Читать книгу Die Einsamkeit des Bösen - Herbert Dutzler - Страница 13

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Es dauerte nur Tage, bis Alexandras positive Stimmung wieder mehrere Dämpfer versetzt bekam. Es begann mit Max. Mittwochs machte seine Klasse früher Schluss, und die letzten beiden Stunden waren Werken. Max baute in der Regel Fahrzeuge, Bagger oder Schubraupen zum Beispiel. Ganz egal, wie das Objekt aussah, ob es aus Pappe zusammengeleimt oder aus Holz genagelt war, fast immer schob er etwas auf dem Küchentisch herum und gab dazu brummende Geräusche von sich, wenn Alexandra etwa eine halbe Stunde nach ihm nach Hause kam.

Diesmal aber kein Max. Alexandra legte die Einkäufe auf die Küchenplatte und rief nach ihm. Er war wohl in sein Zimmer gegangen. „Max?“ Kein Geräusch. Unruhig geworden, stürmte sie die Treppe hinauf. Auch dort kein Max, weder in seinem noch in einem der beiden anderen Schlafzimmer. Garage, Keller, kein Max. Alexandras Herz begann zu rasen. Anton anrufen? Schule anrufen? Krankenhäuser? Schulweg kontrollieren? Schulweg! Sie raste aus dem Haus.

Keine drei Minuten später stand sie abgehetzt vor dem Schultor. Nachfragen? Natürlich! Sie klopfte am Lehrerzimmer. Da kam niemand! War denn das möglich? Neuerliches Klopfen, energischer. Endlich öffnete sich die Tür. „Sie müssen ja nicht gleich die Tür einschlagen!“, brummte die Lehrerin unwirsch, die öffnete. „Ich muss unbedingt Frau Tannhauser sprechen. Ist sie noch da?“ „Was gibt es denn Eiliges?“ Die Frau machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Mein Sohn ist nicht nach Hause gekommen!“, brach es aus Alexandra heraus, obwohl sie das eigentlich nur Frau Tannhauser hatte mitteilen wollen.

Die Lehrerin maß Alexandra mit skeptischen Blicken. „Da muss doch nicht gleich etwas passiert sein. Schauen Sie doch noch einmal …“ Alexandra verkrampfte sich. „Frau Tannhauser! Bitte!“ „Ich werde mich bemühen!“ Ein eisiger Blick traf Alexandra. Sie war sich dessen bewusst, dass die Lehrerin sie für eine hysterische Helikoptermutter halten musste. Sie machte sich selbst oft über Frauen lustig, die ihren Kindern jede Selbstständigkeit absprachen. Aber Max war noch nie mittwochs zu spät gekommen! Schulterzuckend kehrte ihr die Lehrerin den Rücken zu und schlenderte in aller Ruhe den Gang hinunter.

„Ja?“ Mit besorgter Miene kam Frau Tannhauser auf sie zu. Max’ Klassenlehrerin. Jung, aber mit kräftiger Stimme und einer allzeit bereiten senkrechten Falte auf der Stirn. „Max ist nicht nach Hause gekommen!“, stotterte Alexandra atemlos und schämte sich selber dafür, dass sie so hysterisch reagierte. Schließlich war Max schon fast neun Jahre alt und normalerweise zuverlässig. „Kommen Sie!“ Frau Tannhauser fasste sie an der Schulter und schob sie vor sich her. „Wir fragen seine Werklehrerin!“ Wenig später standen sie vor dem Werkraum, aus dem ohrenbetäubendes Hämmern dröhnte, selbst durch die geschlossene Tür. „Warten Sie einen Moment!“ Frau Tannhauser schlüpfte durch die Tür. Für einen Moment schwoll das Gehämmer auf Infernolautstärke an.

