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Fahre in die Welt hinaus. Sie ist fantastischer als jeder Traum. Ray Bradbury

Kapitel 1: Erste Reisen und frühe Träume

1.1 Wien und Salzburg in der Nachkriegszeit

Ich wuchs im Österreich der Nachkriegsjahre auf. Als meine Mutter kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Lager in Bayern starb, war ich eineinhalb Jahre alt. Mütter mit kleinen Kindern waren von Wien nach Bayern gebracht worden, um den Bombardierungen der Alliierten zu entgehen. Unser Vater sah sich nicht in der Lage, meine vierjährige Schwester Ilse und mich zu versorgen. Ilse kam nach Wien in die Obhut von Tante Hanna, der Schwester unseres Vaters. Ich wurde von Onkel Erich, dem Halbbruder unserer Mutter, und dessen Frau, Tante Friedl, die in Salzburg lebten, aufgenommen. Dort verbrachte ich meine frühe Kindheit und die Volksschulzeit. Als ich zehn Jahre alt war, hatte sich die Situation unseres Vaters so weit verbessert, dass er uns zu sich nehmen konnte. Ilse und ich zogen in seine Wohnung im dritten Wiener Gemeindebezirk. Zwei Jahre danach starb er völlig unerwartet. Ilse kam wieder zu ihrer Wiener Tante Hanna, und ich kehrte nach Salzburg zu Tante Friedl und Onkel Erich zurück.

Die Nachkriegsjahre in Österreich waren eine entbehrungsreiche Zeit. Das Land hatte zwar 1955 seine Unabhängigkeit wiedererlangt, aber die Wirtschaft befand sich in einem schlechten Zustand. Meine Zieheltern verfügten über genügend Mittel für die Notwendigkeiten des Lebens. Ich bekam gut zu essen und wurde gut gekleidet. Tante Friedl verstand es, Kleider selber anzufertigen, und sie war eine ausgezeichnete Köchin. Wir lebten in einer Mietwohnung, die sich in einem Haus befand, das im 17. Jahrhundert erbaut worden war und dereinst zum Besitz der Salzburger Erzbischöfe gehört hatte. Sie war geräumig und lag in einer schönen Gegend im Nonntal.

Obwohl es uns so betrachtet gut ging, hatten wir kein Geld für Dinge, die nicht unbedingt notwendig waren. Meine Zieheltern hätten gerne ein Auto gekauft, aber sie konnten sich keines leisten. Auch träumten sie davon, ein eigenes Haus zu bauen. Onkel Erich verbrachte viele Abende damit, Pläne dieses Traumhauses zu entwerfen. Es sollte niemals Wirklichkeit werden.

Die Sommerferien verbrachten wir nicht weit von zu Hause entweder in den Bergen oder an einem See. Salzburg ist mit einer herrlichen Umgebung gesegnet. Die Stadt liegt nahe der Alpen und der Seen des Salzkammerguts. Mein Onkel war ein leidenschaftlicher Bergsteiger, meine Tante zog es zu den Seen. Ihr Lieblingssee war der Wallersee, zu dem man mit dem Bus in einer halben Stunde gelangte.

Eine meiner ersten Reiseerinnerungen ist eine Bahnfahrt von Salzburg nach dem dreißig Kilometer entfernten Werfen, von wo wir mit einem von einem Maultier gezogenen Karren abgeholt und zum Mordegg, einem Alpenhotel im mächtigen Tennengebirge, transportiert wurden. Noch immer erinnere ich mich an die würzige Alpenluft und den phantastischen Blick auf die Berge des Steinernen Meers und an die fetten Kühe, die vor dem Hotel auf der Wiese grasten.

Eine andere frühe Erinnerung habe ich an eine Reise nach Bad Gastein, wo ich einige Wochen mit meiner Wiener Tante Hanna und meiner Schwester verbrachte. Ein Fiaker führte uns vom Bahnhof zum Hotel. Ich hatte ein kleines Windrad, das mir auf die Straße fiel, woraufhin ich ein so fürchterliches Geschrei erhob, dass der Kutscher anhalten musste, so dass meine Tante das Windrad retten konnte. Ich erinnere mich an das Hotelzimmer mit blauen Wänden und an das entfernte Pfeifen einer Dampflokomotive. Und dann war da noch ein Sessellift. Tante Hanna nahm mich auf den Schoß, und ich fand es ungeheuer aufregend, die Wiesen und Bäume weit unter mir zu sehen, während wir aufwärts schwebten.

