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Sie wurde von einem Knall wach. Knall? Sie schrak hoch, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Durch die Vorhänge drang gedämpft das Sonnenlicht des frühen Morgens. Anton saß ihr gegenüber. Im Anzug? Und er hatte gerade eine Sektflasche geöffnet? Was war los? Hatte sie Geburtstag? Hochzeitstag? „Champagner!“, rief Anton, stand auf und näherte sich ihr. Er stand auf wackeligen Füßen und schwankte. Hatte er etwa die Nacht durchgezecht? Bei einem Kundentermin? Sie ließ sich zurück aufs Bett sinken. „Wie spät ist es? Was willst du?“

„Hoch mit dir!“ Er griff unter ihren Rücken und versuchte sie hochzuschieben. Gleichzeitig setzte er ihr die Champagnerflasche an die Lippen. Weder zielte er gut, noch war sie bereit zu trinken. Der Champagner floss ihr über das Kinn, rann zwischen ihren Brüsten hinab. „Was ist denn mit dir los?“ Ärger kam hoch. Sie wollte schlafen. Ihr Tag würde anstrengend werden, seiner anscheinend nicht. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? „Verschwinde!“, zischte sie. „Und schlaf deinen Rausch in deinem Arbeitszimmer aus!“

„Heute wird nicht gearbeitet, mein Schatz! Heute wird gefeiert!“ Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Sie ließ sich auf ihr Polster zurücksinken. „Weck wenigstens die Kinder nicht auf!“ Ihr Nachthemd war völlig durchnässt. Sie fror. Hoffentlich würde er sich bald beruhigen und das Licht wieder ausschalten.

„Was feierst du eigentlich?“ „Ich hatte schon gedacht, du fragst nie!“ Die Flasche in der einen Hand haltend, tanzte Anton durchs Zimmer, in einem etwas wackeligen Sirtaki-Schritt. Dabei zählte er. „Eins, zwei, drei und vier und fünf und sechs, sieben!“ Alexandra beobachtete ihn stirnrunzelnd. Drehte er durch, oder gab es wirklich etwas zu feiern? Er hielt bei 24 inne. „24 Millionen!“, hauchte er. „24 Millionen Euro! Ich habe 24 Millionen Euro gewonnen! Wir haben gewonnen! Bei den Euromillionen! 24 Millionen Euro!“ Er kniete am Bettrand nieder, zog die Decke von ihren Füßen und nahm die kleine Zehe zwischen zwei Finger. „Eine Million für die Zehe“, rief er, „und eine Million für die nächste!“ „Lass das!“, stöhnte Alexandra. Wer konnte wissen, was er sich in seinem Suff zusammenphantasierte. 24 Millionen gewann man nicht einfach so.

„Du spinnst ja. Lass mich schlafen. Und geh auf das Sofa in dein Arbeitszimmer, ich bin müde.“ Sie drehte sich zur Seite und zog die Decke über den Kopf. 24 Millionen. Was für ein Unsinn. Sie hasste seine dummen Scherze.

„Nein, Schatz, es ist wahr!“ Die Decke wurde ihr weggezogen. „Fünf Zahlen – zwei Sterne!“ Er zog einen ausgedruckten Beleg aus der Innentasche seines Sakkos und entfaltete ihn. „Fünf Zahlen – zwei Sterne! Jackpot! 24 Millionen!“ Er reichte ihr den Beleg, nahm einen weiteren Schluck und tanzte neuerlich durchs Zimmer. Sie besah sich, nun doch neugierig geworden, den Zettel. Es war tatsächlich ein Lotterie-Beleg. Sie wusste zwar, dass Anton regelmäßig Geld in diese Form des Glücksspiels investierte, hatte sich aber kein einziges Mal eine Ziehung mit ihm angesehen. Sie hatte für Lotto und dergleichen nichts übrig, sie hielt das für eine schlechte Angewohnheit der Unterschicht, die ihr mageres Einkommen weiter beschnitt, indem sie es hoffnungslosem Glücksspiel in den Rachen warf. Anton aber hatte ihr immer wieder vorgeschwärmt, was man mit einer Million alles machen könnte. Und dabei hatte er immer von einer, genau einer Million gesprochen. Jetzt sollte er 24 Millionen gewonnen haben? Wahrscheinlich hatte sich Anton getäuscht, er war wohl schon während der Ziehung angetrunken gewesen. Niemand gewann 24 Millionen Euro, schon gar nicht mit einem einzigen Schein. Wahrscheinlich waren es 24.000 oder so.

