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I Von der Stadt zur verstädterten Gesellschaft
ОглавлениеAllem voran sei eine Hypothese gesetzt: die von der vollständigen Verstädterung der Gesellschaft. Wir werden für diese Hypothese Beweise erbringen und sie mit Fakten untermauern müssen. Unsere Hypothese enthält eine Definition. Wir wollen also die Gesellschaft eine »verstädterte« nennen, die das Ergebnis einer vollständigen – heute potentiellen, morgen tatsächlichen – Verstädterung sein wird. Eine solche Definition setzt der Vieldeutigkeit der Begriffe ein Ende. Denn bislang verstand man alles mögliche unter einer »verstädterten Gesellschaft«: den griechischen Stadtstaat, die orientalische oder die mittelalterliche Stadt, die Handels- oder die Industriestadt, Kleinstadt oder Großstadt. Damit entsteht ein Zustand extremer Verwirrung, bei dem man die Gesellschaftsbeziehungen außer acht läßt oder ausklammert, aus denen der jeweilige Stadttypus entstanden ist. Man vergleicht »verstädterte Gesellschaften« miteinander, die in nichts vergleichbar sind, um die jeweilige Ideologie zu belegen: den Organizismus (jede »verstädterte Gesellschaft« wird für sich genommen und gilt als organisches »Ganzes«), die Kontinuitätslehre (die eine historische Kontinuität bzw. ein ständiges Vorhandensein der »verstädterten Gesellschaft« postuliert), den Evolutionismus (Zeitabschnitte, die Gesellschaftsbeziehungen verwischen bzw. sie verschwinden machen). Wir wollen uns den Ausdruck »verstädterte Gesellschaft« für eine Gesellschaft vorbehalten, die aus der Industrialisierung entsteht. Unter »verstädterter Gesellschaft« verstehen wir also eine Gesellschaft, die aus eben diesem Prozeß hervorgegangen ist und die Agrarproduktion beherrscht und aufbraucht. Diese verstädterte Gesellschaft entsteht erst nach Beendigung eines Prozesses, in dessen Verlauf die alten Stadtformen zerfallen, abgelöst von zusammenhanglosen Veränderungen. Ein wesentlicher Aspekt des theoretischen Problems besteht darin, daß Diskontinuitäten und Kontinuitäten miteinander in Beziehung gesetzt werden und umgekehrt. Denn wie könnte eine absolute Zusammenhanglosigkeit bestehen, ohne daß unter der Oberfläche Zusammenhänge vorhanden wären, ohne Gemeinsamkeiten, ohne daß ein inhärenter Prozeß abliefe? Und wie gäbe es umgekehrt eine Kontinuität ohne Krisen, ohne das Auftauchen neuer Elemente und neuer Beziehungen?
Die einzelnen Wissenschaftszweige (die Soziologie, die politische Ökonomie, die Geschichte, die Humangeographie usw.) haben zahlreiche Benennungen vorgeschlagen, die »unsere« Gesellschaft mit ihren Realitäten, ihren unter der Oberfläche vorhandenen Strömungen, ihren Fakten und Möglichkeiten charakterisieren sollten. Man hat von der Industriegesellschaft und in jüngerer Zeit von der nachindustriellen Gesellschaft gesprochen, von der Gesellschaft des technischen Zeitalters, der Wohlstandsgesellschaft, der Freizeitgesellschaft, der Konsumgesellschaft usw. Jede solche Benennung enthält einen Teil der empirischen oder begrifflichen Wahrheit, der Rest ist Übertreibung und Extrapolierung. Um die Gesellschaft der nachindustriellen Zeit, also die aus der Industrialisierung hervorgegangene und ihr folgende zu benennen, wird hier der Begriff verstädterte Gesellschaft vorgeschlagen, womit mehr eine Tendenz, eine Richtung, eine Virtualität und weniger ein fait accompli zum Ausdruck gebracht werden sollen. Infolgedessen bleibt die kritische Darstellung zeitgenössischer Realitäten, etwa die Analyse der »bürokratisch gelenkten Konsumgesellschaft«, davon völlig unberührt.
Es handelt sich also um eine theoretische Hypothese, die zu formulieren und als Ausgangsbasis zu benutzen das wissenschaftliche Denken berechtigt ist. Dieses Verfahren ist in der Wissenschaft nicht nur gang und gäbe, sondern sogar notwendig. Ohne theoretische Hypothesen keine Wissenschaft. Schon jetzt muß darauf hingewiesen werden, daß unsere Hypothese, die sogenannten »Gesellschaftswissenschaften« betreffend, eng mit einem epistemologischen und methodologischen Begriff verbunden ist. Erkenntnis muß nicht unbedingt Kopie oder Abbild, Vortäuschung oder Nachbildung eines schon jetzt tatsächlich vorhandenen Objektes sein. Umgekehrt wird sie ihr Objekt nicht unbedingt im Namen einer der Erkenntnis vorausgehenden Theorie aufbauen – einer Theorie über das Objekt oder die »Modelle«. Für uns hier ist das Objekt in der Hypothese enthalten, die Hypothese befaßt sich mit dem Objekt. Nun befindet sich dieses »Objekt« zwar jenseits des (empirisch) Feststellbaren, dennoch ist es nicht fiktiv. Wir setzen ein virtuelles Objekt ein, die verstädterte Gesellschaft, ein mögliches Objekt also, dessen Entstehen und Wachstum, in Verbindung mit einem Prozeß und einer Praxis (einer Aktion), wir darlegen wollen.
Freilich muß die Gültigkeit dieser Hypothese bewiesen werden, wir werden nicht zögern, immer wieder auf sie hinzuweisen und darin nicht nachlassen. Weder an Argumenten noch an Beweisen, die für sie sprechen, angefangen bei den einfachsten bis hinauf zu den subtilsten, fehlt es uns.
