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Urbane Form und Zentralität
ОглавлениеObwohl die Stadt mit der umfassenden Urbanisierung keine eigene Produktions- und Lebensweise mehr darstellt, verliert sie nach Lefebvre nicht ihre spezifische Funktion der Zentralität. Bereits in Le droit à la ville erläutert er diese These anhand der historischen Entwicklung: In der antiken Stadt ist das Zentrale mit einem leeren Raum verbunden, der entweder den Stadtbürgern als Versammlungsort dient (die griechische Agora) oder als Mittelpunkt des politischen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Lebens fungiert (das römische Forum). Die mittelalterliche Stadt versammelt Händler und Waren auf dem Marktplatz, einem wirtschaftlichen Zentrum, das sich durch seine Nähe zur Kirche und die Exklusion all derjenigen auszeichnet, die seine grundlegenden Funktionen stören könnten. Die kapitalistische Stadt wiederum produziert einen zentralen Kommerzraum (City); die Stadtkerne regenerieren sich als Orte des Konsums und als konsumierbare Orte. Schließlich entwickeln sich im »Neokapitalismus« die Metropolen zu Entscheidungszentren der multinationalen Konzerne und der Finanzökonomie. Die Verdichtung von ökonomischem Reichtum, Macht und Wissen nimmt in solchen »Weltstädten« eine neue Qualität an (Lefebvre 2009b [1968], S. 119 ff.). Die Eliten besetzen und bewohnen (zum Teil) diesen privilegierten Raum, ohne dass er ihnen notwendigerweise vollständig gehört. Um sie herum existieren soziale Gruppen, die subalterne Dienstleistungen für die gehobenen Klassen erbringen (ebd., S. 110 f.). Assoziationen zur späteren Global City-Theorie drängen sich hier auf (Schmid 2005, S. 187).
Zentralität als bloße Form – genau diese Prämisse erlaubt Lefebvre eine historische Herangehensweise. Den jeweiligen geschichtlichen Konstellationen entsprechend, zentralisiert die Stadt unterschiedliche Momente der sozialen Praxis (Vöckler 2013, S. 72). Lefebvre resümiert: »Wir haben das Wesen des Phänomens der Verstädterung in der Zentralität entdeckt, aber in einer Zentralität, gekoppelt mit der dialektischen Bewegung, die sie einsetzt und zerstört, sie schafft oder zerbricht. Der Sinn des urbanen Raum-Zeit-Gebildes ist darin zu sehen, dass jeder Punkt zentral werden kann. Die Zentralität ist nichts Indifferentes, im Gegenteil, sie bedarf des Inhalts. Dieser Inhalt jedoch kann irgendein Inhalt sein. Anhäufung von Projekten und Produkten in Lagern, Berge von Obst auf den Märkten, Menschenmassen, Leute, die sich gegenseitig auf die Füße treten, Zusammenballungen vielfältiger, nebeneinander, übereinander liegender, zusammengetragener Objekte: das macht die Stadt aus.« 9 (Lefebvre 1972a, S. 126)
Für Lefebvre beruht der Vorzug der städtischen Zentralität vor allem auf der »Gleichzeitigkeit«: Aus dem synchronen Zusammentreffen unterschiedlichster Elemente der Gesellschaft um einen Dichtepunkt kann etwas Unerwartetes, Neues und Produktives entstehen: »Alles, was andernorts entsteht, reißt die Stadt an sich: Früchte und Objekte, Produkte und Produzenten, Werke und schöpferisch Tätige, Aktivitäten und Situationen. Was erschafft sie? Nichts. Sie zentralisiert die Schöpfungen. Und dennoch, sie erschafft alles. Nichts existiert ohne Austausch, ohne Annäherung, ohne Nähe, ohne Beziehungsgefüge also. Sie schafft eine, die urbane Situation, in der unterschiedliche Dinge zueinanderfinden und nicht länger getrennt existieren, und zwar vermöge ihrer Unterschiedlichkeit.« (Ebd., S. 127) Mit »Zentralität « ist nicht nur der Raum der Kernstadt gemeint. Die Dynamik des Urbanisierungsprozesses lebt vielmehr vom Gegensatz zwischen Zentralisierung und Zerstreuung: »Jeder Punkt kann zum Brennpunkt werden, zum privilegierten Ort, an dem alles konvergiert. So dass jeder städtische Raum in sich dieses Möglich-Unmögliche trägt, seine eigene Negation. Jeder städtische Raum war somit, ist und wird konzentrisch und poly-(multi-)zentrisch sein.« (Ebd., S. 46)
Zentrum und Peripherie sind somit als relationales Modell räumlicher Beziehungen zu verstehen, die sich in nicht eindeutig voraussagbaren Formen manifestieren (Cluster, Knoten, Patchwork). Die bislang monozentrisch geformten Agglomerationen transformieren sich zu polyzentrischen Gebilden, die aus einem Geflecht unterschiedlicher Standorte bestehen (Ronneberger/Schmid 1995, S. 365). Darüber hinaus betont die Urbanistik in den letzten Jahren wieder verstärkt die ökonomische Bedeutung städtischer Zentralität. Man denke nur an das Leitbild von der »kreativen Wissensstadt« oder an die »Cluster«-Standortstrategie, wo es um Innovationen und die Steigerung sozialer Produktivität geht.