Sie zog einen Bademantel über und setzte sich vor ihren Laptop. Die Gewinnzahlen konnte man mit Sicherheit im Internet nachlesen. Wenige Minuten später hatte sie die gewünschte Antwort. Die Zahlen, die gezogen worden waren, stimmten mit einer der Zahlenreihen auf ihrem Beleg überein. Anton hatte die entsprechende Kolonne mit Textmarker gekennzeichnet. Aber von einer Gewinnsumme stand da nichts.

Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. „Die Zahlen stimmen. Aber da steht keine Gewinnsumme.“ Sie runzelte die Stirn. „Ein Anruf! Ich hab einen Anruf bekommen! Und natürlich die ganze Nacht kein Auge zugemacht! 24 Millionen!“

Alexandra war verwirrt. Was war in einer derartigen Situation zu tun? Hinlegen und schlafen, am besten, aber ob sie jetzt noch einschlafen konnte? 24 Millionen? Was machte man mit 24 Millionen? Wenn es denn stimmte. Anton hatte etwas von einem Anruf gesagt. Er konnte auch auf einen Scherz hereingefallen sein. Anton war inzwischen samt Anzug neben ihr in das Bett gesunken und hatte zu singen aufgehört. Sie schaltete das Licht ab. Vorläufig, so sagte sie sich, würde alles weitergehen wie bisher. Vor allem, solange alles derartig ungewiss war. Sie würde morgen natürlich pünktlich im Büro erscheinen, sie wollte keinesfalls als unzuverlässige Mitarbeiterin dastehen, die wegen ein bisschen Geld gleich den Kopf verlor. Ebenso würden die Kinder in die Schule gehen, die sollten vorläufig am besten überhaupt nichts von dem Gewinn erfahren.

Anton lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Anscheinend war er soeben eingeschlafen. Leises Schnarchen verriet ihr, dass er auch nicht so schnell wieder aufwachen würde. Die Champagnerflasche hatte er nicht losgelassen, sie hing an seinem Arm über den Bettrand. Alexandra löste sie aus seinen Fingern. Es musste nicht auch noch der Boden überschwemmt werden, wenn er losließ. Sie besah die Flasche. Etwa ein Viertel war noch drinnen. Schnell nahm sie einen Schluck, stellte die Flasche beiseite und sah auf die Uhr. Viel Zeit blieb nicht mehr, bis der Wecker läutete, sie brauchte sich erst gar nicht bemühen, noch einmal einzuschlafen, legte sich wieder neben Anton und wartete, bis sie die Kinder wecken musste.

Erst als sich Max beschwerte, dass der Kakao zu wenig süß war, wurde ihr bewusst, dass sie das Frühstück der Kinder völlig in Gedanken versunken zubereitet hatte. Was war als Nächstes zu tun? Jausenbrote herrichten. Wie viele Jausenbrote konnte man für 24 Millionen Euro kaufen? Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken. Millionen hin oder her, rief sie sich zur Ordnung. Die Kinder mussten zur Schule, und die Jausenbrote mussten in die Schultaschen.