Wir brauchen wohl nicht weiter auf den weltweiten Autonomieverlust der Agrarproduktion in den großen Industrieländern hinzuweisen, darauf, daß sie weder der wichtigste Wirtschaftssektor mehr ist, noch auch ein Sektor mit hervorstechenden Merkmalen (es sei denn dem der Unterentwicklung). Wenn auch lokale und regionale Eigenarten aus einer Zeit, als die Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig war, nicht verschwunden sind, gewisse Unterschiede hier und da sogar schärfer hervortreten, so läßt sich dennoch nicht leugnen, daß die Agrarproduktion zu einem Sektor der Industrieproduktion geworden ist und sich deren Forderungen und Zwängen unterwirft. Wirtschaftswachstum und Industrialisierung – Ursache und oberste Daseinsberechtigung zugleich – ziehen Landstriche, Länder, Völker und Kontinente in ihren Bann. Das Ergebnis: Die für das bäuerliche Dasein typische traditionelle Gemeinschaft, das Dorf, wandelt sich; es geht in größeren Einheiten auf oder wird von ihnen überdeckt. Der Industrie angegliedert, konsumiert es deren Erzeugnisse. Hand in Hand mit der Konzentration der Bevölkerung geht die Konzentration der Produktionsmittel. Das Stadtgewebe beginnt zu wuchern, dehnt sich aus und verschlingt die Überbleibsel des ländlichen Daseins. Mit »Stadtgewebe« ist nicht nur, im strengen Sinn, das bebaute Gelände der Stadt gemeint, vielmehr verstehen wir darunter die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren. So verstanden sind ein zweiter Wohnsitz, eine Autobahn, ein Supermarkt auf dem Land Teil des Stadtgewebes. Mehr oder weniger dicht und aktiv, spart es nur stagnierende oder im Verfall befindliche Gebiete aus, eben die der »Natur« vorbehaltenen. Für die Agrarproduzenten, die »Bauern«, zeichnet sich am Horizont die Agrarstaat ab, das einstige Dorf verschwindet. Chruschtschow hatte den sowjetischen Bauern die Agrarstadt versprochen, und hier und da auf der Erde entsteht sie bereits. So gibt es in den Vereinigten Staaten – von gewissen Gebieten in den Südstaaten abgesehen – praktisch keine Bauern mehr; es gibt nur Inseln ländlicher Armut neben solchen städtischen Elends. Und während dieser weltweite Prozeß (Industrialisierung und/oder Verstädterung) seinen Lauf nimmt, birst die Großstadt auseinander, fragwürdige Protuberanzen entstehen: Vororte, Wohnviertel oder Industriekomplexe, Satellitenstädte, die sich kaum von verstädterten Marktflecken unterscheiden. Kleinstadt und mittelgroße Stadt geraten in ein Abhängigkeitsverhältnis, werden praktisch zu Kolonien der Großstadt. Somit drängt sich unsere Hypothese als Endpunkt bislang erworbener Kenntnisse und zugleich als Ausgangspunkt für eine neue Untersuchung und einen neuen Entwurf auf: die vollständige Verstädterung.
Die Hypothese greift vor. Sie projiziert die Grundtendenz der Gegenwart in die Zukunft. Überall und mitten in der »bürokratisch gelenkten Konsumgesellschaft« wächst die »verstädterte Gesellschaft« heran.
Das negative Argument, die Gegenprobe durch das Absurde: keine andere Hypothese, die taugen, keine, die sämtliche Probleme erfassen würde. Die nachindustrielle Gesellschaft? Das heißt eine Frage aufwerfen: Was kommt nach der Industrialisierung? Die Freizeitgesellschaft? Das heißt, sich mit einem Teil des Problems zufriedenzugeben, man beschränkt die Untersuchung von Tendenzen und Möglichkeiten auf die »Ausrüstung«, womit man realistisch bleibt, ohne dabei den demagogischen Charakter der Definition zu beeinträchtigen. Gewaltiger und endlos ansteigender Konsum? Hier begnügt man sich mit der Erfassung der Zeitzeichen und extrapoliert, riskiert es so, Realität und Virtualität auf einen einzigen ihrer Aspekte zu reduzieren. Und so weiter. Der Ausdruck »verstädterte städterte Gesellschaft« entspricht einem theoretischen Bedürfnis. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine literarische oder pädagogische Darstellung, noch auch um die Formulierung erworbenen Wissens, sondern um eine Entwicklung, eine Untersuchung, ja um eine Begriffsbildung. Ein Denkvorgang auf ein bestimmtes Konkretes, vielleicht sogar das Konkrete überhaupt hin, zeichnet sich ab und nimmt Gestalt an. Diese Bewegung wird, wenn sie sich bestätigt, zu einer neu ergriffenen oder wieder aufgegriffenen Praxis, der städtischen Praxis, führen. Ohne Zweifel ist eine Schwelle zu überwinden, bevor man auf konkretes Gebiet, also auf das – zuvor theoretisch erfaßte – der sozialen Praxis vorstößt. Es geht nicht darum, ein empirisches Rezept zu suchen, um das Produkt, nämlich die städtische Wirklichkeit, zu fabrizieren. Aber gerade das erwartet man doch allzu häufig vom »Urbanismus«, und gerade das versprechen die »Städteplaner« nur allzuoft. Im Gegensatz zu einer feststellenden Empirie, zu abenteuerlichen Extrapolierungen, als Gegensatz schließlich zu einem angeblich verdaulichen, weil tröpfchenweise mitgeteilten Wissen, ist da eine Theorie, die sich vermittels theoretischer Hypothese ankündigt. Diese Suche, diese Entwicklung wird in methodischen Schritten vor sich gehen. So trägt zum Beispiel die Suche nach einem virtuellen Objekt, der Versuch, dieses zu definieren und an Hand eines Projektes zu verwirklichen, schon einen Namen. Neben klassischen Methoden wie der Deduktion und der Induktion haben wir die Transduktion (Reflexion über das mögliche Objekt). Somit ist der hier eingeführte Begriff der »verstädterten Gesellschaft« eine Hypothese und eine Definition zugleich. Desgleichen werden wir, uns dabei des Ausdrucks »Revolution der Städte« bedienend, im folgenden darunter die Gesamtheit der Wandlungen und Veränderungen zu verstehen haben, die unsere heutige Gesellschaft durchschreitet, um von einer Epoche, deren maßgebliche Probleme Wachstum und Industrialisierung (Modell, Planung, Programmierung) sind, zu jener überzugehen, wo die durch Urbanisierung entstandenen Probleme den Vorrang haben und die Suche nach den Lösungen und nach den für die verstädterte Gesellschaft spezifischen Modalitäten größte Bedeutsamkeit gewinnt.
Manche Umwälzungen werden abrupt vor sich gehen, andere allmählich, vorgeplant, erwartet und konzertiert sein. Welche? Man wird versuchen müssen, eine so berechtigte Frage zu beantworten. Es gibt allerdings keine Gewähr dafür, daß die Antwort klar, befriedigend und eindeutig sein wird. Der Ausdruck »Revolution der Städte« deutet nicht unbedingt auf gewaltsame Aktionen hin. Ausgeschlossen sind sie allerdings nicht. Wie aber sollte man voraussagen können, was auf gewaltsame, was auf vernünftige Weise erreicht werden wird? Ist es nicht das Wesen der Gewalttätigkeit, unvermittelt zum Ausbruch zu kommen? Und ist es nicht das Wesen des Denkens, Gewalttaten auf ein Minimum zu beschränken, indem es denkend die Fesseln bricht?
