kleinhirns erreicht eine erstaunliche Größe: Sie entspricht 75 % der Oberfläche des Großhirns.
Unterhalb des Zwischenhirns liegt der Hirnstamm. Dazu gehören das Mittelhirn, die Brücke und das verlängertes Rückenmark (Medulla oblongata). (Der Begriff Stammhirn bezeichnet den Hirnstamm und zusätzlich noch das Zwischenhirn.). Im Hirnstamm verlaufen nicht nur auf- und absteigende Bahnen, sondern er ist auch der Sitz zahlreicher Hirnnervenkerne. Als Hirnnerven werden diejenigen Nerven bezeichnet, die nicht aus dem Rückenmark entspringen, sondern direkt aus dem Gehirn kommen. Sie verlassen den knöchernen Schutz des Gehirns an verschiedenen Stellen des Schädels und versorgen überwiegend die Organe des Kopfes. Die Hirnnervenkerne III, IV und VI steuern die Bewegungen der Augäpfel, der Hirnnervenkern VII (Fazalisnerv) ist für die Steuerung der Mimik wichtig und der VIII. Hirnnerv sammelt die Informationen vom Innenohr und vom Gleichgewichtsorgan. Nur der X. Nerv, der sogenannte Vagusnerv, zieht eine längere Bahn: Er ist ein Hauptnerv des vegetativen Nervensystems und steuert die Tätigkeit vieler innerer Organe.
Abbildung 1.3 zeigt die Mitte des Gehirns in einer mittleren Schnittebene, gewonnen mit einer Untersuchung, die Kernspintomographie oder Magnetresonanztomographie (MRT) genannt wird. Das MRT ist ein bildgebendes Verfahren, das eine Darstellung der Struktur des Gewebes erlaubt. Das Bild zeigt auch die Gürtelwindung (Gyrus cinguli) oberhalb des Balkens, die zum limbischen System gehört ( Abb. 1.3).
Abb. 1.3: Mittelschnitt durch das Gehirn in der Magnetresonanztomographie (MRT)
Ein anderes wichtiges Kernsystem befindet sich im Hirnstamm: die Formatio retikularis. Der Name (»netzartige Bildung«) rührt aus der diffus und maschenartig miteinander verbundenen Struktur, die wie ein Netz von vielen Kerngebieten wirkt und Anschluss an den Thalamus und an das Rückenmark hat. Die Formatio retikularis ist für zahlreiche unbewusste Funktionen verantwortlich: Kreislauf und Atemzentrum, Brechzentrum, Schmerz, Emotionen, Harnblasensteuerung, Anteile der Bewegungssteuerung und über den Nucleus accumbens und den Nucleus ruber Anteile der Aufmerksamkeitssteuerung.
Nach diesem Blick auf das Gehirn von außen wenden wir uns nun der Feinstruktur des ZNS zu. Beginnen wir mit der Funktion der Nervenzellen, den Neuronen ( Abb. 1.4). Sie erfassen und verarbeiten alle Informationen, die das Gehirn erhält, und sie können gleichzeitig senden und empfangen. Das eingehende Signal kommt entweder über ankommende (afferente) Nervenfasern anderer Neurone oder durch eigene Fasern, die Dendriten. Die Verbindungsstellen (Synapsen) mit anderen Nervenzellen kontaktieren mit ihnen direkt am Zellkörper oder über Synapsen, die auf den Dendriten liegen. Bei manchen Nervenzellen gibt es eine besonders starke und lange auslaufende Faser: das Axon. Eine Erregung im Neuron wandert besonders schnell über das Axon, weil es über Abschnitte verfügt, die Markscheiden genannt werden. Diese Markscheiden-Abschnitte haben Verengungen und Einschnürungen, die Schnürringe.
Markscheiden bestehen aus Myelin-Lamellen, die von speziellen Zellen gebildet werden und sich wie Spiralen um die Axone winden. Myelin heißt Mark und ist eine gewundene Membran. Solche markumwickelten Axone können die Erregung schneller leiten als marklose Fasern. Die hohe Übertragungsgeschwindigkeit der markhaltigen (myelinisierten) Fasern kommt dadurch zustande, dass das Myelin wie eine Isolationsschicht wirkt. Dadurch wird die Veränderung der elektrischen Ladung nicht kontinuierlich fortgeleitet, sondern sie springt von einem nicht markumlagerten Schnürring zum nächsten. Myelin bildet sich in der ganzen Kindheit und Jugend und ist der Grund dafür, dass die Erregungsübertragung mit zunehmendem Alter immer schneller wird und das Volumen des Gehirns noch ständig zunimmt, obwohl ab der Geburt keine neuen Neurone mehr gebildet werden.
Abb. 1.4: Ein Neuron (1: Dendriten (blau), 2: Zellkörper, 3: Axon, 4: Zellkern, 5: Myelinscheide (weiß), 6: Schnürring)
Die Fortleitung von Signalen im Neuron beruht auf chemischen und elektrischen Vorgängen. Zwischen dem Inneren der Nervenzelle und der Umgebung besteht ein elektrisches Spannungsgefälle, ein elektrisches Potenzial. Diese Spannung kann an der Zellmembran fein abgestuft werden, je nach der Stärke der Erregung des Neurons. Diese wiederum wird von der Stärke der eingehenden Signale bestimmt. Überschreitet das Potenzial an den ausgehenden (efferenten) Fasern eine bestimmte Schwelle, wird plötzlich ein Aktionspotenzial ausgelöst. Die Auslösung folgt dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, d. h. entweder ist die Erregung überschwellig und das Potenzial wird ausgelöst oder es wird nicht ausgelöst. Es gibt nur Null (Ruhe) oder Eins (Erregung). Das Aktionspotenzial breitet sich mit großer Geschwindigkeit in den auslaufenden Fasern aus.