„Wo ist denn Papa?“ Annika rümpfte misstrauisch die Nase. „Er …“ Alexandra zögerte. „Er hat in der Nacht lange gearbeitet. Er geht heute später ins Büro.“ „Und wer bringt mich dann …“ Max begann bereits, ein weinerliches Gesicht zu ziehen. So weit war es also schon gekommen – wenn er fünf Minuten zu Fuß gehen sollte, fühlte er sich bereits zurückgesetzt und glaubte, wenn er ein bisschen Theater machte, würden automatisch seine Ansprüche erfüllt. „Du gehst heute zu Fuß. Und wenn dir das nicht passt, kannst du gerne Papa aufwecken. Der wird eine Riesenfreude haben!“ Das war jetzt etwas zu scharf gekommen. Max’ Mundwinkel zuckten, wanderten nach unten, und er begann bereits, in Vorbereitung eines Heulkonzerts, Rotz aufzuziehen. Schnell setzte sich Alexandra neben ihn, hielt ihm ein Taschentuch unter die Nase und strich ihm übers Haar. „Schau, Max. Die fünf Minuten zu Fuß, das tut dir gut! Heute ist schönes Wetter, und ein bisschen Bewegung vor der Schule, das macht dich munter!“ Max schniefte immer noch. Es ging wohl nicht um den kurzen Fußweg, sondern einfach darum, dass er seine Ansprüche durchsetzen wollte. Alexandra seufzte. Dieses Problem konnte man jedenfalls nicht mit Geld lösen, im Gegensatz zu einer kaputten Dachrinne, zum Beispiel. Wenn der Kleine mitbekam, dass sie nun reich waren, viel zu reich, was für Ansprüche würde er dann wohl erheben? Sie stellte ernüchtert fest, dass sie jetzt zumindest eine Sorge mehr hatte. Ob es auf der anderen Seite vielleicht eine Sorge weniger werden würde, war abzuwarten.

Als die Kinder endlich weg waren, hatte sie sich natürlich um jeweils einen Euro für eine Süßigkeit erpressen lassen, damit endlich Schluss mit dem Geraunze war. Sollte sie Anton jetzt wecken oder ihn einfach in Ruhe seinen Rausch ausschlafen lassen? Sie entschied sich für einen Mittelweg, ging ins Schlafzimmer und suchte sich eine Bluse, einen Rock und frische Unterwäsche aus dem Kasten, ohne besonders darauf zu achten, leise zu sein. An Antons gleichmäßigen Atemzügen hörte sie jedoch, dass er tief schlief. Sollte sie ihn zudecken? Nein. So würde er wenigstens irgendwann zu frieren beginnen und wieder aufwachen.

Sie legte vor dem Badezimmerspiegel eine Halskette um, die, so erinnerte sie sich, weniger als 50 Euro gekostet hatte, und ertappte sich bei dem wohligen Gedanken an den echten, wertvollen Schmuck, den sie nun kaufen würde können. Zunichte allerdings wurde der wohlige Gedanke bei der Vorstellung, von ihren Kolleginnen im Verlag wegen der teuren Neuanschaffungen argwöhnisch gemustert zu werden.

Sie seufzte, als Antons Handy läutete. Sie fand es in seiner Sakkotasche auf dem Boden des Schlafzimmers, ohne dass Anton aufgewacht wäre. Es war Mirko, ein Kollege aus seinem Büro. „Du, Alexandra? Was ist mit Anton? Wir hätten einen Termin zusammen, in einer Stunde. Wir müssten jetzt gleich wegfahren!“ Mirko klang ungeduldig. Er war nicht nur Antons bester Freund und Kollege, auch als Paar verstanden sie sich gut mit ihm, sie alle kannten sich seit ihrer Studienzeit. Oft waren sie zu viert ausgegangen – sie mit Anton, Mirko mit einer seiner häufig wechselnden Bekanntschaften. Die hatten meist glamourös, aber gelangweilt gewirkt. Manchmal hatte ihr Mirko während dieser Zusammenkünfte Blicke zugeworfen, die ihr verrieten, dass er an ihr mehr als nur oberflächlich interessiert war.