Zwei Marksteine stehen auf dem Weg, den der Urbanismus einschlagen wird:
a) Seit einigen Jahren betrachtet man vielerorts den Urbanismus als eine soziale Praxis wissenschaftlichen und technischen Charakters. In diesem Fall könnten und müßten die theoretischen Überlegungen sich auf diese Praxis erstrecken, sie auf ein begriffliches oder, genauer, auf ein epistemologisches Niveau heben. Folglich ist das Nichtvorhandensein einer solchen Epistemologie des Urbanismus auffallend. Werden wir nun hier versuchen, diese Lücke zu schließen? Nein. Denn diese Lücke hat einen Sinn. Stimmt es nicht, daß das, was wir Urbanismus nennen, vorerst noch mehr institutionellen und ideologischen als wissenschaftlichen Charakter trägt? Wenn wir annehmen, daß das Verfahren zu verallgemeinern und jede Erkenntnis nur über die Epistomologie zu gewinnen sei, so scheint das für den heutigen Urbanismus dennoch keine Geltung zu haben. Man wird herausfinden und erklären müssen, warum dem so ist.
b) Der heutige Urbanismus – als Politik (in zweifachem Sinn als Institution und Ideologie) – wird von zwei Seiten her angegriffen, von der Rechten wie von der Linken.
Die Kritik der Rechten, von jedermann beachtet, ist zuweilen vergangenheitsgläubig, oft humanistisch. Sie beinhaltet und rechtfertigt, direkt oder indirekt, eine neo-liberale Ideologie – die »freie Marktwirtschaft« – und fördert in jeder Weise die »Privat«-Initiative der Kapitalisten und ihres Kapitals. Die Kritik der Linken – und das ist weniger bekannt – wird nicht von der einen oder anderen Gruppe oder Partei, dem einen oder anderen Klub, Apparat oder den der Linken »zugerechneten« Ideologen formuliert. Sie ist vielmehr bemüht, dem Möglichen einen Weg freizumachen, Neuland zu erforschen und zu markieren, wo es nicht nur das »Wirkliche«, das bereits Erreichte gibt, das nicht schon von den vorhandenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kräften beherrscht ist. Sie ist daher eine u-topische Kritik, denn sie distanziert sich vom »Wirklichen«, ohne es jedoch aus den Augen zu verlieren.
Nachdem dies gesagt ist, wollen wir eine Achse zeichnen,
die von der nicht existenten Urbanisierung (von der »reinen Natur«, der den »Elementen« ausgelieferten Erde) bis zur gänzlichen Vollendung des Prozesses gehen soll. Diese Achse, die die Wirklichkeit des städtischen Geschehens symbolisiert, verläuft sowohl im Raum als auch in der Zeit: im Raum, weil der Prozeß sich räumlich ausdehnt und den Raum verändert – in der Zeit, weil er sich in der Zeit entwickelt, ein zunächst nebensächlicher, dann aber dominierender Aspekt der Praxis und der Geschichte. Das Schema zeigt nur einen Aspekt der Geschichte: die Zeit wird bis zu einem bestimmten, abstrakten, willkürlich gesetzten Punkt zerschnitten, womit eine von vielen anderen Operationen vorgenommen wird (Einteilung in Zeitabschnitte), die im Vergleich zu anderen Einteilungen nicht privilegiert, wohl aber von gleicher (relativer) Notwendigkeit ist.
Wir wollen einige Marksteine an den bis zur Verstädterung zurückgelegten Weg setzen. Was ist zu Beginn vorhanden? Populationen, die in den Bereich der Ethnologie, der Anthropologie fallen. Um diese Anfangsnull herum markierten und benannten die ersten Menschenhorden (Sammler, Fischer, Jäger, vielleicht Hirten) den Raum; sie erforschten ihn, indem sie Zeichen setzten. Sie erfanden Flurnamen, gaben die ersten Landmarken an. Der dem Boden verhaftete Bauer schuf in der Folge die Topologie und eine Raumaufteilung, die wohl vollkommen und genau war, den Raum aber nicht von Grund auf veränderte. Wichtig ist dabei, daß fast überall auf der Welt und wohl überall da, wo der Mensch ins Licht der Geschichte tritt, die Stadt dem Dorf auf dem Fuße folgte.
Die Ansicht, aus der Urbarmachung des Landes, aus dem Dorf und der dörflichen Kultur sei allmählich ein städtisches Dasein erwachsen, ist ideologisch gefärbt. Das Geschehen in Europa nach dem Zerfall des Römischen Reiches und der Wiedergeburt der Städte im Mittelalter wird als allgemeingültig hingestellt. Jedoch läßt sich das Gegenteil unschwer beweisen. Der Übergang vom Wildbeutertum zum Ackerbau vollzog sich erst unter dem (autoritären) Druck städtischer Zentren, die im allgemeinen von geschickten Eroberern bewohnt wurden, die Beschützer, Ausbeuter und Unterdrücker, das heißt Verwalter, Gründer von Staaten oder staatsähnlichen Gebilden geworden waren. Mit oder kurz nach Entstehen eines organisierten gesellschaftlichen Lebens, von Ackerbau und Dorf, tritt die politische Stadt auf.
Freilich läßt sich diese These nicht auf die endlosen Räume anwenden, in denen über lange Zeitabschnitte hinweg ein Halbnomadentum bestand, wo ein kümmerlicher Hackbau betrieben wurde. Und selbstverständlich stützt sie sich vor allem auf Analysen und Dokumente über die »asiatische Produktionsweise«, auf uralte Kulturen, die sowohl städtisches Leben als auch das ländliche begründeten (Mesopotamien, Ägypten usw.*). Die grundsätzliche Frage nach den Beziehungen zwischen der Stadt und dem Land ist noch weit entfernt von einer Lösung.
So nehmen wir also das Risiko auf uns, die politische Stadt auf der Raum-Zeit-Achse in etwa an den Anfang zu setzen. Wer bevölkerte nun diese politische Stadt? Priester und Krieger, Fürsten, »Adelige«, Kriegsherren. Aber auch Administratoren, Schreiber. Ohne Schreibkunst – Dokumente, Befehle, Listen, Steuereintreibungen – ist die politische Stadt nicht vorstellbar. Sie ist ganz und gar Ordnung, Erlaß, Macht. Allerdings gehören Handel und Gewerbe dazu, wenn auch vielleicht nur, weil man sich mit beider Hilfe die zum Kriegführen und zur Erhaltung der Macht erforderlichen Rohstoffe (Metalle, Leder usw.) beschaffen, sie verarbeiten und instand halten konnte. Infolgedessen gibt es in ihr, wenngleich in untergeordneter Stellung, Handwerker und sogar Arbeiter. Die politische Stadt verwaltet ein oftmals weitläufiges Gebiet, schützt es und beutet es aus. Sie leitet die großen Aufgaben der Landwirtschaft: Trockenlegung, Bewässerung, Eindämmung, Urbarmachung usw. Sie herrscht über eine gewisse Anzahl von Dörfern. Das Land ist in erster Linie Eigentum des Herrschers, der Symbol für Ordnung und Tatkraft ist. Tatsächlich aber bleibt das Land im Besitz der Bauern und der Tribut zahlenden Gemeinwesen.