„Er war im Werkunterricht und ist am Ende der Stunde wie immer gegangen.“ Alexandra schämte sich ihrer Tränen, die bereits in den Augenhöhlen brannten und drohten, hervorzuquellen und die Wangen hinunterzulaufen. „Wo kann er nur sein?“ Das war schon mehr Flennen als Reden. Frau Tannhauser legte ihr beschwichtigend den Arm um die Schultern. „Sie wissen doch, Kinder verbummeln sich oft einmal auf dem Heimweg. Vielleicht ist er auch mit einem Freund mitgegangen und hat noch keine Gelegenheit gehabt, sich bei Ihnen zu melden.“ „Nein, nein!“ Ihre Stimme musste hysterisch klingen. „Das macht er nie, das ist komplett ungewöhnlich!“ Frau Tannhauser nahm Alexandras Rechte in beide Hände. „Wissen Sie was? Ich muss jetzt zurück in die Klasse. Sobald die Stunde aus ist, rufe ich Sie an. Inzwischen kontrollieren Sie noch einmal den Schulweg. Auch mit Um- und Abwegen!“ Alexandra nickte. Sie wollte ohnehin nichts als raus hier, denn wo Max nicht war, hatte auch sie nichts verloren.

Um- und Abwege? Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass es tatsächlich einen Umweg gab, den Max manchmal nahm. Es gab da einen Elektroladen, der oft laufende Fernseher in die Schaufenster stellte. Es kam vor, dass Max vor der Auslage stand, in den Fernseher guckte und alles um sich herum vergaß. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Sie hastete durch die Straßen, bemerkte aber schon von Weitem, dass kein Kind gebannt ins Schaufenster starrte.

Sobald sie zu Hause ankam, würde sie Anton anrufen. Sie mussten gemeinsam nach Max suchen. Sie drehte den Schlüssel im Schloss und hörte jemanden schniefen. „Max?“ Keine Antwort. Lauteres Schniefen. Sie stürmte die Treppe hinauf. Hatte er sich womöglich verletzt?

In der Küche saß Max mit verquollenem Gesicht am Tisch. Als er Alexandra sah, legte er den Kopf auf die verschränkten Arme, sein Rücken zuckte, er atmete stoßweise. „Max! Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wo warst du?“ Sie versuchte, seinen Kopf anzuheben, um ihm in die Augen zu blicken, doch Max wehrte sich. „Komm, lass mich sehen!“ Noch bevor sie ihm ins Gesicht schauen konnte, bemerkte sie, dass seine Jeans über und über mit braunen Farbspritzern bekleckert waren. Endlich wandte er sich ihr zu, nur um gleich wieder seinen Kopf an ihrer Brust zu vergraben. Sie schob ihn von sich. „Um Gottes willen!“ Über und unter dem rechten Auge war Max böse aufgeschürft, ein wenig Blut quoll aus den Wunden. Seine Oberlippe war dick angeschwollen, und auch das Kinn war zerkratzt. „Was ist denn passiert?“ Sie drückte ihn an sich, Max wurde von seinen Tränen durchgeschüttelt, gab aber keine Antwort.

„Komm ins Bad. Wir bringen das in Ordnung.“ Sie strich ihm begütigend über den Rücken, und langsam ebbte das Schluchzen ab. Max stand auf. Erst jetzt erkannte Alexandra die ganze Bescherung. Das gesamte Gesäß von Max’ Hose war von brauner Farbe durchtränkt, auch der Küchenstuhl hatte einiges abbekommen. Was war da passiert? Sie beschloss, zuerst einmal Max zu beruhigen. Sonst war ohnehin nichts aus ihm herauszubekommen. „Wir müssen die Hose ausziehen!“ Folgsam ließ sich Max Gürtel, Knopf und Reißverschluss öffnen. Die Farbe war bis auf die Unterhose durchgedrungen. Alexandra seufzte. „Komm ins Bad!“