Alexandra verließ das Schlafzimmer und antwortete leise: „Es geht ihm nicht gut. Er wird wohl heute nicht ins Büro kommen, zumindest am Vormittag nicht.“ „Kannst du ihn mir geben?“ Alexandra zögerte. Sie wollte nicht verraten, dass Anton betrunken eingeschlafen war. „Er hat irgendwas eingenommen und schläft jetzt.“ Mirko seufzte. „Richt ihm bitte wenigstens aus, dass er sich sofort melden soll, wenn er wach wird. Es wäre dringend.“ „Okay, mach ich!“ Sie legte auf, stellte den Klingelton lauter und deponierte das Handy auf Antons Nachttisch. Beim nächsten Klingeln würde er selber drangehen müssen.

Ein neues Rad, das wäre schon etwas. Alexandra fuhr gerne Rad, wann immer sie Gelegenheit dazu fand. Ein Rad fürs Büro, eines für die Straße und eines für das Gelände. Momentan erledigte sie alles mit demselben nicht ganz taufrischen Mountainbike. Wie viele Räder konnte man für 24 Millionen kaufen? Sie überschlug im Kopf die Zahlen, während sie in einer leichten Brise am Fluss entlangradelte. Sie kam zu dem Schluss, dass es selbst bei teuren Geräten für 12.000 oder mehr Räder reichen würde. 12.000 Räder, das konnte man sich nicht einmal vorstellen. Ob 12.000 Räder auf einem Fußballfeld Platz hatten?

„Hallo, Alexandra!“ Sophie saß schon auf ihrem Platz und lächelte ihr zu. „Wie geht’s?“ „Ja, äh …“ Nicht einmal darauf fiel ihr heute spontan eine passende Antwort ein. „Super, eigentlich!“ Das konnte nicht überzeugend geklungen haben. Sophie zog die Augenbrauen hoch. „Ist was?“ Sie hatte ein Gespür dafür, wenn etwas anders war als sonst, das hatte sie schon mehrfach bewiesen. Alexandra bemühte sich um eine möglichst glaubwürdige Ausrede. „Die Mama, du weißt ja. Sie ist wieder …“ „Oh Gott!“ Sophie nickte verständnisvoll und drang nicht weiter in sie. Oft genug hatten sie sich schon über die labile Psyche von Alexandras Mutter unterhalten. Sie verfiel immer wieder in tiefe Depressionen, musste manchmal Tage oder sogar Wochen in einer psychiatrischen Klinik verbringen und meist starke Medikamente einnehmen. Sophie hatte sicher Verständnis dafür, dass sie jetzt, am Beginn eines Arbeitstages, nicht darüber sprechen wollte. Dabei ging es ihrer Mutter in Wirklichkeit seit drei, vier Monaten überraschend gut.

Großartig war das, dachte Alexandra bei sich. Sie war jetzt zwar reich, dafür aber musste sie gleich in der Früh ihre Freundin hinters Licht führen. Ganz zu schweigen von den Kindern, denen hatte sie nämlich auch ein Märchen aufgetischt – die angebliche Nachtarbeit von Anton. Würde sie jetzt zur notorischen Lügnerin werden, nur um einen Millionengewinn geheim zu halten? Sie dachte an Sophies Eigentumswohnung. Sie konnte deren Schulden mit ein paar Mausklicks begleichen, sobald das Geld auf dem Konto eingegangen war. Sollte sie das tun, konnte man so etwas tun? Würde sich Sophie darüber überhaupt freuen?

Nach einer Stunde merkte sie, dass ihre Arbeit am Manuskript oberflächlich und unkonzentriert gewesen war. Am besten, sie fing noch einmal dort an, wo sie gestern aufgehört hatte. Ihre Leistung, so entschied sie, durfte keinesfalls unter dem Lottogewinn leiden. Obwohl, eigentlich hatte sie es jetzt gar nicht mehr nötig zu arbeiten, überlegte sie. Ob es nicht auch Spaß machen würde, den Tag mit Shoppen und im Kaffeehaus zu verbringen? Sie schob den Gedanken beiseite.