Tauschgeschäft und Handel, die niemals fehlen, gewinnen an Bedeutung. Ursprünglich mochten sie von suspekten Leuten, den »Fremden«, wahrgenommen worden sein, aber bald werden sie auf Grund ihrer Funktion wichtig, Örtlichkeiten, die für Tausch und Handel bestimmt sind, tragen zunächst die Zeichen der Heterotopie. Gleich den dort lebenden und Handel treibenden Menschen sind auch sie ursprünglich von der politischen Stadt ausgeschlossen: Karawansereien, Märkte, Vororte usw. Der Prozeß der Integration von Markt und Ware (Menschen und Dingen) in die Stadt besteht über Jahrhunderte fort. Handel und Verkehr, unerläßlich sowohl zum Überleben als auch zum Leben, bringen Wohlstand und Bewegung. Die politische Stadt widersetzt sich dem mit ihrer gesamten Macht, ihrem ganzen Zusammenhalt; sie empfindet, sie erkennt die Bedrohung durch den Markt, die Ware, den Händler, durch deren Form des Eigentums (das bewegliche Eigentum, das Geld). Es gibt unzählige Fakten, die das beweisen: die Existenz der Handelsstadt Piräus, unweit des Stadtstaates Athen, ebenso wie die wiederholten vergeblichen Verordnungen, die das Feilhalten von Waren auf der Agora, dem freien Platz, dem Platz für politische Versammlungen, untersagten. Wenn Christus die Händler aus dem Tempel vertreibt, so treffen wir auf das gleiche Verbot, den gleichen Sinngehalt. In China, in Japan gehört der Händler lange Zeit einer niederen Bürgerschicht an, die in ein »besonderes« Viertel verwiesen wurde (Heterotopie). Im Grunde gelingt es der Ware, dem Markt und dem Händler erst im europäischen Abendland, gegen Ende des Mittelalters, siegreich in die Stadt einzudringen. Man könnte sich vorstellen, daß der halb kriegerische, halb plündernde Hausierer sich bewußt der befestigten Reste einstiger (römischer) Städte bemächtigte, um die Grundherren zu bekämpfen. Bei dieser Hypothese würde die erneuerte politische Stadt den Rahmen für eine Aktion abgegeben haben, die sie selbst umformen sollte. Im Verlauf dieses (Klassen-)Kampfes gegen die Grundherren, die das Land besaßen und beherrschten, eines Kampfes also, der im Abendland unerhört fruchtbar war und eine Geschichte, wenn nicht die Geschichte überhaupt, schuf, wird der Markt zum Mittelpunkt. Er tritt an die Stelle des Versammlungsortes (der Agora, des Forums), ersetzt ihn. Um den Markt, der zum wesentlichen Teil geworden ist, gruppieren sich Kirche und Rathaus (das von einer Kaufmannsoligarchie besetzt ist) mit Bergfried oder Kampanile, den Symbolen der Freiheit. Man beachte, daß die Architektur sich den neuen Stadtbegriff zu eigen macht und ihn übersetzt. Das Stadtgelände wird zum Begegnungsort von Dingen und Menschen, zum Umtauschplatz. Es schmückt sich mit den Zeichen der errungenen Freiheit, anscheinend mit der Freiheit schlechthin. Ein großartiger und lächerlicher Kampf. In diesem Sinn ist die Untersuchung der »bastides« (befestigte mittelalterliche Städte, die auf Befehl der französischen Könige gegründet wurden) im Südwesten Frankreichs von Interesse. In diesen ersten Städten, die um den Marktplatz erbaut wurden, mag man ein Symbol erblicken. Ironie der Geschichte. Sobald die Herrschaft der Ware mit ihrer Logik, ihrer Ideologie, ihrer Sprache und ihren Menschen, anhebt, wird die Ware zum Fetisch. Im 14. Jahrhundert glaubt man, es genüge, nur einen Markt zu gründen, Läden und Bogengänge um einen zentral gelegenen Platz zu erbauen, und Händler und Käufer würden herbeiströmen. So gründet man (Grundherren und Bürger) Handelsstädte in nahezu wüsten Gebieten ohne Ackerbau, wo noch wandernde Halbnomaden ihre Herden treiben. Die Städte im Südwesten Frankreichs tragen zwar klingende Namen, aber sie sind Fehlgründungen. Wie dem auch sei, auf die politische Stadt folgt die Handelsstadt. Um diese Zeit (im Abendland etwa im 14. Jahrhundert) wird der Handel zu einer städtischen Funktion; auf Grund der Funktion entsteht eine Form (oder entstehen Formen: baulicher und/oder städtebaulicher Art). Somit erhält die Stadtanlage eine neue Struktur. Die Umwandlungen von Paris bieten ein deutliches Bild der vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen den drei Aspekten und den drei Hauptkonzepten: Funktion, Form, Struktur. Flecken und Vorstädte, die anfänglich Handelsplätze und handwerkliche Gemeinwesen waren: Beaubourg, Saint-Antoine, Saint-Honoré, werden zu Mittelpunkten, die der im eigentlichen Sinn politischen Gewalt (den Institutionen) Einfluß, Ansehen und Raum streitig machen, sie zu Kompromissen zwingen und mit ihr gemeinsam eine machtvolle Stadteinheit schaffen.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt tritt im europäischen Abendland ein »Ereignis« ein, das bei aller ungeheuren Tragweite dennoch verborgen und nahezu unbemerkt bleibt. Innerhalb der gesamten sozialen Ordnung gewinnt die Stadt dermaßen an Gewicht, daß eben diese Ordnung aus den Fugen gerät. Immer noch maß man bei der Stadt-Land-Beziehung letzterem die größere Bedeutung zu: dem Land mit seinem Reichtum an Grundbesitz, den Bodenerzeugnissen, den bodenständigen Menschen (Lehensleute oder Träger von Adelstiteln). Immer noch wurde die Stadt in ihrer Beziehung zum Land als Fremdkörper angesehen, was durch die Wälle wie durch die einen Übergang bildenden Vororte zum Ausdruck kam. Irgendwann jedoch verkehren sich die vielschichtigen Beziehungen ins Gegenteil, die Situation kehrt sich um. Auf der Achse muß der bedeutsame Moment dieser Rückkehr, der Umkehrung, der Heterotopie angezeigt werden. Von jetzt an erscheint die Stadt weder sich noch der Umwelt als städtische Insel in einem Ozean aus Land; verglichen mit der dörflichen oder ländlichen Natur erscheint sie sich nicht mehr als etwas Paradoxes, als Ungeheuer, Himmel oder Hölle. Sie geht in Bewußtsein und Wissen als gleichwertiges Element des Gegensatzes »Stadt – Land« ein. Das Land? Es ist nun nichts – oder nichts mehr – als die »Umgebung« der Stadt, ihr Horizont, ihre Grenze. Der Dorfbewohner? Er hört in seinen eigenen Augen auf, für den Grundherrn zu arbeiten. Er produziert für die Stadt, für den städtischen Markt. Wenn er auch weiß, daß der Korn- und der Holzhändler ihn ausbeuten, so findet er doch dort, auf dem Markt, den Weg in die Freiheit.