Es dauerte etwas, bis sie Max in der Badewanne stehen hatte. Keines seiner Kleidungsstücke war von der braunen Farbe verschont geblieben, nicht einmal Socken und Schuhe. Zuerst wollte sie die Sachen gleich in die Waschmaschine stecken, doch dann überlegte sie kurz. Wenn das kein Unfall gewesen war, sondern … Sie räumte die schmutzigen Sachen beiseite. „Wart einmal kurz!“ Sie holte ihr Handy aus der Handtasche. Als Max mitbekam, dass er fotografiert werden sollte, begann er wieder zu brüllen und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Alexandra wartete ab. „Max, wir kriegen den, der dir das angetan hat. Und jetzt müssen wir Beweise sichern. Dazu muss ich dich fotografieren. So, wie du nach Hause gekommen bist.“ „Hat niemand getan! Bin in den Kübel gefallen! Ganz allein!“

Es bedurfte langwieriger Verhandlungen, bis Max die Hände vom Gesicht nahm. Die Wunden waren nun noch weiter angeschwollen. Sie würde mit ihm zum Arzt gehen, sobald er gewaschen und erstversorgt war. Während sie mit der Rechten einen Waschlappen hielt und vorsichtig über seine farbverkrustete Nase fuhr, drängte sie mit der Linken seinen Arm zur Seite, hielt ihm das Handy vors Gesicht und drückte ab, bevor er sich abwenden konnte. Wutgeheul war die Folge. Man konnte von einem Achtjährigen auch nicht erwarten, gestand sich Alexandra ein, dass er etwas von Beweissicherung verstand. Aber sie selbst hatte aus den Krimis gelernt, die sie seit Jahren lektorierte. Sogar ein paar True-Crime-Titel waren dabei gewesen, da bekam man mit, was im Fall eines Verbrechens zu tun war.

„Max, wer war das? Was ist genau passiert? Und wo?“ Max war endlich frisch angezogen und schob ein Modellauto auf dem Tisch hin und her. Dazu erklangen die üblichen Brummgeräusche, er schien sein schlimmes Erlebnis bereits vergessen zu haben. Alexandra musste noch einmal nachfragen, bevor sie eine Antwort bekam. „Ich bin auf die Baustelle geschlichen. Da war ein Eimer mit Farbe.“ Max tat desinteressiert. „Was gibt es zu essen?“ „Max!“, insistierte Alexandra. „Schau mich an! Welche Baustelle?“ „Um die Ecke. In der Kranzlstraße.“ Die hieß eigentlich Rosenkranzstraße, trug aber seit Menschengedenken diesen Spitznamen. „Was hast du auf einer Baustelle verloren? Kannst du nicht lesen? Da darf man nicht rein!“ Max zuckte mit den Achseln. „Bin halt rein.“ „Und?“ „Weiß nicht.“ So kamen sie nicht weiter. Sie musste zu einem Arzt. Und Anton anrufen.

„Mach doch wegen so einer Kleinigkeit kein solches Theater! Jungen raufen eben!“ Sie hätte es sich denken können, dass Anton alles verharmlosen würde. Er nahm ihre Sorgen einfach nicht ernst. „Er ist da nicht selber rein und in einen Farbkübel gefallen. Da hat ihn jemand angegriffen!“ „Gerangelt werden sie halt haben!“ Sie konnte seinen väterlich-begütigenden Ton nicht länger ertragen und legte auf. So redete man mit einer Irren. Er hatte Max ja nicht gesehen. „Wir fahren jetzt zu deinem Kinderarzt!“ Doktor Jelinek würde sie ernst nehmen, dessen war sie sich sicher. Der hatte sogar schon im Fernsehen darüber gesprochen, dass Anzeichen von Gewalt, egal ob häuslich oder nicht, an Kindern auf jeden Fall ernst genommen werden müssten.

Blieb nur noch die schwierige Aufgabe, Max zu überzeugen, dass ein Arztbesuch unabdingbar war. „Max, wir fahren jetzt zu Doktor Jelinek.“ „Will aber nicht!“ Wie konnte man sich einem blöden Spielzeugauto nur mit solcher Konzentration widmen? In Alexandra stieg Zorn hoch. Sie hatte ja schließlich etwas anderes auch noch zu tun. Essen kochen, beispielsweise. Und dann, wahrscheinlich schon übermüdet, mit einer Kanne Kaffee vor dem PC den nächsten Sexualakt übersetzen.