Der Vormittag verlief mühsam, die Konzentration auf ihre Arbeit fiel ihr weiterhin schwer. Sie überlegte schon, ob sie sich nachmittags freinehmen sollte, als ihr Handy summte. Anton. War er doch noch einmal aufgewacht. „Willst du nicht mit mir feiern? Wir müssen doch feiern!“, rief er so laut ins Telefon, dass Alexandra das Gerät unwillkürlich etwas von ihrem Ohr entfernte. Sophie hob interessiert den Kopf. Sie musste mitbekommen haben, was Anton gesagt hatte. Alexandra aber war nicht nach Feiern, eine ihr sonst kaum bekannte Beklemmung hatte sich um ihre Brust gelegt. Sie konnte sich nicht freuen, oder zumindest noch nicht. Sie seufzte und antwortete leise: „Ich frage, ob ich nachmittags freibekomme.“ Es musste ja nicht die gesamte Belegschaft darüber informiert werden, worüber sie redeten.

Anton jedoch dachte gar nicht daran, seine Stimme zu dämpfen. „Was heißt fragen? Du brauchst nie mehr jemanden zu fragen, du kannst tun, was du willst!“ Er hatte sicher recht, so konnte man ihre Situation natürlich auch sehen, aber es gelang ihr eben im Moment nicht, so geradlinig wie er zu denken. Anton hatte anscheinend schon wieder getrunken, man konnte es an seinem undeutlichen Sprechen hören.

„Was will er denn feiern?“ Sophie war, natürlich, hellhörig geworden. Laut genug war Anton ja gewesen, sie hatte gar keine Möglichkeit gehabt, etwas zu überhören. Alexandra entschloss sich spontan, das Lügen sein zu lassen. Sie würde es ohnehin nicht durchhalten können. „Er hat Geld gewonnen, in einer Lotterie. Ich weiß nicht, wie viel.“ Schon wieder eine Lüge. „Na ja“, lächelte Sophie. „Viel wird’s nicht gewesen sein. Das wär ja mehr als unwahrscheinlich. Ist wenigstens ein neues Rad für dich drin?“ Alexandra nickte schuldbewusst und hoffte, dass sie nicht rot geworden war. Es würde mühsam werden, dachte Alexandra, Sophie zu erklären, warum sie nicht gleich mit der Wahrheit herausgerückt war. Und wenn sie Sophie Geld gab, musste sie dann nicht auch den anderen Kolleginnen … Am Ende war es doch das Beste, sich nachmittags freizunehmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. „Ja, ich werde mich bemühen. Gehen wir irgendwohin essen. Reservier was. Ich kümmere mich.“ Sie legte auf.

„Lieber wäre mir, das Manuskript endlich zu Ende zu bringen. Was ich jetzt nicht schaffe, muss ich dann am Abend machen.“ Alexandra schüttelte den Kopf. „Mach dir keinen Stress!“, beruhigte Sophie. „Es wird schon werden. Ich wär froh, wenn ich einen Mann hätte, der mal spontan feiern will!“ Alexandra runzelte die Stirn. „Ist was mit Leo?“ Sophie winkte ab. „Nein, nein! Nur, du weißt ja, er muss immer alles mindestens drei Monate im Voraus planen. Und Essenszeiten müssen eingehalten werden und so …“ Sie ließ ihren Satz ausklingen. Alexandra wusste, dass Sophies Freund ein wenig zur Pedanterie neigte und eigentlich zu konservativ für Sophie war. Dazu kam, dass er religiös war, sie aber mit einem Kirchenaustritt liebäugelte. Vielleicht hatte sie es mit Anton doch ganz gut erwischt. Wenn er sich auch im Moment ein wenig kindisch aufführte.

