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4 Essen oder nicht Essen?

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Seit wenigen Tagen hatten sich Toni und Alois an eine völlig veränderte, moderne Sprache gewöhnen müssen. Mittlerweile hatten sie zahlreiche neue Gegenstände sowie Fachbegriffe kennengelernt. Obwohl ihr Dialekt nicht mehr gar so altertümlich war, klang er für ungewohnte Ohren immer noch nach einem wirklich sehr altmodischen Tirolerisch. Tief beeindruckt waren die Burschen neben den technischen Innovationen ebenso von der überall vorhandenen Sauberkeit und Reinlichkeit. Diese Neuerung war diejenige, an die sie sich am allerleichtesten gewöhnten.

Nur die zahlreichen neumodischen Düfte – angefangen beim parfümfreien und hautverträglichen Duschgel, über das dezente Aftershave, bis hin zu den blumig duftenden Putz- und Spülmitteln - das alles bedurfte tatsächlich noch ein wenig Eingewöhnung.

Dieser allseitige Wohlduft hätte jedoch einige Tage später beinahe sehr dramatische Folgen für Alois gehabt. Da ihn ein rechter Durst überkommen hatte, setzte er, ohne auf dem Etikett nachzulesen, eine Flasche mit Badreiniger an und nahm daraus einen ordentlichen Schluck dieses vermeintlichen Erfrischungsgetränks. Dank seiner spontanen Spuck- und Würgereflexe und Ludwigs glücklicherweise noch präsenter Erste-Hilfe-Kenntnisse war nach einer guten Stunde lediglich ein fieser Restgeschmack im Mund und Rachenraum und eine allgemeine Benommenheit zu spüren. Ludwigs Eifer, seine notfallmedizinischen Kenntnisse bald nach der Geburt ihres ersten Kindes aufzufrischen, hatte sich endlich gelohnt. Die seit Jahren neben dem Telefon angebrachte Rufnummer des Giftnotrufs musste er glücklicherweise nicht ein einziges mal bemühen. Dank seines gut sortierten Erste-Hilfe-Schränkchens, das die ein oder andere Kohletablette spendierte, war die verbleibende Menge des letztlich verschluckten Reinigers bald neutralisiert.

Zum Glück hatten ihre Kinder, Stefan und Beate, bislang nur diverse kleinere und größere Schürfwunden oder eine kleine Platzwunde zu versorgen, die meistens neben einigen tröstenden Worten mit einem schön verzierten und farbenfrohen Wundpflaster, manchmal mit ein wenig Desinfektionsspray und ganz selten mit einem Arztbesuch „geheilt“ werden konnte.

Der spektakulär begonnene und glimpflich verlaufene Zwischenfall mit dem Badreiniger ließ Ludwig darüber nachdenken, wie sie bei einem tatsächlichen medizinischen Notfall einen notwendigen Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt einfädeln könnten. Über eine Krankenversicherungskarte oder Personalausweis in aktueller Form verfügten die Burschen ja nicht. Die Reste ihrer zerfallenen Ausweise in den Jacken waren lediglich von historischem Wert, und würden bei einer Notaufnahme im Krankenhaus sicherlich zu gewaltigen Irritationen führen. Deshalb brauchte es für diesen Fall irgendwann eine Lösung. Kurzfristig war es daher besser, dass dies beim „Schluck aus der Reinigerflasche“ noch nicht notwendig geworden war. „Geschmacklich“ legte Alois vorerst dennoch eine kleine Verschnaufpause ein. In Folge seines Fehlgriffs probierte Alois nun grundsätzlich jedes Getränk, selbst einen persönlich von Ludwig angebotenen Obstler, zuerst nur mit einem sehr kleinen Nipper. Allein dem Geruch eines Getränks konnte man schließlich nicht trauen. insgesamt schmeckte seinen beiden „großen Kindern“ das moderne Essen und die Getränke jedoch sehr gut.

Als Helfer in einigen Problemlagen des modernen Alltags machte sich Ludwig und Margrets „Großer“, der vierjährige Stefan, ganz gut. Für die Kinder waren die leicht merkwürdig wirkenden Männer schon bald wie zwei leicht verschrobene Onkels. Vom ersten Tag an waren sie in der Familie integriert, schließlich wurden sie von den Eltern umfassend mitversorgt. Wenn es Stefan nachmittags langweilig wurde, ging er bald schon alleine zu den Burschen in die Wohnung und fragte, ob einer von ihnen mit ihm spielen wolle. Vertrauensselig fasste er den Zögernden bei der Hand und führte ihn zu seiner Holzeisenbahn. Dort machte er ihm etwa vor, wie er die Schranken mit der Hand zu bedienen hatte, wenn Stefan anschließend mit seinem Zug durchfahren wollte. Dadurch bekamen die Burschen, naiv fragend, von Stefan die ein oder anderen Gegenstände, die sie noch nicht kannten, in der Eisenbahnlandschaft erklärt. „Wenn’s brenna tuat, kimmt’s Feuerwehrauto mit am lauten Tatü-Tata und oam Blinklicht ograuscht!“ sprach Stefan und drückte auf einen kleinen Taster am Boden des Modellautos, das für einige Sekunden ein entsprechendes Theater aufführte.