Was geht nun zu diesem kritischen Zeitpunkt vor sich? Der denkende Mensch sieht sich nicht mehr als Teil der Natur, einer düsteren Welt, geheimnisvollen Kräften ausgeliefert. Zwischen ihm und der Natur, zwischen seinem Zentrum und Mittelpunkt (dem des Denkens, des Seins) und der Welt steht nun ein wichtiger Vermittler: die Wirklichkeit der Stadt. Von diesem Augenblick an sind Gesellschaft und Land nicht mehr eins. Auch politische Stadt und Gesellschaft bilden keine Einheit mehr. Der Staat wächst über sie hinaus, nimmt in seiner Hegemonie von ihnen Besitz und nützt die Rivalität beider aus. Dennoch erkennt der Mensch der damaligen Zeit die sich ankündigende Majestät nicht. Die VERNUNFT, wer wird sie für sich in Anspruch nehmen dürfen? Das Königtum? Der Herr des Himmels? Das Individuum? Was sich wirklich wandelt, das ist – nach dem Niedergang Athens und Roms, nachdem deren wichtigste Werke, die Logik und das Recht, in Nacht versanken – die Vernunft der politischen Stadt. Eine Wiedergeburt des Logos findet statt, aber man schreibt sie nicht dem Wiedererstehen des Stadtwesens zu, sondern einer transzendenten Ursache. Der Rationalismus, der seinen Höhepunkt mit Descartes erreicht, begleitet diese Umkehrung der Dinge, bei der das Städtische dem Dörflich-Ländlichen den Rang abläuft. Aber die Stadt erkennt ihre neue Vorrangstellung nicht. Dennoch entsteht um diese Zeit das Bild der Stadt. Schon besaß die Stadt die Schreibkunst mit ihren Geheimnissen und ihrer Macht. Schon stellte sie städtisches (gebildetes) Wesen gegen bäuerlich-ländliches (einfältig und roh). Von einem gewissen Zeitpunkt an besitzt sie ihre eigene Schrift: den Plan. Darunter ist nicht die Planung zu verstehen, auch wenn sich erste Anfänge von Planung schon abzeichnen, sondern die Planimetrie.
Im 16. und 17. Jahrhundert, als dieser Bedeutungswandel vor sich geht, erscheinen in Europa Stadtpläne, erscheinen vor allem die ersten Pläne von Paris. Noch sind sie nicht abstrakte Pläne, nicht Projektionen des Stadtraumes in ein geometrisches Koordinatensystem. Vielmehr sind sie eine Mischung aus Vorstellung und Wahrnehmung, aus Kunst und Wissenschaft, zeigen die Stadt von oben und aus der Ferne gesehen, perspektivisch, als Gemälde und gleichzeitig als geometrische Darstellung. Der idealistische und zugleich realistische Blick, der Blick des Geistes, der Macht, richtet sich auf die Vertikale, in den Bereich der Erkenntnis und der Vernunft, beherrscht und schafft so ein Ganzes: die Stadt. Diese Umkehrung der Gesellschaftsordnung, diese Verlegung des sozialen Geschehens in den Bereich des Städtischen, diese (relative) Diskontinuität läßt sich ohne weiteres auf der Raum-Zeit-Achse darstellen, auf der sich – da sie kontinuierlich verläuft – (relative) Zäsuren unschwer aufzeigen lassen. Es genügt, die Achse zwischen der Anfangsnull und der Endzahl (in der Hypothese ist das 100) durch eine Gerade zu halbieren. Der Bedeutungswandel ist untrennbar mit dem Wachstum des Handelskapitals, der Existenz eines Marktes verbunden. Es ist die Handelsstadt, der politischen Stadt aufgepfropft, aber ihren aufsteigenden Weg verfolgend, die das erklärt. Sie geht um ein weniges dem Auftauchen des Industriekapitals voran und infolgedessen der Industriestadt. Beide erscheinen kurz vor dem Auftreten des Industriekapitals und somit der Industriestadt. Zu diesem Begriff sind einige Anmerkungen notwendig. Ist die Industriestadt mit der Stadt verbunden? Eigentlich steht sie ja mit der Nicht-Stadt in Zusammenhang, mit dem Nichtvorhandensein der Stadt oder dem Bruch in der städtischen Wirklichkeit. Man weiß, daß Industrien ursprünglich da entstehen, wo Energiequellen (Kohle, Wasser), Rohstoffe (Metalle, Faserstoffe), Arbeitskräfte vorhanden sind. Wenn sie in die Umgebung der Stadt ziehen, so dann, um in die Nähe des Kapitals und der Kapitalisten, des Marktes, reichlicherer und billigerer Arbeitskräfte zu gelangen. Somit spielt es keine Rolle, wo die Industrie sich niederläßt: früher oder später greift sie auf bereits vorhandene Städte über oder schafft neue. Sie verläßt den jeweiligen Standort wieder, sobald dies im Interesse des betreffenden Industriebetriebs liegt. Ebenso wie sich die politische Stadt lange der halb friedlichen, halb gewaltsamen Eroberung durch die Händler, den Austausch und das Geld widersetzte, ebenso wehren sich die politische und die Handelsstadt gegen die sich bildende Industrie, das Industriekapital und den Kapitalismus überhaupt. Mit welchen Mitteln? Mit Hilfe des Korporativismus, der Festlegung der gegenseitigen Beziehungen. Die historische Kontinuität und der Evolutionismus verdecken die Auswirkungen dieser Mittel und die durch sie verursachten Brüche. Welch sonderbare und bemerkenswerte Bewegung ist es, die hier das dialektische Denken erneuert: Die Nicht-Stadt und die Anti-Stadt erobern die Stadt, durchdringen sie und führen – indem sie sie sprengen und ins Maßlose aufblähen – letztlich zur vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft, wobei das Stadtgewebe die Reste der vor der Industrie bestehenden Stadt überdeckt. Daß eine so außergewöhnliche Bewegung so unbeachtet bleibt und nur bruchstückartig beschrieben ist, geht auf das Bestreben der Ideologen zurück, auf dialektisches Denken und die Analyse von Widersprüchen zu verzichten und sich ausschließlich dem logischen Denken zuzuwenden. Das heißt, man stellt Zusammenhänge fest und sonst nichts. Die urbane Realität, die an Umfang gewonnen hat und jeden Rahmen sprengt, verliert in dieser Bewegung die ihr in der vorausgegangenen Epoche zugeschriebenen Eigenschaften: organisches Ganzes, Zugehörigkeit, begeisterndes Bild, ein von glanzvollen Bauwerken abgemessener und beherrschter Raum zu sein. Inmitten der Auflösung städtischen Wesens treten Zeichen des Urbanismus auf. Die städtische Wirklichkeit wird Befehl, unterdrückende Ordnung, Markierung durch Signale, wird summarische Verkehrsordnung und Verkehrszeichen. Bald wirkt sie wie ein Entwurf ins Unreine, bald wie eine autoritäre Botschaft. Sie setzt sich mehr oder weniger gebieterisch durch. Kein beschreibender Ausdruck erfaßt den historischen Prozeß in seiner Gänze: Implosion – Explosion (eine Metapher, aus der Atomphysik), also ungeheure Konzentration (von Menschen, Tätigkeiten, Reichtümern, von Dingen und Gegenständen, Geräten, Mitteln und Gedanken) in der städtischen Wirklichkeit, und ungeheueres Auseinanderbersten, Ausstreuung zahlloser und zusammenhangloser Fragmente (Randgebiete, Vororte, Zweitwohnungen, Satellitenstädte usw.).
