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Das Primat des Wohnens

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In welcher Weise aber ist die Entwicklung der Stadt mit den übergreifenden gesellschaftlichen Prozessen verwoben? Um diese Frage zu beantworten, führt Lefebvre das Modell der »Ebenen« ein. Er betrachtet die gesellschaftliche Wirklichkeit anhand von drei Kategorien: der privaten Ebene (P), der städtischen oder »gemischten « Ebene (M) und der globalen bzw. allgemeinen5 Ebene (G). Die unterste Ebene (P) bezeichnet Lefebvre in einem anderen Zusammenhang auch als die »nahe Ordnung«, der er die »ferne Ordnung« gegenüberstellt, nämlich die staatliche Gewalt und mächtige Institutionen, welche die Gesellschaft organisieren und regulieren (Lefebvre 2009b [1968], S. 44). Es handelt sich zugleich um eine abstrakte Ebene, auf der allgemeine Beziehungen zum Tragen kommen, wie Warentausch, Industrialisierung etc. Dazu zählen nach Lefebvre auch Teile des Baubereichs und die Logistik: städtebauliche Projekte im großen planerischen Maßstab, die allgemeine Organisation des Verkehrswesens und der institutionelle Urbanismus. Die mittlere, städtische Ebene mit ihren Versorgungsstrukturen, Dienstleistungen und lokalen Machtsystemen fungiert wiederum als Mediator zwischen der »fernen Ordnung« und dem Alltagsleben. Hier werden das »Allgemeine« und das »Private« miteinander artikuliert. In dieser Eigenschaft kommt der gemischten Ebene eine bestimmte soziale Funktion zu; sie führt die Elemente der Gesellschaft zusammen und macht sie so erst wirksam und fruchtbar (Lefebvre 1972a, S. 86–88).

Den Begriff der Ebene (niveau) hatte Lefebvre bereits in der Kritik des Alltagslebens entwickelt, um damit die Komplexität des gesellschaftlichen Ganzen erfassen zu können: »Wo es eine Ebene gibt, da gibt es mehrere Ebenen und infolgedessen Zwischenräume, relativ schroffe Übergänge, Verzerrungen oder Möglichkeiten zu Verzerrungen zwischen den Ebenen. Der Begriff schließt also den des durchgängigen Feldes aus, ohne freilich unvereinbar zu sein mit denen des allgemeinen Rahmens, der Globalität oder des Ensembles. « (Lefebvre 1975 [1961], S. 133) Die Ebenen können sich gegenseitig durchdringen, überlagern und aufeinander einwirken. Für Lefebvre umfasst die »private Ebene« neben dem Alltagsleben und primären Sozialbeziehungen wie Familie, Nachbarschaft etc. auch den »Wohnraum« (Lefebvre 1972a, S. 88). Allerdings habe die urbanistische Rationalität das »Wohnen“« (l’habiter)6 auf elementare Funktionen wie Essen, Schlafen und Fortpflanzung reduziert und damit die vormals bestehende Vielfalt städtischer Lebensweisen unterdrückt. Zurück bleibe ein von oben installierter »Lebensraum«7 (l’habitat): »Anwendung eines globalen, homogenen und quantitativen Raums, Zwang für das ‚Erlebte‘8, sich in Schachteln, Käfigen oder ‚Wohnmaschinen‘ einschließen zu lassen.« (Ebd., S. 89) Die Folgen der industriell-technokratischen Raumproduktion sind für Lefebvre verheerend. Noch nie zuvor wurde die Beziehung des Menschen zur Natur und zu seiner eigenen Natur (Begierden, Körperlichkeit) so zerstört »wie unter der Herrschaft des Lebensraums« (ebd., S. 91). Die kapitalistische Produktionsweise untergräbt nicht nur »die Erde und den Arbeiter« (Karl Marx), sondern auch den »Wohnraum«.

Mit dem Prozess der umfassenden Urbanisierung entsteht für Lefebvre die Tendenz, dass die verschiedenen Ebenen miteinander verschmelzen und das »Allgemeine« das »Private« zu absorbieren versucht. Gegen diese Vereinnahmung lasse sich zwar die gemischte, städtische Ebene als Terrain für soziale Kämpfe mobilisieren, aber eigentlich sei die »private Ebene« des Wohnens entscheidend (ebd., S. 98). Lefebvre knüpft hier an Überlegungen aus seiner Alltagskritik an. Bereits dort verlässt er das Basis-Überbau-Schema des traditionellen Marxismus, der in letzter Instanz stets auf das »Ökonomische« verweist. Für ihn impliziert der Begriff der Produktion auch, »im weitesten Sinne, die Reproduktion« (Lefebvre 1972b [1968], S. 49). Der (urbanisierte) Alltag ist nicht mehr das Abgeschobene und Verdrängte, sondern Produkt einer technokratischen Regulierung und ökonomischen Bewirtschaftung.