Den elektrischen Ruhezustand eines Neurons nennt man Ruhepotenzial. Damit ist gemeint, dass die Zellmembran eine Spannung aufrechterhält, indem ständig durch eine chemische Reaktion Natrium aus der Zelle herausgepumpt und Kalium hineingelassen wird. Diese Natrium-Kalium-Pumpe führt an der Zellmembran zu einem Spannungsungleichgewicht, eben dem Ruhepotenzial. In der Membranwand gibt es Kanäle für Ionen, durch die bei einer bestimmten Spannung zwischen dem Inneren der Zelle und dem Zellaußenraum schlagartig innerhalb einer Millisekunde Natriumionen in das Zellinnere einströmen. Das Ruhepotenzial, eine im Zellinneren negative Ladung, kehrt sich nun plötzlich in eine positive Ladung um. Diesen Potenzialumschwung nennt man ein Aktionspotenzial. Es kann über das Axon an andere Zellen fortgeleitet werden. Das Aktionspotenzial besteht aus einem Entladungsanteil (Depolarisation) und einer kurzen Phase, in der der Natriumeinstrom nach einer Millisekunde abgestoppt und Kalium ausgeschleust wird (Repolarisation), um den ursprünglichen Ruhezustand wiederherzustellen. Nach Ablauf des Aktionspotenzials ist das Neuron für 1–2 Millisekunden nicht wieder erregbar (Refraktärzeit). Von außen kommende Reize können zwar aufgenommen werden, aber sie führen nicht zu einem neuen Aktionspotenzial.
Abb. 1.5: Struktur einer Synapse zwischen Axon und Dendrit
Wenn die Erregung mit einem Aktionspotenzial über ein Axon läuft, wird sie über viele knospenartige Ausläufer (Synapsen) an benachbarte Zellkörper und deren Dendriten weitergegeben. In diesen Synapsenknöpfchen gibt es Bläschen, die prall mit Botenstoffen (Neurotransmittern) gefüllt sind. Ihnen gegenüber liegt an der Synapse des benachbarten Zellkörpers oder Dendriten eine Empfangsmembran. Kommt nun das Aktionspotenzial an die Synapse, werden die Neurotransmitter innerhalb von einer Millisekunde aus den Bläschen entlassen und durch die Synapsenmembran in den Zwischenraum zwischen Synapse und Empfangsmembran (postsynaptische Membran) geschickt ( Abb. 1.5). Den Synapsenspalt überschreiten sie und gelangen an der Empfangsmembran auf spezielle Rezeptoren, die spezifisch immer nur einen bestimmten Botenstoff binden. Die Bindung der Botenstoffe an die Rezeptoren löst in der Nachbarzelle wieder einen Spannungsunterschied aus. Je nach Art des Neurotransmitters und je nach Art des Rezeptors wirkt dieses Potenzial an der Nachbarzelle erregend oder hemmend.
Das einzelne Neuron kann also nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip erregt werden und eine Erregung aussenden oder nicht. Wie kann es dann eine Abstufung der Erregung geben? Es gibt zwei Antworten: Zum einen wirkt sich die Stärke des Reizes auf die Anzahl der Aktionspotenziale pro Zeiteinheit aus. Die andere Antwort ergibt sich, wenn man eine Gruppe von Neuronen betrachtet: Manchmal überwiegen die hemmenden, manchmal die erregenden Impulse. Die Modulation einer Information geschieht durch die Summe von erregenden und hemmenden Einflüssen. Die Feinjustierung ist also in der Zusammenarbeit von funktionell kooperierenden Neuronen möglich.
Eine Sonderform einer synaptischen Verbindung ist die Verbindung zwischen einem Axon und einer Muskelzelle: Die Stelle, an der eine Synapse auf eine Muskelfaser trifft, nennt man die motorische Endplatte. Das ankommende Axon bildet einen synaptischen Endkolben, der viele kleine Energie liefernde Zellorganellen (Mitochondrien) und Bläschen (Vesikel) enthält ( Abb. 1.6).
Abb. 1.6: Motorische Endplatte: eine Synapse an der Muskelfaser
Die Vesikel sind vollgestopft mit dem Neurotransmitter Acetylcholin. Kommen Aktionspotenziale über das zuleitende Axon an, so öffnen sich Kalziumionenkanäle. Die acyetylcholinhaltigen Bläschen entleeren sich an der Zellmembran in den synaptischen Spalt. Das freigesetzte Acetylcholin bindet sich an die Rezeptoren der Muskelfaser-Endplatte. Dies ist das Signal zur Kontraktion der darunter liegenden Muskelfaser. Die Größe einer motorischen Einheit entscheidet, wie viele Skelettmuskelfasern sich gleichzeitig zusammenziehen.