Die Industriestadt, häufig eine formlose Stadt, eine Agglomeration von kaum städtischem Charakter, ein Konglomerat, ein Ineinanderübergehen von Städten und Ortschaften – wie etwa im Ruhrgebiet – geht dieser kritischen Zone voraus und kündigt sie an. An diesem Punkt zeigen sich sämtliche Auswirkungen der Implosion – Explosion. Das Wachstum der Industrieproduktion überlagert die Zunahme der Handelsbeziehungen, vervielfacht sie. Dieses Wachstum umfaßt den Tauschhandel ebenso wie den Weltmarkt, reicht vom einfachen Handel zwischen zwei Personen bis zum Austausch von Erzeugnissen, von Werken, von Gedanken und menschlichen Wesen. Kauf und Verkauf, Ware und Markt, Geld und Kapital scheinen alle Hindernisse hinwegzufegen. Während der Prozeß alles erfaßt, wird seine Auswirkung – die städtische Wirklichkeit nämlich – ihrerseits Ursache und Sinn. Das Induzierte wird beherrschend (induziert selbst). Die urbane Problematik erfaßt die gesamte Erde. Läßt sich die städtische Wirklichkeit als Überbau verstehen, der dachähnlich das wirtschaftliche, kapitalistische oder sozialistische Gefüge überdeckt? Oder einfach als Resultat des Wachstums und der Produktivkräfte? Als bescheidene Wirklichkeit, als Randerscheinung der Produktion? Nein. Die Wirklichkeit der Stadt ändert die Produktionsverhältnisse, ohne jedoch einen echten Wandel herbeiführen zu können. Sie wird, gleich der Wissenschaft, zur Produktivkraft. Raum und Raumpolitik sind »Ausdruck« der Gesellschaftsbeziehungen und wirken sich auf sie aus. Selbstverständlich findet die städtische Wirklichkeit, die zum beherrschenden Element wird, erst durch die Problematik der Verstädterung ihren Ausdruck. Was tun? Wie sollen die Städte oder das »Etwas«, das an die Stelle der einstigen Stadt treten könnte, aussehen? Wie muß das Phänomen der Verstädterung verstanden werden? Wie soll es formuliert, klassifiziert werden, in welcher Reihenfolge sollen die zahllosen Probleme gelöst werden, denen nur unter Schwierigkeiten und nicht ohne allseitige Widerstände vorrangige Bedeutung zugestanden wird? Welche entscheidenden Fortschritte müssen in Theorie und Praxis gemacht werden, damit man sich dieser Wirklichkeit und ihrer Möglichkeiten bewußt werde?
Folgendermaßen läßt sich die Achse abstecken, die den Prozeß bildlich darstellt:
Politische Stadt | Handelsstadt | Industriestadt | Kritische Zone |
Die Agrargesellschaft wird zur Stadtgesellschaft
Implosion – Explosion
(Ballung in den Städten, Landfludit, Ausdehnung des Stadtgewebes, vollständige Unterordnung des Agrarsektors unter den städtischen Sektor.)
Was geht in der kritischen Phase vor sich? Das vorliegende Werk bemüht sich um eine Antwort auf diese Frage, die die Problematik der Verstädterung als Teil eines allgemeinen Prozesses sieht. Werden die theoretischen Hypothesen, welche die Zeichnung einer Achse, die Darstellung eines in eine bestimmte Richtung gehenden Zeitablaufes ermöglichen, das Über-sie-hinaus-gelangen durch das Denken, werden sie uns zu einem Verständnis des Geschehens verhelfen? Vielleicht. Schon jetzt können wir einige Vermutungen aufstellen. Offenbar läuft ein zweiter Kippvorgang ab – man beweise uns denn das Gegenteil. Zum zweiten Mal werden Bedeutung und Situation auf den Kopf gestellt. Die Industrialisierung, die herrschende und zwingende Macht wandelt sich im Verlauf einer tiefreichenden Krise zur beherrschten Wirklichkeit, und zwar auf Kosten einer ungeheuren Verwirrung, die Vergangenes und Mögliches, Gutes und Schlechtes ineinander verflicht.
Bei der theoretischen Hypothese über das Mögliche und seine Beziehung zum Tatsächlichen (dem »Wirklichen«) darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Eintritt in eine verstädterte Gesellschaft, die Art und Weise der Urbanisierung, vom Charakter der jeweiligen industrialisierten Gesellschaft abhängig sind (neo-kapitalistisch oder sozialistisch, mitten im Wirtschaftswachstum begriffen oder bereits hochtechnisiert). Die unterschiedlichen Übergänge in die verstädterte Gesellschaft, die Implikationen und die Folgen der anfänglichen Unterschiede, sind Teil der durch das Phänomen der Verstädterung oder die »Verstädterung« aufgeworfenen Problematik. Die genannten Ausdrücke sind dem Wort »Stadt« vorzuziehen, weil darunter eher ein definiertes und bestimmtes Objekt zu verstehen ist, ein gegebenes wissenschaftliches Objekt und ein unmittelbares Aktionsziel, wogegen ein theoretisches Vorgehen in erster Linie eine Kritik dieses »Objektes« und einen komplexeren Begriff eines möglichen und denkbaren Objektes erforderlich macht. In anderen Worten: Aus dieser Sicht gibt es keine Wissenschaft von der Stadt (Stadtsoziologie oder Stadtökonomie usw.), sondern eine sich abzeichnende Kenntnis des globalen Prozesses und seines Endes (Ziel und Sinn).