Mehrere Male fuhr ich in Begleitung einer erwachsenen Person von Salzburg nach Wien, um Tante Hanna, Ilse und meinen Vater zu besuchen. Österreich war damals noch von den siegreichen Alliierten besetzt und in vier Zonen geteilt: eine französische, eine britische, eine amerikanische und eine russische. Salzburg war amerikanisch, der Osten Österreichs jenseits der Enns stand unter russischer Kontolle. Wien lag mitten in der russischen Zone und war, genauso wie Berlin, in vier Sektoren unterteilt. Wenn der Zug aus Salzburg die Stadt Enns erreichte, hielt er an, und russische Soldaten kontrollierten die Dokumente der Passagiere. Bis heute ist mir die Atmosphäre von Angst in Erinnerung, die sich im Zugsabteil ausbreitete, wenn die Russen den Zug bestiegen. Es war, als ob die Leute fürchteten, aus dem Zug herausgeholt zu werden und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Soviel ich weiß, ist das nie passiert. Die meisten russischen Soldaten waren freundlich und schienen Kinder besonders gern zu sehen.

Die Wohnung meines Vaters lag im britischen, die von Tante Hanna im amerikanischen Sektor. Man konnte problemlos von einem Sektor in einen anderen gelangen. Gegenüber Tante Hannas Wohnung in der Siebensterngasse befand sich das Kosmoskino, das von amerikanischen Soldaten und deren Wiener Freundinnen frequentiert wurde. Man konnte dort die neuesten Hollywoodfilme im Original sehen.

Wenn man der Siebensterngasse in Richtung Stadtzentrum folgte, kam man bei einer aufgelassenen Turnhalle vorbei. Sie hatte im Juli 1934 eine historische Rolle gespielt. In ihr traf sich eine Gruppe von Nazis, bevor sie zum Ballhausplatz weiterzog und den Kanzler Engelbert Dollfuß ermordete. Der Putsch wurde niedergeschlagen, und es dauerte noch weitere vier Jahre, bis das Land den deutschen Invasoren zum Opfer fiel. Als die Nazis im Jahr 1938 an die Macht kamen, benannten sie die Siebensterngasse in Straße der Julikämpfer um, im Andenken an die Attentäter, die nun als Helden der ersten Stunde verehrt wurden. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ erhielt die Straße ihren alten Namen zurück. Setzt man den Weg von der Turnhalle weiter fort, gelangt man zur Ringstraße, dem eindruckvollen städtebaulichen Monument aus der Zeit des Kaisers Franz Josef I, und weiter in das Zentrum und in die Vergangenheit der Stadt: zu den Gartenanlagen des 19. Jahrhunderts und den barocken Gebäuden, dem mittelalterlichen Dom und den Überresten der Römerzeit. Zwischen der Ringstraße und dem Stadtkern liegt der imposante Heldenplatz mit den Statuen der Feldherrn Eugen von Savoyen und Erzherzog Karl. Auf dem Balkon der Hofburg, von dem aus man den Platz überblickt, stand am 15. März 1938 Adolf Hitler und proklamierte vor einer fanatisch jubelnden Menge die „Heimkehr Österreichs ins Reich“.

Ein kurzer Spaziergang von etwa drei oder vier Kilometern führt durch viele Schichten österreichischer und europäischer Vergangenheit. Sehr früh wurde mir bewusst, dass Reisen eng verbunden ist mit der Erfahrung verschiedener Lebensformen, politischer Situationen und historischer Erinnerungen.