„Du kriegst auch …“ Schon tat es ihr leid, dass sie die Erpressungskeule schwingen musste. „Die Playstation?“ Er sah zu ihr auf. Seine Lippen waren noch mehr angeschwollen als zuvor. Sie mussten dringend zum Doktor. „Das nicht … aber eine Belohnung, ganz sicher. Hängt davon ab, wie du dich beim Doktor aufführst!“ Max stand maulend auf, ließ sich aber folgsam eine Jacke überstreifen und im Auto festschnallen.

„Das hier sieht nicht wie eine Sturzverletzung aus!“ Doktor Jelinek hatte Max’ Blessuren nochmals fotografiert, gereinigt und verbunden. Und zwar ohne große Widerstände. Ein Arzt, dachte sich Alexandra, war eben doch eine Autorität. Sogar für ihre Kinder. „Du bist ganz sicher in den Farbkübel gefallen?“ Max nickte. „Und wobei hast du dich dann an der Oberlippe verletzt?“ Max zögerte. „Umgefallen. Und da draufgefallen!“ Er zeigte auf seine Oberlippe. „Und das Kinn?“ Max’ Augen sprangen zwischen Alexandra und Doktor Jelinek hin und her. „Zuerst da drauf.“ Er zeigte auf seine Oberlippe. „Und dann hierher!“ Sein Daumen wies auf das Kinn. Alexandra und der Arzt warfen sich vielsagende Blicke zu. Es war klar, dass Max log. Er hatte sich das alles zusammengereimt. „Kannst du mal kurz draußen warten? Du kennst ja das Spielzimmer?“ Max nickte, rutschte vom Behandlungstisch und war wenige Sekunden später verschwunden.

„Der junge Mann ist eindeutig verprügelt worden! Und die Täter haben ihn dann in einen Farbkübel gesetzt. Danach wahrscheinlich noch mit irgendeinem Werkzeug, einem Stock oder einem Brett, das sie in Farbe getaucht haben, geschlagen.“ Alexandra seufzte. „Die Frage ist nur, warum er das nicht zugibt.“ Doktor Jelinek legte die Hand ans Kinn und kraulte seinen kurz geschorenen grauen Bart. „Er steht unter Druck. Jemand hat ihm gedroht, ihm noch etwas Ärgeres anzutun, wenn er redet. Diese Strategie funktioniert bei Kindern in seinem Alter noch recht gut.“ „Aber er war bisher noch nie ein Mobbing-Opfer. Warum jetzt?“ Doktor Jelinek nahm seine Brille ab und wischte mit einem Putztuch daran herum. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht redet er ja morgen. Gab es in Ihrer Familie irgendeine dramatische Veränderung? Ein Todesfall vielleicht?“ Alexandra war wie vom Blitz getroffen. „Kein Todesfall!“ Sie schnappte nach Luft, Doktor Jelinek zog die Augenbrauen hoch. Natürlich hatte es eine dramatische Veränderung gegeben, und sie hatten von Max verlangt, sie geheim zu halten. Aber er hatte sich wahrscheinlich verplappert, dafür Prügel bezogen und traute sich nun nicht, ihr die Wahrheit einzugestehen. So musste es sein.