Das Urbane (Abkürzung für »verstädterte Gesellschaft«) wird nicht als eine erreichte Wirklichkeit definiert, in der Zeit vor dem Jetzt schon vorhanden, sondern als Ausblick, als aufklärende Virtualität. Sie ist das Mögliche, definiert durch eine Richtung am Ende eines Weges, der zu ihm hinführt. Um es zu erreichen, es zu verwirklichen, müssen vorab die Hindernisse umgangen oder beseitigt werden, die es im Augenblick noch unmöglich machen. Kann die theoretische Erkenntnis dieses mögliche Objekt, das Aktionsziel, im Bereich des Abstrakten belassen? Nein. Schon jetzt ist es abstrakt nur im Sinne der legitimen wissenschaftlichen Abstraktion. Die theoretische Erkenntnis kann und muß das Terrain und die Basis aufzeigen, auf denen sie beruht: ein soziales Geschehen, das noch im Fluß ist, eine urbane Praxis, die trotz aller Hindernisse im Entstehen ist. Daß diese Praxis im Augenblick verschleiert und zusammenhanglos erscheint, daß die zukünftige Wirklichkeit und die zukünftige Wissenschaft nur bruchstückartig existieren, ist nur ein Aspekt der kritischen Phase. Wenn die jetzige Orientierung auf ein Ziel zustrebt, wenn es für die heutige Problematik Lösungen gibt – sie müssen wir aufzeigen. Summa summarum: Das virtuelle Objekt ist nichts anderes als eine die ganze Erde umfassende Gesellschaft und die »Welt-Stadt«, jenseits einer weltweiten Krise der Wirklichkeit und des Geistes, jenseits der einst unter der Herrschaft des Ackerbaus entstandenen und im Verlauf der Ausweitung von Handel und Industrieproduktion beibehaltenen Grenzen. Nicht alle Probleme sind jedoch Probleme der Verstädterung. Landwirtschaft und Industrie behalten eine eigene Problematik, selbst wenn die Realität der Stadt sie modifiziert. Überdies ist es angesichts der Problematik der Verstädterung dem Denken nicht möglich, sich vorbehaltlos in die Erforschung des Möglichen zu stürzen. Der Analytiker wird die einzelnen Verstädterungstypen erkennen und beschreiben müssen. Er wird sagen müssen, was aus all den Formen, Funktionen, den städtischen Strukturen werden wird, die durch die Explosion der einstigen Stadt und die alles umfassende Verstädterung umgewandelt werden. Bislang ähnelt die kritische Phase einer »black box«. Man kennt den Input, manchmal kann man den Output wahrnehmen. Man weiß nicht recht, was drinnen vor sich geht. Damit werden die üblichen Verfahren der Zukunftsforschung oder der Projektion ausgeschlossen, bei denen von der Gegenwart, also von dem Festgestellten aus, extrapoliert wird. Für Projektion und Voraussage gibt es nur in einer Teilwissenschaft eine Basis: in der Demographie z. B. oder in der politischen Ökonomie. Was jedoch hier »objektiv« zur Debatte steht, ist eine Totalität.
Um zu zeigen, wie tief die Krise reicht, wie groß Ungewißheit und Bestürzung in der »kritischen Phase« sind, kann man eine Gegenüberstellung vornehmen. Stilübung? Ja, aber mehr als das. Hier einige Argumente für und gegen die Straße, für und gegen das Monument. Das Für und Wider der Natur, das Für und Wider der Stadt, das Für und Wider der Verstädterung, für das Für und Wider des Stadtkerns ... das sind Argumentationen, die wir auf später verschieben wollen. Für die Straße. Sie ist nicht nur Durchgangs- und Verkehrsplatz. Die Invasion durch das Auto, der Druck der Autoindustrie bzw. des Lobby, haben den Wagen zum Schlüsselobjekt werden lassen; wir sind besessen vom Parkproblem, hinter Fragen des Verkehrs hat alles zurückzustehen; soziales und städtisches Leben werden von alldem zerstört. Der Tag rückt näher, da man die Rechte und die Macht des Autos wird einschränken müssen, was nicht ohne Mühe und Scherben abgehen wird. Die Straße? Sie ist der Ort der Begegnung, ohne den es kein Zusammentreffen an anderen dafür bestimmten Orten (Cafés, Theater, andere Versammlungsorte) gibt. Diese privilegierten Örtlichkeiten beleben die Straße und werden von ihr belebt, sonst könnten sie nicht existieren. Auf der Straße, der Bühne des Augenblicks, bin ich Schauspiel und Zuschauer zugleich, zuweilen auch Akteur. Hier ist Bewegung; die Straße ist der Schmelztiegel, der das Stadtleben erst schafft und ohne den nichts wäre als Trennung, gewollte und erstarrte Isolierung. Schaffte man (nach Le Corbusier und seinen »nouveaux ensembles«) die Straße ab, so wären die Konsequenzen: Erlöschen jedes Lebens, die »Stadt« wird zur Schlafstätte, das Leben zur unsinnigen Funktionserfüllung. Die Straße hat Funktionen, die Le Corbusier außer acht ließ: sie dient der Information, ist Symbol und ist zum Spiel notwendig. Auf der Straße spielt man, lernt man. Die Straße ist Unordnung. Sicher. Alle Bestandteile städtischen Lebens, die an anderer Stelle in eine starre, redundante Ordnung gepreßt sind, machen sich frei, ergießen sich auf die Straße, und von dort aus in die Zentren; hier, ihren festen Gehäusen entrissen, begegnen sie sich. Diese Unordnung lebt, sie informiert, sie überrascht. Zudem schafft die Unordnung eine höhere Ordnung. Die Arbeiten von Jane Jacob haben gezeigt, daß in den Vereinigten Staaten die Straße (flutend, belebt) der einzige Ort ist, wo der einzelne vor Kriminalität und Gewalt sicher ist (Diebstahl, Vergewaltigung, Aggression). Wo die Straße verschwindet, nimmt die Kriminalität zu und organisiert sich. Auf der Straße und durch sie manifestiert sich eine Gruppe (die Stadt selber), bringt sich zum Ausdruck, macht sich die Örtlichkeit zu eigen, setzt eine Raum-Zeit-Beziehung in die Wirklichkeit um. Damit wird offensichtlich, daß Gebrauch und Gebrauchswert wichtiger sein können als Austausch und Austauschwert. Revolutionen gehen normalerweise auf der Straße vor sich. Zeigt das nicht, daß ihre Unordnung eine neue Ordnung hervorbringt? Ist nicht der Raum, den die Straße im Stadtgeschehen einnimmt, der Ort des Wortes, der Ort, an dem Worte und Zeichen ebenso wie Dinge getauscht werden? Ist sie nicht der bevorzugte Ort zur Niederschrift des Wortes? Wo es »ausbrechen« und sich unter Umgehung von Vorschriften und Institutionen auf den Mauern niederschreiben kann?