Tante Hanna besaß ein Wochenendhaus in Essling, in einem östlichen Wiener Außenberzirk, der im russischen Sektor lag. Die Fahrt von der Siebensterngasse nach Essling war eine Odyssee. Zuerst nahmen wir die Straßenbahn Nr. 49 bis zur Bellaria an der Ringstraße. Von dort ging es weiter mit der Tramway T (dem „T-Wagen“) in den dritten Bezirk, wo mein Vater wohnte. Dort mussten wir in die Nr. 25 umsteigen, die uns zum Prater, Wiens legendärem Funpark, brachte. Wieder mussten wir in eine andere Straßenbahn umsteigen, ich habe vergessen, welche Nummer sie hatte. Wir fuhren durch Aspern, in dessen Mitte die Statue eines Löwen zu sehen ist. Er erinnert an die Schlacht von Aspern im Jahr 1809, in der Napoleon den Nimbus der Unbesiegbarkeit verlor, als er sich vor den Truppen des Erzherzogs Karl zurückziehen musste. Noch heute findet man in den nach der Donauregulierung verbliebenen Auwäldern viele Überreste dieser Schlacht, die grauenhaft gewesen sein muss. Nachdem wir aus der Straßenbahn ausgestiegen waren, mussten wir zu Fuß ein russisches Flugfeld überqueren, um in die Siedlung zu gelangen, in der das Wochenendhaus lag. Die startenden und landenden Flugzeuge donnerten über unsere Köpfe hinweg.

Die Bahnfahrten zwischen Salzburg und Wien waren die weitesten Reisen, die ich in meiner frühen Kindheit unternahm. Aber auch kleinere Unternehmungen waren ein Abenteuer. Tante Friedl hatte Verwandte in Bad Ischl, die wir mitunter besuchten. In den frühen Fünfzigerjahren benützten wir die Ischlerbahn. Sie war eine Schmalspurbahn, die Onkel Erichs Vater erbaut hatte. Einige Jahre später wurde diese liebenswerte Bahn aufgelassen und im Zuge des sogenannten Fortschritts durch Autobusse ersetzt. Die zahlreichen Proteste gegen diese Barbarei halfen nichts. Wir fuhren in der Regel mit einem sehr frühen Zug, um möglichst viel vom Tag zu haben. Tante Friedl verbrachte den Abend davor mit den Reisevorbereitungen. Es gab immer eine unglaubliche Menge zu tun, so als ob es eine Expedition in unbekannte Weiten zu unternehmen galt. Nicht selten kam es vor, dass meine arme Tante von den Vorbereitungen so erschöpft war, dass sie am nächsten Morgen mit heftigen Kopfschmerzen aufwachte und wir alle zu Hause blieben.

1.2 Sonne über der Adria

Nach der Beendigung der Volksschulzeit übersiedelte ich nach Wien, wo ich mit meinem Vater und Ilse in unmittelbarer Nähe der Großmarkthallen wohnte. Es waren das zwei riesige Hallen aus Eisen. In der Fleischmarkthalle gab es alle erdenklichen Fleischprodukte zu kaufen, die Gemüsemarkthalle war ein Paradies für Vegetarier. Sie waren vergleichbar mit Les Halles in Paris, die als der Bauch von Paris bekannt waren. Weder die Großmarkthallen noch Les Halles haben den Fortschritt überlebt. Les Halles wurden durch ein unterirdisches Einkaufs- und Amusement-Zentrum ersetzt, die Großmarkthallen sind einem scheußlichen Einkaufszentrum gewichen.

Unser Vater hatte nie Geld. Er besaß so wenig, dass es nicht der Mühe wert war, von einem Auto zu träumen oder gar Pläne für ein zukünftiges Haus zu entwerfen. Er hatte andere Träume, auf die ich sogleich zu sprechen komme. Er war in Banja Luka geboren und in Bosanski Novi aufgewachsen, wo sein Vater (mein Großvater) einen Posten als Chefchirurg des dortigen Spitals innehatte. Bosnien war Teil des Ottomanischen Imperiums gewesen, 1878 unter die Verwaltung Österreich-Ungarns gestellt und 1908 annektiert worden. Unser Vater hatte unsere Mutter, die in Sarajevo geboren worden war, in Belgrad kennengelernt. Dort kam Ilse zur Welt. Einen Monat nach der Geburt meiner Schwester, am 6. und 7. April 1941, wurde Belgrad von der deutschen Luftwaffe ohne jede Vorwarnung oder Kriegserklärung bombardiert. Unsere Eltern flohen daraufhin nach Wien, wo ich zwei Jahre später das Licht der Welt erblickte. Wien war zu dieser Zeit noch sicher. Die Bombardierungen der Alliierten erfolgten erst später.