Der Arzt drang nicht weiter in Alexandra und erhob sich. „Jedenfalls sollten Sie die Kleidung nicht waschen, da müssten Spuren der Schläge drauf sein. Das ist immerhin der Tatbestand der Körperverletzung, ich würde das anzeigen. Eigentlich sollte ich das selber tun, aber ich möchte Ihrer Entscheidung nicht vorgreifen …“

Vor dem Einsteigen ins Auto kniete sich Alexandra hin und betrachtete Max’ Gesicht. Er sah wirklich zum Fürchten aus. „Du hast jemand von dem Lottogewinn erzählt, und dann bist du verprügelt worden, weil du angegeben hast, stimmt’s?“ Max schüttelte den Kopf, aber in seinen Augen konnte Alexandra sehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Anstatt nach Hause zu fahren, hielt Alexandra nochmals vor Max’ Schule. Dass sie den Parkplatz für Lehrerinnen benutzte, war ihr in diesem Fall egal. Sie hoffte, wenigstens die Direktorin noch anzutreffen. Die Sache, fand sie, war gleich zu klären und duldete keinen Aufschub.

Ihr Handy dudelte. Sie hatte völlig auf Annika vergessen. „Ja, bitte mach dir selber was Einfaches zu essen. Ich bin mit Max unterwegs, es hat da ein kleines Problem gegeben.“ Sie wimmelte die Fragen Annikas ab, legte auf und klopfte am Direktionsbüro, während Max an ihrer Hand zerrte. „Nicht! Ich will heim!“ Doch ihre Hand schloss sich fest um die seine. Es kam gar nicht infrage, jetzt unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren.

„Ja?“ Wintersteller hieß die Direktorin, das konnte Alexandra schnell noch von einem Schild ablesen, bevor sie eintrat. „Oh Gott!“, rief die, als sie Max erblickte. „Darf ich aus Ihrem Besuch und dem Aussehen Ihres Sohnes schließen, dass da Gewalt im Spiel war?“ Schwer von Begriff war die Frau Direktorin nicht. Alexandra war erleichtert. „Nehmen Sie bitte Platz. Was kann ich für Sie tun?“ Alexandra begann zu erzählen.

„Und das Problem ist, dass wir von den Kindern verlangt haben, nicht über den Gewinn zu sprechen. Wahrscheinlich hat sich Max verplappert, das war einfach zu viel verlangt von ihm.“ Sie strich ihm durch die Haare. Max schien das Gespräch unangenehm zu sein. Er hatte ein winziges Spielzeugauto aus einer Hosentasche gezogen und fuhr damit unter Brummgeräuschen auf dem Schreibtisch der Direktorin herum. Rund um den Radiergummi.

Frau Wintersteller nickte und legte einen Finger an die Lippen. „Tolles Auto, Max. Hast du noch mehr davon?“ Max nickte, ohne aufzusehen. „Weißt du, Max, so etwas kommt leider oft vor. Dass einer von Älteren verprügelt wird. Und die drohen dann. Sie sagen zum Beispiel, dass sie dir dein Handy wegnehmen und es in den Fluss werfen, wenn du zu Hause was erzählst.“ „Hab kein Handy!“ Max schob weiter sein Auto. Die Direktorin lächelte und nickte Alexandra zu. „Oder sie sagen, dass sie dich einsperren und windelweich prügeln. Oder sie verlangen, dass du ihnen dein Taschengeld gibst.“ Beim letzten Satz horchte Max auf. Alexandra wartete gespannt. Plötzlich schüttelte Max den Kopf. „Hat Basti nicht getan!“ Das Auto umrundete ein weiteres Mal den Radiergummi, während die Direktorin und Alexandra einander in die Augen sahen. Frau Wintersteller ließ sich zu einem siegesgewissen Lächeln verleiten. „Was genau hat Basti nicht getan?“

Ein paar Minuten später kannten sie die ganze Geschichte. Sebastian, ein Schüler aus der vierten Klasse, hatte Max abgepasst. „Sebastian ist groß und kräftig, fast ein Jahr älter als seine Mitschüler, er war in der Vorschule“, erklärte Frau Wintersteller. Zwei weitere Burschen aus seiner Klasse hatten ihm Rückendeckung gegeben. Dann hatten sie Geld gefordert. Max sei reich, er habe Millionen gewonnen.