Auf der Raum-Zeit-Achse der Urbanisierung macht Lefebvre zwei »kritische Phasen« aus: In der ersten gerät die einst dominierende Landwirtschaft in eine untergeordnete Position gegenüber der Stadt, die ihrerseits bald von den Verwüstungen der Industrialisierung heimgesucht wird. In der zweiten kritischen Phase wird die Industrie der »städtischen Wirklichkeit« untergeordnet und das bislang als nebensächlich geltende »Wohnen« erlangt zentrale Bedeutung. »Unter dem hier vorgeschlagenen Blickwinkel gibt es also ein Primat der Verstädterung, und dem Wohnraum wird Priorität zuerkannt.« (Lefebvre 1972a, S. 98)

Daraus ergeben sich grundlegende strategische Konsequenzen, was die Frage des »revolutionären Subjekts« anbetrifft. Nach Lefebvre befindet sich das Industrieproletariat mit der zunehmenden Urbanisierung der Gesellschaft in einem Auflösungsprozess, der seine historische Rolle als Träger der Veränderung unterminiert. Und zwar in einem doppelten Sinne: Einerseits verallgemeinert sich der Proletarierstatus, den nun auch die meisten Bewohner der Neuen Stadt innehaben (Lefebvre 1972b, S. 87). Andererseits besitzt die traditionelle Arbeiterklasse kein politisches Gewicht mehr, denn »auf dem Gebiet des Urbanismus hat sie nichts Bedeutendes vorzuweisen.« (Lefebvre 1972a, S. 195) Die Repräsentanten dieser Klasse (Gewerkschaften, Parteien) und die Mehrheit der Arbeiterschaft haben sich gänzlich auf die Logik des Ökonomischen, des Quantitativen eingelassen.

Lefebvre begibt sich damit auf vermintes Gelände. So will er die Marxsche Geschichtsphilosophie, die wesentlich auf der Idee des emanzipatorischen Proletariats beruht, fortschreiben und gleichzeitig mit ihr brechen. Doch der Philosoph gibt sich bescheiden: Er beabsichtige lediglich, »das marxistische Projekt einer Revolution innerhalb der industriellen Organisation durch das Projekt zur Revolution der Stadt [zu] ergänzen.« (Ebd., S. 110). Schon in Le droit à la ville (1968) hatte Lefebvre behauptet, dass Marx die Dialektik von Industrialisierung und Urbanisierung aus historischen Gründen nicht wirklich begreifen konnte. Das Problem des Wohnens sei zwar von den »Klassikern« erkannt worden, aber das Phänomen der Urbanisierung gehe über die »Wohnungsfrage« weit hinaus (Lefebvre 2009b [1968], S. 78). Lefebvre deutet damit eine historische Beschränkung des Marxschen Denkens an: Er ordnet Marx in die Epoche der Industrialisierung ein, hält aber gleichzeitig an dessen Methode fest – nach der marxistischen Erkenntnistheorie, die auf der dialektischen Einheit von Gegenstand und Methode beruht, eine nicht akzeptable Verfahrensweise (Treusch-Dieter 1976, S. 115).

Für Lefebvre ist der »Wohnraum« ein Bereich, auf den kein Individuum verzichten kann, der sich aber mit fortschreitender kapitalistischer Raumverwertung für die Nutzerinnen und Nutzer zunehmend als defizitär erweist. Angesichts dieser Konstellation erhofft er sich die Entstehung eines neuen widerständigen Subjekts, das nicht nur gegen die Ausbeutung seiner Arbeitskraft, sondern gegen die Ruinierung seines gesamten Lebenszusammenhangs revoltiert. Im Rückblick erweist sich der erweiterte Alltagsbegriff von Lefebvre als visionär: Mit der gegenwärtigen kapitalistischen Vergesellschaftung sind die herkömmlichen Trennungen von Arbeit und Nicht-Arbeit, von Produktion und Reproduktion endgültig obsolet geworden. Indem das Kapital heute nicht nur die Arbeitskraft, sondern das Potenzial des gesamten schöpferischen Vermögens der Individuen ausbeutet, versucht es ihren Lebenszusammenhang umfassend zu regulieren (vgl. Virno 2005). Gegen diese »postfordistischen « Kontrolltechnologien und -prozeduren artikuliert sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen Widerstand: gegen Ausbeutung und Unterdrückung ebenso wie gegen Ausgrenzung und vordefinierte Subjektpositionen (Foucault 1987, S. 247).

Die Revolution der Städte

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