In der Zeit vor dem Krieg hatten Vater und Mutter ihre Sommerurlaube an der dalmatinischen Küste verbracht. Wann immer unser Vater von der Adria sprach, dehnte er den a-Vokal in die Länge und seine Augen leuchteten auf. Die Aaaaadria stand für die schönere Vergangenheit in Jugoslawien, nach welchem Land er immer Heimweh hatte. Er erweckte in uns Kindern die Sehnsucht, möglichst bald dieses herrliche Meer mit eigenen Augen zu sehen.

Einmal sahen wir mit unserem Vater den Film Sonne über der Adria. Es ging um eine Liebesgeschichte, die an der adriatischen Küste spielte. In einer Szene sitzt der damals sehr beliebte deutsche Schlagersänger René Carol auf einer Steinmauer und begleitet sich mit der Gitarre zu einem Lied, während hinter ihm das blaue Meer leuchtet. Das Lied enthielt die Worte: Sonne über der Adria, das ist Sonne für uns zwei…. Nach diesem Film wuchs unsere Sehnsucht nach der Adria in Unermessliche. Ilse und ich bestürmten unseren Vater, mit uns in den Sommerferien dorthin zu reisen. Nicht länger wollten wir uns mit Ausflügen in den Wienerwald und zu den Schwimmbädern in der Alten Donau begnügen.

Ilse kam auf eine brillante Idee: Wenn wir jeden Tag einen kleinen Betrag, z.B. zehn Schillinge, zurücklegen, haben wir in ein bis zwei Jahren das nötige Geld für eine Reise nach Jugoslawien beisammen. Unser Vater wusste eine gute Idee zu schätzen. Wir kauften ein Sparschweinchen und fütterten es täglich mit zehn Schillingen, und es wurde langsam immer fetter bzw. voller. Leider befand sich unser Vater häufig in finanziellen Schwierigkeiten. Er schuldete Freunden Geld, das er manchmal zurückzahlen musste, es gab lästige Rechnungen für Strom und Gas, und essen mussten wir auch. Wenn er dringend Geld brauchte, nahm er etwas aus dem Sparschweinchen heraus und verprach uns, es bald zurückzugeben. Dies war ihm jedoch zumeist unmöglich, und so fand unser schöner Traum ein trauriges Ende.

Meine Sehnsucht nach dem Meer blieb noch längere Zeit unerfüllt. Als ich fünfzehn Jahre alt war – ich lebte inzwischen wieder bei meinen Salzburger Zieheltern – war ich fest entschlossen, ein Seemann zu werden. Mein Traum war es, als Schiffskapitän um die Welt zu reisen. Hamburg war das Tor zur Welt. Ich hatte diesen Ausdruck irgendwo gelesen, vielleicht in einem Buch des deutschen Reiseschriftstellers A. E. Johann. Tante Friedl hatte mir eines seiner Bücher geschenkt. Es trug den Titel Große Weltreise, und auf dem Umschlag war ein wunderschönes Passagierschiff abgebildet. Es waren die letzten Jahre der großen Passagierschiffe, die bald darauf von den Fliegern abgelöst wurden. Noch fuhren die Queen Mary und die Queen Elisabeth über den Atlantik. Trägerin des Blauen Bandes war das amerikanische Schiff United States. Es brauchte für die Überfahrt nur vier Tage.

Mein Wunsch, die Adria zu sehen, machte dem Verlangen Platz, nach Bremen und Hamburg zu reisen. Die Namen dieser Städte hatten für mich einen zauberhaften Klang angenommen. Als ich sechzehn war, fuhr ich mit meinem Schulfreund Friedemann Bachleitner per Autostopp durch Deutschland, Belgien und Holland. Unser Ziel war Hamburg. In Köln hatte Friedemann die kühne Idee, die Weiterreise per Schiffstopp zu versuchen. Wenn man Autos anhalten konnte, warum nicht auch ein Schiff auf dem Rhein? Wir gingen zum Hafen und hatten Glück. Der erste Kapitän, den wir ansprachen, war ein Holländer, der am nächsten Morgen in Richtung Rotterdam auslief. Er lud uns ein, auf sein Schiff zu kommen. Die Reise ging flussaufwärts und dauerte zwei Tage. Zum ersten Mal war ich auf einem Schiff. Es war zwar nur ein Flussschiff, aber immerhin ein Schiff, und ich war in meinem Element als zukünftiger Kapitän. In Rotterdam sah ich den ersten richtigen Hafen. Damals war es der größte Hafen der Welt. Und dann, in Scheveningen, erblickte ich zum ersten Mal das Meer, das sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Es war überwältigend.