„Warum hast du denn erzählt, dass ihr jetzt viel Geld habt?“, fragte Frau Wintersteller ruhig. Max zuckte mit den Schultern. „Der Flo hat so angegeben. Dass sich sein Vater einen Porsche kauft und so. Und einen Pool und alles. Und dass er eine Riesenparty schmeißt, zu seinem Geburtstag. Und da hab ich gesagt …“ Schon begann er zu schluchzen. Alexandra nahm ihn in den Arm. „… dass wir auch ganz viel Geld haben. Hundert Milliarden oder so. Hat Papa in der Lotterie gewonnen.“ „Hundert Milliarden?“, fragte Alexandra erstaunt nach. Max schluchzte. „Weil doch der Flo gesagt hat, dass sein Papa ein Millionär ist und …“ Max heulte und barg sein Gesicht in Alexandras Schoß. „Und weil du ein kluger Bursche bist und weißt, dass eine Milliarde mehr ist als eine Million …“ Frau Wintersteller lächelte. Max nickte, ohne den Kopf anzuheben. Alexandra streichelte ihm Haar und Rücken.

Sie hatten Max auf die Baustelle gedrängt und gefordert, er müsse ihnen am nächsten Tag hundert Euro bringen, sonst würden sie ihn von der Eisenbahnbrücke werfen. Dann hatten sie ihn mit Faustschlägen zu dem Farbeimer gedrängt, der auf der Baustelle zufällig herumgestanden war. Nachdem sie ihn hineingeschubst hatte, hatten sie selbst noch herumliegende Bretter in die Farbe getaucht und Max damit geschlagen.

„Max, kannst du kurz einmal draußen warten?“ Max sah auf. Die Aussicht, dem unangenehmen Gespräch zu entkommen, schien ihm zu gefallen. „Und vergiss das Auto nicht!“ Er griff rasch danach, sprang von seinem Stuhl und verließ das Direktionszimmer.

Als die Tür zufiel, seufzte die Direktorin. „Sebastian also. Wir haben gerade erst eine Klassenkonferenz hinter uns, in der wir überlegt haben, das Jugendamt einzuschalten. Extrem schlechte Arbeitshaltung, keine Schulsachen, keine Hausübungen, Gewaltausbrüche, mangelhafte Konzentration. Kein Kontakt mit den Eltern herzustellen. Selbst Anrufe bringen nichts – sie versprechen, demnächst zu kommen, tauchen aber nicht auf. Soziale Verwahrlosung.“

„Max hat von dem Kind nie etwas erzählt …“, warf Alexandra ein. „Er ist auch nicht in Max’ Klasse. Wahrscheinlich hat er irgendwie mitbekommen, dass Sie viel Geld gewonnen haben, so was spricht sich ja rasch herum.“ „Aber die Summe …?“, bemerkte Alexandra. „Da machen Sie sich einmal keine Gedanken!“ Frau Wintersteller machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kinder sind fürchterliche Klatschbasen, hören nicht genau zu und übertreiben beim Weitererzählen, dass sich die Balken biegen. Nur, damit sie die Aufmerksamkeit der anderen möglichst lange halten können. Tatsachen spielen dabei keine Rolle.“ Alexandra hatte den Eindruck, dass die Direktorin wusste, wovon sie sprach.

„Ich denke, dieses Mal werden wir nicht umhinkommen, dem Jugendamt Meldung zu erstatten. Allerdings wird es für Max in den nächsten Wochen dennoch nicht leicht werden. Sorgen Sie bitte dafür, dass er keine teuren Konsumartikel bekommt oder in die Schule mitbringt. Und, auch wenn es möglicherweise Ihren Prinzipien widerspricht – reden Sie nochmals mit ihm. Es wäre wirklich besser, wenn er den Gewinn nicht mehr erwähnt.“ Alexandra traten schon wieder die Tränen in die Augen. War sie etwa eine Heulsuse geworden? „Ich will, ich wollte das Geld gar nicht!“, winselte sie. „Am liebsten wäre es mir, wenn wir es zurückgeben könnten. Mein Mann …“ Sie brach ab, als ihr Frau Wintersteller beruhigend die Hand auf den Unterarm legte.