Ihr Handy läutete wieder. Der Installateur. „Frau Heidegger …“ Seine Stimme hatte einen klagenden Unterton. Er würde auch heute den Rohrbruch nicht reparieren. Doch diesmal hatte Alexandra genug. „Wissen Sie was, Herr Hofmann? Wir planen eine umfangreiche Renovierung unseres Hauses, wir haben uns endlich dazu durchgerungen. Neue Bäder, Heizung, alles. Und wenn Sie auch nur den Funken einer Chance haben wollen, diesen Auftrag zu bekommen, dann ist die Reparatur heute Abend erledigt!“ Sie drückte die rote Taste. Für etwas musste das viele Geld doch gut sein. Das mit der Renovierung war ihr ganz spontan eingefallen. Aber es war auch irgendwie naheliegend: Wann, wenn nicht jetzt, sollten sie das Haus gründlich renovieren? Sie hatten jahrelang schon darüber geredet und auch dafür gespart, jetzt war das alles kein Problem mehr.

„Martin, könntest du mir heute Nachmittag freigeben? Mein Mann hat gerade angerufen … Er hat einen …“ Sie überlegte, wie sie die Neuigkeit am besten formulieren sollte. „Einen Gewinn hat er gemacht, und er möchte mit mir ein bisschen feiern. Ich mach dann das Manuskript heute Abend fertig.“ Martin runzelte die Stirn, nickte aber. „Ich kann mich darauf verlassen? Was hat er denn gewonnen? Ein Kochbuch vielleicht? Oder eine Gewürzmühle?“ Das war ein Scherz, den nur Insider verstehen konnten – ein bekannter Koch, der auch in ihrem Verlag ein Kochbuch herausgebracht hatte, moderierte jetzt eine Quizshow, und als Preis für die richtige Antwort konnte man dort eine Gewürzmühle gewinnen. Oder eben das Kochbuch. Alexandra lächelte. „Hoffentlich!“ Sie ließ im Unklaren, worauf sie hoffte.

Auf dem Weg zum Restaurant gingen ihr so viele Gedanken durch den Kopf, dass sie einmal eine rote Ampel überfuhr und schließlich abstieg und das Rad schob, um sich nicht selbst zu gefährden. Wie sie den Gewinn ihrer Familie beibringen konnte? Ihre Mutter, so vermutete sie, würde es nicht wichtig nehmen, sie hatte keine Bedürfnisse, die mit Geld befriedigt werden konnten. Sie bezweifelte, ob sie überhaupt aus ihrer kleinen, etwas schäbigen Wohnung ausziehen würde, wenn sie ihr etwas viel Schöneres in Aussicht stellen konnte. Mutter lebte in einer spartanisch eingerichteten Zweizimmerwohnung, die auf Alexandra so kalt wirkte, dass sie es nie lange dort aushielt. Neue Möbel, eine schöne Aussicht oder überhaupt eine Gestaltung ihrer Umgebung interessierten ihre Mutter nicht. Oder nicht mehr. Wichtig war ihr, dass alles blieb, wie es immer gewesen war. Und das war schwierig genug, wenn man ihre gesundheitliche Situation nüchtern betrachtete.

Zu ihrem Bruder Walter hatte sie vor Jahren schon den Kontakt verloren. Er hatte die Familie früh verlassen, war unstet herumgezogen. Von einer Berufsausbildung oder einem Arbeitsplatz wusste Alexandra nichts. Auch nicht von einer Familie. Kaum hatte sie eine Adresse oder eine Telefonnummer von ihm, war sie auch schon nicht mehr aktuell. Nicht einmal über das Internet und soziale Netzwerke war es ihr in den letzten Jahren gelungen, mit Walter Kontakt aufzunehmen. Was aber, wenn er erfuhr, dass sie nun reich war? Walter war der Typ Mensch, der von Geld angezogen wurde wie die Motten vom Licht. Leider hatte er sich dabei schon mehr als einmal die Finger gründlich verbrannt.