Nicht nur das Meer erstreckte sich in die Ewigkeit, auch das flache holländische Land schien kein Ende zu haben. Die Sonnenuntergänge dauerten lange und waren wunderbar. Dennoch begann ich nach einigen Tagen die Berge zu vermissen. Ich sprach darüber mit einem Holländer, der uns im Auto mitnahm, und er sagte, dass ihm in Innsbruck der Blick in die Weite fehlte, er fühlte sich von den nahen Bergen der Nordkette gleichsam erdrückt. Mich hatten die Berge niemals beengt. Sie waren dazu da, erstiegen zu werden. Von ihren Gipfeln aus konnte man in noch weitere Fernen blicken als vom Meeresstrand oder von einer holländischen Ebene.

Sehr früh wurde mir bewusst, wie viel mir die Natur bedeutet. In den vergangenen vierzig Jahren habe ich in Irland gelebt und war immer in der Nähe des Meeres. Ich liebe das Meer, aber wenn ich in Österreich bin, fehlt es mir nicht. Die Berge hingegen suche ich, wo immer ich mich aufhalte. Ohne sie könnte ich nicht leben. In Dublin haben wir die Dubliner und Wicklower Berge vor der Haustür, aber wirklich dramatische Berge mit alpinem Flair gibt es im Westen und Südwesten der Insel in Connemara, Mayo und Kerry. Die Maam Turks und die Twelve Bins in Connemara erinnern mich an das Tennengebirge südlich von Salzburg, wo ich in meiner Kindheit oft mit Onkel Erich und unserem Schnauzer Puck wanderte. Am glücklichsten bin ich im Gebirge. Ich bin kein Seemann geworden.

Einige weitere Jahre mussten vergehen, bevor ich endlich an die Adria reiste. Ich studierte Geschichte und Germanistik in Wien, als ich mich in eine Amerikanerin verliebte, die dort Deutsch lernte. Ann war Studentin der Kunstgeschichte, und ihre Universität bestand darauf, dass sie Deutsch zumindest lesen könne. Ihr Fachgebiet war die byzantische Kunst. An der Wiener Universität lehrte damals ein international anerkannter Byzantinist, Otto Demus, dessen Vorlesungen sie besuchte. Ihre Eltern hatten ihr einen Volkswagen gekauft. Mit diesem unternahmen wir im Sommer 1966 eine mehrwöchige Reise durch Jugoslawien. Wir fuhren durch Serbien, den Kosovo und Makedonien auf der Suche nach byzantinischen Klöstern mit ihren großartigen Fresken aus dem 13. und 14. Jahrhundert: Mileševa, Sopoćani, Gračanica, Peć und andere mehr. Hier eröffnete sich mir eine neue Welt, von der ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Und in diesem Sommer war es, dass ich zum ersten Mal die Adria zu Gesicht bekam, nach der ich mich so viele Jahre lang gesehnt hatte.

Bis heute halte ich die dalmatinische Küste für die schönste der Welt. Sie ist eine Steilküste von unübertrefflicher Dramatik. Es gibt tausende kleine Buchten, zu denen man mühsam hinabsteigen muss, um ins Wasser zu gelangen. Unzählige Inseln erstrecken sich entlang der Küste. Nicht nur die Natur bietet ein großartiges Schauspiel, auch die Städte können sich sehen lassen. Da gibt es das mittelalterliche Zadar, das römische Split mit dem Palast des Kaisers Diokletian und die Perle der Adria, das von den Venezianern errichtete Dubrovnik. Mein Vater erwähnte diese Stadt oftmals, doch nannte er sie bei ihrem alten Namen: Ragusa, wobei er den u-Laut auf dieselbe Weise in die Länge zog wie das a der Adria.

Die Nordsee hatte mich einige Jahre vorher tief beeindruckt, aber die Adria ist für mich bis heute der Inbegriff allen Meeres geblieben. Es mag wohl sein, dass meine Verliebtheit zu dem Hochgefühl, das ich empfand, beitrug. Wie immer dem auch sein mag: alle meine Jugendträume, mein romantisches Fernweh und meine Wanderlust fanden hier für kurze Zeit ihre vollkommene Erfüllung.

Reiseabenteuer 1950 - 2018

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