Gegen die Straße. Ort der Begegnung? Vielleicht. Aber Begegnungen welcher Art? Oberflächlicher. Man streift sich auf der Straße, aber man begegnet sich nicht. Das »man« überwiegt. Auf der Straße kann sich keine Gruppe bilden, kein Subjekt entsteht; sie ist bevölkert von allen möglichen Leuten auf der Suche. Wonach? Auf der Straße entfaltet sich die Ware: Hier ist ihre Welt. Die Ware, die keine Bleibe an einem eigens für sie bestimmten Ort gefunden hat (Platz, Halle), hat sich über die ganze Straße ausgebreitet. Im Altertum war die Straße nichts als ein Anhängsel von Orten mit besonderen Privilegien: Tempel, Stadion, Agora, Garten. Später, im Mittelalter, besetzte das Handwerk die Straße. Der Handwerker war Produzent und Verkäufer zugleich. Dann wurde der Händler, der nichts als Händler ist, Herr der Straße. Die Straße? Eine Auslage, ein schmaler Gang zwischen den Läden. Die Ware, zum Schauspiel geworden (provozierend, lokkend), läßt den Menschen zum Schauspiel für den Menschen werden. Mehr als anderswo sind hier Austausch und Austauschwert wichtiger als der Gebrauch, dessen Bedeutung auf einen Rest zusammengeschrumpft ist. So sehr trifft das zu, daß die Kritik an der Straße noch weiter gehen muß: Die Straße wird zum bevorzugten Ort einer Unterdrückung, die durch den »realen« Charakter der sich hier bildenden Beziehungen (dadurch also, daß diese schwach sind, entfremden und entfremdet sind) bedingt wird. Durch die Straße, den Raum der Kommunikation, zu gehen, ist ebenso Gebot wie Verbot. Sobald Gefahr droht, ergeht das Verbot, sich auf der Straße aufzuhalten und zu versammeln. Wenn die Straße den Sinn hatte, die Begegnung zu ermöglichen, dann hat sie ihn verloren; sie mußte ihn verlieren, indem sie sich im Rahmen einer notwendigen Reduktion darauf beschränkte, nur Durchgangsort zu sein, sich aufspaltend in Passagen für Fußgänger (gehetzt) und Autos (begünstigt). Die Straße hat sich zum organisierten Netz des Konsums durch/für den Konsum gewandelt. Der (noch geduldete) Fußgänger bewegt sich eben so schnell – seine Geschwindigkeit wird so bemessen –, daß er Schaufenster betrachten und ausgestellte Gegenstände kaufen kann. Die Zeit wird zur »Waren-Zeit« (Kauf- und Verkaufszeit, gekaufte und verkaufte Zeit). Die Straße regelt die Zeit jenseits der Arbeitszeit. Sie unterwirft sie demselben System – dem von Leistung und Profit. Sie ist nur mehr obligatorischer Übergang zwischen Zwangsarbeit, programmierter Freizeit und Wohnraum, der ebenfalls Konsumort ist. Die neokapitalistische Konsum-Organisation demonstriert auf der Straße ihre Herrschaft, die nicht auf politischer Macht, noch auf Unterdrückung allein (offen oder versteckt) beruht. Die Straße, ein Aufeinanderfolgen von Schaufenstern, von zum Verkauf ausgestellten Dingen, zeigt, wie zur Logik der Ware eine (passive) Betrachtungsweise hinzukommt, die Charakter und Bedeutung einer Ästhetik und einer Ethik annimmt. Die Anhäufung von Gegenständen begleitet die Anhäufung von Menschen, die wiederum Folge der Anhäufung von Kapital ist. Sie wandelt sich zur Ideologie, die nach außen hin die Züge des Sichtbaren und des Lesbaren trägt und in Zukunft als Beweis gilt. Man kann deshalb von einer Kolonisierung des städtischen Raumes sprechen, auf der Straße bewirkt durch das Bild, die Werbung, das Schauspiel der Dinge: durch das »System der Dinge«, die zu Symbolen und Schauspiel wurden. Die Vereinheitlichung des Rahmens – sie ist in der Modernisierung alter Straßen sichtbar – führt dazu, daß nur die Dinge (Waren) Farben und Formen besitzen und somit verlockend wirken. Und wenn die Behörde Prozessionen, Maskeraden, Bälle und folkloristische Feste genehmigt, dann wirkt die Besitzergreifung und Wiederinbesitznahme der Straße durch den Menschen wie eine Karikatur. Eine echte Inbesitznahme – die »Demonstration« – wird von den Kräften der Unterdrückung bekämpft, die Schweigen und Vergessen gebieten.
Gegen das Monument. Das Monument ist seinem Wesen nach repressiv. Es ist Sitz einer Institution (Kirche, Staat, Universität). Wenn es um sich her um einen Raum organisiert, dann, um ihn zu kolonisieren, zu unterdrücken. Alle großen Monumente wurden zum Ruhme von Eroberern, zu Ehren der Mächtigen errichtet. Seltener zu Ehren von Toten oder der toten Schönheit (das Tadsch Mahal ...). Sie waren Paläste und Grabmäler. Es war das Unglück der Architektur, daß sie Monumente erstellen wollte, und daß Behausungen entweder Monumenten nachgebildet oder aber vernachlässigt wurden. Versucht man aber, Behausungen zu Monumenten zu machen, dann ist das immer eine Katastrophe, die allerdings die Betroffenen nicht erkennen. Die Pracht des Monumentes ist ja eine formale. Und da ein Monument stets überaus symbolträchtig ist, bietet es diese Symbole dem sozialen Bewußtsein und der (passiven) Betrachtung an, und zwar zu einem Zeitpunkt, da sie nicht nur bereits überholt sind, sondern ihren Sinngehalt verloren haben. Man denke nur an die Revolutionssymbole auf Napoleons Arc de Triomphe.
Für das Monument. Es ist die einzige Stätte eines Kollektivlebens (Gesellschaftslebens), die man sich vorstellen kann. Es beherrscht zwar, aber um zu versammeln. Schönheit und Monumentalität gehören zusammen. Die großen Monumente reichten über ihre Funktionen (Kathedralen) und sogar über die Kulturen (Grabmäler) hinaus. Daher rührt ihre ethische und ästhetische Macht. Monumente projizieren ein Weltbild auf den Boden, so wie die Stadt eine Gesellschaftsordnung (die Gesamtheit) auf die Erde projizierte und projiziert. Ins Herz eines Raumes, wo die Merkmale einer Gesellschaft zusammentreffen und zur Banalität werden, bringen Monumente eine Transzendenz, ein Anderswo. Immer schon waren sie u-topisch. In die Höhe oder in die Tiefe, in eine Dimension, die jenseits des städtischen Bereichs liegt, erhoben sie die Stimme der Pflicht oder der Macht oder des Wissens, der Freude, der Hoffnung ...
* Die Bibliographie ist heute umfangreich, nachdem das Problem auf Grund eines berühmt gewordenen, mit »Asiaticus« gezeichneten Artikels (erschienen in Rinascita, Rom 1963) wieder aktuell geworden war. Vgl. die Artikel von J. Chesneaux (La Pensée, Nr. 114 und 122); M. Godelier (Les Temps modernes, Mai 1965). Das Standardwerk bleibt aber Wirtschaft und Gesellschaft Chinas von K. A. Wittfogel (Leipzig 1931). Texte von Marx in: Grundrisse und Kapital.