Da war aber noch etwas, das sie mit der Direktorin besprechen wollte. „Eigentlich wollte ich sofort zur Polizei, um den Überfall anzuzeigen. Denn das war es ja. Ein Überfall.“ Frau Wintersteller legte ihr Kinn in die linke Hand. „Hm. Überlegen Sie sich das noch einmal. Strafmündig ist der Basti ja ohnehin nicht, und wenn die Polizei bei ihm zu Hause auftaucht, bezieht er wahrscheinlich wieder Prügel von seinen Eltern. Gewaltspirale.“ Alexandra brauste auf. „Soll der denn völlig ungeschoren davonkommen?“ Das sah sie nicht ein. Frau Wintersteller schüttelte den Kopf. „Wenn wir das Jugendamt einschalten, hat die Familie genug Ärger am Hals. Mehr erreichen wir mit der Polizei auch nicht. Außer, es geht Ihnen um Schadenersatz oder Schmerzensgeld.“ Alexandra schämte sich plötzlich. Um Geld konnte, durfte es nicht gehen. Hatte sie in den Augen der Direktorin diesen Eindruck erweckt? Andererseits – wer viel Geld hatte, durfte keinen Ersatz für erlittenen Schaden verlangen? Sie war, wie so oft in den letzten Tagen, völlig verunsichert.

„Guten Morgen!“ Alexandra legte ihre Handtasche auf dem Schreibtisch ab, als sie ein eiskalter Blick von Sophie traf. „Morgen!“, murmelte die, um sofort wieder auf ihren Monitor zu starren. „Ist was?“ Alexandra war ratlos. Was war nur in Sophie gefahren? Konnte es sein, dass sie auch … „Was ist los?“, fragte sie noch einmal. Am besten war es, das Problem sofort und direkt anzusprechen. „Nichts!“ Sophie wandte keinen Blick von ihrem Bildschirm ab. „Nur, dass ich gedacht habe, wir wären Freundinnen!“, zischte sie, als Alexandra ihr gegenüber vor ihrem Bildschirm Platz genommen hatte. „Sind wir auch!“ Alexandra rückte ein Stück nach links, um Sophie in die Augen sehen zu können. „Einer Freundin erzählt man aber, wenn etwas Wichtiges passiert!“

Alexandra seufzte und stützte sich mit den Ellbogen auf ihre Schreibtischplatte. „Du hast von unserem Gewinn gehört?“ „Wer nicht?“, gab Sophie giftig zurück. Noch immer hatte sie ihre Blicke stur auf den Monitor geheftet. „Sophie …“, begann sie, doch sie konnte nicht weiter. Was sollte sie ihrer Freundin erklären und wie? Dass sie selbst nur Ärger gehabt hatte, seit die Gewinnnachricht ins Haus getrudelt war? Dass man Max verprügelt hatte, nur wegen des Geldes? Dass sie das ganze Geld am liebsten zurückgeben würde? Kein Mensch würde ihr glauben, auch nicht Sophie.

„Ich wollte es dir ja sagen, ich wusste nur nicht, wann und wie. Ich hab einfach noch keine passende Gelegenheit dazu gefunden. Ich bin ja selber noch ganz durcheinander!“ „Anscheinend nicht so durcheinander, dass du nicht die halbe Stadt darüber informieren hast können. Man hört, du kaufst sämtliche Designerläden leer!“ „Sophie …!“ Es war sinnlos, diese Debatte jetzt zu führen. Vielleicht konnte sie in aller Ruhe einmal mit Sophie darüber reden, wie es ihr in den letzten Tagen ergangen war. Aber wann hatten sie diese Ruhe, und vor allem, würde Sophie ihr zuhören und dann auch noch glauben?