Beim Abendessen fragten Alois und Toni regelmäßig, ob Ludwig tatsächlich nur Dorfschullehrer und in Wahrheit nicht doch ein „hoher Herr“ sei, oder vielleicht einen solchen zum Vater hätte. Ihrem Eindruck nach gab es bei den Koflers doch sehr häufig ein ordentliches Stück Fleisch auf den Tisch. „Wer ko sich scho so oft a Fleisch leischdn?“ zweifelte Alois an Ludwigs Ehrlichkeit. Jedes mal, wenn sie diese Bedenken ansprachen, musste Ludwig ihnen versichern, dass es bei ihnen üblicherweise ja nur zweimal in der Woche Fleisch oder Fisch gäbe, und dass heute bei vielen Familien selbst aus einfacheren Verhältnissen fast jeden Tag Fleisch auf dem Teller landete.

Nur wegen ihrer bewussten Einstellung zur Ernährung gäbe es bei ihnen recht häufig vegetarische Gerichte oder Mehlspeisen. Mit „vegetarisch“ musste Ludwig einmal mehr einen Begriff erklären, der für manche Zeitgenossen eine komplette weltanschaulich fundamentalistische Beinahe-Philosophie darstellte. Seine engagierte Beschreibung wurde von Toni allerdings lapidar quittiert: „Ihr macht’s do aber a Riesengschiess um a guats Stuack Fleisch! Des isch doch a rechter Feschtdog, wenns überhaupt oans gibt. Dafür muas ma oafach dem Herrgott danken und net so wild rumpolitisiern!“ Allerdings hatten die Burschen auch noch keine industrielle Massentierhaltung mit erbärmlich gehaltenen, mehr leidenden als lebenden Tieren erleben müssen. Die Tiere ihrer Jugend hatten - nach heutigen Maßstäben gemessen - demgegenüber ausnahmslos biologisch volldynamische und tier-ethische Traumbedingungen erlebt, bis sie letztlich ihren Weg in den Schmortopf gefunden hatten. Auf die Steigerung der Vegetarier in Form des gerade sehr angesagten „Veganertums“ oder gar „Fruktariertums“ wagte Ludwig noch nicht einzugehen.

Geschmacklich beschrieben Toni und Alois selbst das beste Rindersteak vom Bio-Naturbauern, der sein Fleisch ausschließlich direkt vermarktete - mehr oder minder diplomatisch - als „schon arg trocken und viel zu zaghaft gsalzen.“ Ihr Geschmacksempfinden schien noch sehr stark den konservierungsbedingten, deutlich höheren Salzgehalt gewohnt zu sein. Ebendiesen, nicht wirklich gesundheitsförderlichen hohen Salzgehalt benötigte man in Zeiten einer modernen nahtlosen Kühlkette bis hin zur Kühltheke des Supermarktes oder Metzgers kaum noch. Darüber hinaus gab es in fast jedem Haushalt solch einen wunderbaren elektrischen Kühlschrank mit einer zauberhaften Tür in den beleuchteten Mikro-Winter! Die Kühlung mit Eisblöcken, mit denen muskelbepackte Eiskutscher mehrmals pro Woche die Eiskästen in den Wohnungen betuchter Städter nachfüllten, war während Ihrer Jugend das Komfortabelste gewesen, das sie beobachten konnten.

Wegen der großen Anzahl elektrisch betriebener Geräte gediehen in ihnen die unterschiedlichsten Überlegungen. So fragte Toni: „Muas der Strom ned au a mol a Pausen machn? Kimmt do jeden Tog em Jaohr imma neuer Strom aus dean Leitungen?“ Und Alois hakte nach: „Und wenn amol kaoner mer kimmt, no hobts ihrs an gscheiten Ärger! Koa Licht, koa Fernsprecherei, da Kühlschrank kühlt ned und was sonst no oalles!?!“

Für einen zwar nur äußerst unwahrscheinlich eintreffenden längeren Katastrophenfall hatten sie mit ihren Überlegungen allerdings erstaunlich recht. Das Detail, dass auch die modernen Heizungen samt ihrer Umwälzpumpen elementar auf Strom angewiesen sind, verschwieg Ludwig geflissentlich und wies vielmehr auf die hohe Versorgungssicherheit durch das Stromwerk hin. Schließlich hatten die Koflers einen Kachelofen, der neben der gemütlichen Wärme auch als Notfallheizung herhalten konnte. Dass selbst die Trinkwasserversorgung bei einem längerem Stromausfall unerwartet rasch beendet sein könnte, falls die Notstromanlage der Pumpstation früher als geplant ihren Dienst quittierte, war nur eines der vielen modernen Versorgungsprobleme. Über diese und zahlreiche weitere ungewöhnliche Fragen eines größeren Blackout-Szenarios war neulich erst in einer TV-Doku berichtet worden und ließen den technikbegeisterten Ludwig enorm irritiert zurück.

Die Männer aus dem ewigen Eis

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