Tobi würde etwas Geld dringend brauchen können. Er arbeitete in einer Einrichtung, die psychisch Kranke betreute, jedoch nur als Teilzeitkraft, mehr traute er sich nicht zu. Für Alexandra war es nur eine Frage der Zeit, bis er in seiner Einrichtung auf die Seite der Klienten wechselte, er klagte sowohl über Leistungsdruck während der Arbeit als auch über Einsamkeit in seiner Freizeit. Er hatte sich selbst aufgegeben, ließ sich hängen und litt – ähnlich wie ihre Mutter – gelegentlich unter Depressionen. Sie fragte sich, ob ihrer Familie mit Geld wirklich zu helfen war. Sie war bisher schon die Einzige gewesen, die es zu einem einigermaßen stabilen Familienleben mit einem ausreichenden Einkommen gebracht hatte, und sie war auch die Einzige mit einer guten Ausbildung. Das Geld, so sagte sie sich, bedeutete jetzt auch mehr Verantwortung ihrer Familie gegenüber.

Das Mittagessen verlief unharmonisch. Anton war überdreht, zu laut, lobte das Menü in den höchsten Tönen und trank zu viel Alkohol. Was Alexandra besonders missfiel, war, dass er möglichst teuren Wein und Champagner bestellte. Guter Wein war ihr zwar wichtig, doch im Restaurant achtete sie darauf, eine eher bescheidene Auswahl zu treffen, damit der Geschmack nicht den der Speisen übertönte oder zunichtemachte. Sie hasste angeberische Trinker, die allein durch die Wahl der Weine ihren Status darstellen mussten. Darüber war mit Anton zu reden, und zwar bald. Es konnte nicht angehen, dass er zum protzigen Angeber mutierte. Sie hing so sehr ihren Gedanken nach, dass sie das gute Essen kaum wahrnahm und gedankenlos in sich hineinschaufelte.

„Wir müssen auch mit den Kindern reden“, warf sie ein, als das Dessert serviert wurde. Natürlich musste Anton dazu einen sündteuren Süßwein serviert bekommen. „Haben Sie einen Sauternes?“, fragte er die Kellnerin, die seinen Heiterkeitsausbrüchen amüsiert lächelnd standgehalten hatte. „Natürlich, der Herr!“ Wahrscheinlich hoffte sie auf ein üppiges Trinkgeld. Ein ebenso üppiges, wie ihr Dekolleté war, dachte Alexandra gehässig. „Für dich auch, Schatz?“ Sie schüttelte den Kopf. Merkte er nicht, dass sie überhaupt nicht in der richtigen Stimmung für ein ausgelassenes Gourmetmenü war?

„Was sagen wir den Kindern?“, wiederholte sie, als sie merkte, dass Anton ihre Frage entweder ignoriert oder überhört hatte. Er wedelte mit der Dessertgabel in der Luft herum. „Du machst dir über alles viel zu viele Gedanken, Schätzchen!“ Außerdem sprach er zu laut, fand sie. „Kommt Zeit, kommt Rat! Sie werden sicher nicht schwer leiden müssen, wegen dem … du weißt schon!“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, ohne zu merken, dass sie immer schweigsamer wurde.

Er ging ihr auf die Nerven. Kein ernstes Wort war seit heute früh mit ihm zu wechseln gewesen, er merkte nicht, wie es ihr ging, und schien ihre Sorgen nicht zu verstehen. Von seinem trockenen Humor war heute nichts zu merken. Sie nahm einen Löffel Zitronensorbet und zerdrückte es zwischen Zunge und Gaumen. Morgen. Morgen würde man wieder vernünftig mit ihm reden können. Es musste ja auch ihm klar sein, dass diese gewaltige Summe eine unglaubliche Verantwortung bedeutete. „Und den alten Kasten, den verkaufen wir! Ich bau uns ein neues Haus, in der besten Lage, und bis es fertig ist, mieten wir uns ein Penthouse!“ Sie verzichtete auf eine Entgegnung und dachte an Herrn Hofmann, der hoffentlich schon in ihrer Toilette an der Arbeit war.

Die Einsamkeit des Bösen

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