Resigniert machte sie sich an ihre Arbeit, doch mit der Konzentration war es nicht weiter her als an den letzten Tagen. Die Texte perlten an ihr ab, sodass sie jede Seite mehrmals lesen musste, ohne danach brauchbare Änderungs- oder Streichungsvorschläge machen zu können. Dabei war ihre Arbeit das, was ihr noch am meisten Halt bot, weil sich daran nichts geändert hatte. Nur alles andere …

In Gedanken rekapitulierte sie. Was hatte sie bis jetzt von dem Gewinn gehabt? Ein Paar schöne Schuhe, die sie nicht anzuziehen wagte, weil jedem, zumindest jeder Frau, auffallen musste, dass sie wesentlich teurer waren als die Schuhe, die sie gewöhnlich trug. Das allein hatte schon genügt, um Gerüchte über ihren Kaufrausch in Umlauf zu setzen. Nun würde man natürlich genau darauf achten, was sie in Zukunft trug. Weitere Folgen des Gewinns waren: schlaflose Nächte, ein Mann, der sich nur mehr für kostspielige Konsumwünsche interessierte, ein verprügeltes Kind, miserable Arbeitsleistung, schlaflose Nächte und eine Freundin weniger. Ach ja, eins hatte sie auf der Haben-Seite vergessen: Das Klo war repariert worden. Wenigstens was.

„Kommst du bitte einmal zu mir ins Büro?“ Martins Miene war ernst. Was war jetzt schon wieder los? Sie setzte sich in den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch. „Alexandra, zum einen: Du wirkst in den letzten Tagen sehr unkonzentriert. Wenn man dich anspricht, weichst du aus, du flatterst hektisch herum. Ist dir das nicht selbst aufgefallen?“ Alexandra nickte. Ihr kamen schon wieder die Tränen. „Könnte das alles mit eurem Lottogewinn zu tun haben?“ Martin faltete die Hände über seinen aufgestützten Ellbogen ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin. Wieder nickte sie, die Tränen begannen zu fließen. „Ich halt es nicht mehr aus!“, hauchte sie. Und dann erzählte sie, ohne dass Martin sie unterbrach, was in den letzten paar Tagen alles schiefgelaufen war. Sie ließ nichts aus, und Martin unterbrach sie nicht. Seine Miene blieb ernst.

„Eigentlich wollte ich dir ja gratulieren, jetzt, wo ich weiß, dass ihr mehr gewonnen habt als bloß eine Gewürzmühle“, sagte er schließlich. „Aber es hört sich nicht so an, als ob du dafür empfänglich wärst.“ Alexandra wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Martin reichte ihr ein Taschentuch. „Danke. Aber warum hast du mich eigentlich hergeholt?“ Er seufzte. „Erstens müssen wir reinen Tisch machen. Du musst mich und alle anderen Mitarbeiter korrekt informieren, allein schon, damit die Gerüchte aufhören zu blühen.“ „Aber die Beraterin hat gemeint, ich solle das nicht tun!“, wehrte sich Alexandra. Martin zuckte mit den Schultern. „Ich halte das für das Betriebsklima für unerlässlich. Außerdem könnte ich verstehen, wenn du angesichts der Umstände eine gewisse Auszeit …“ Das Wort war noch nicht verklungen, als Alexandra aufsprang. „Du willst mir meinen Job wegnehmen? Weil ich jetzt Geld habe?“ Sie sank wieder auf den Stuhl und begann, diesmal hemmungslos, zu schluchzen. „Die Arbeit ist das Einzige, was mich noch aufrecht hält! Das, was noch normal ist in meinem Leben! Und jetzt ziehst du mir den Boden unter den Füßen weg. Du und Sophie! Dabei hab ich doch nur versucht, alles richtig zu machen!“

Heulend floh sie aus Martins Büro, schnappte ihre Handtasche, ohne zu Sophie aufzusehen, und stürmte hinaus. „Alex!“, schrie ihr Sophie noch hinterher. Aber sie konnte jetzt nicht umkehren, jetzt nicht.

Die Einsamkeit des Bösen

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