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Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte. Kurt Tucholsky

Kapitel 3: Jugoslawien 1964 - 2007

3.1 Ein verschollenes Land

In meiner Kindheit und frühen Jugend war Jugoslawien für mich zuallererst das Land der Adria. Lange vor meiner Geburt hatten meine Eltern und meine Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits dort gelebt. Mein Vater und Tante Hanna wurden in Bosnien geboren, das seit 1878 unter der Verwaltung von Österreich-Ungarn stand, bevor es 1908 annektiert wurde. Meine Mutter kam in Sarajewo auf die Welt. Meine Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits und meine Eltern blieben nach dem Ersten Weltkrieg in dem neu gegründeten Königreich Jugoslawien, dessen Hauptstadt nun Belgrad war. Vorher waren sie Untertanen des Habsburgerreichs gewesen, nun wurden sie Jugoslawen. In Belgrad lernten mein Vater und meine Mutter einander kennen. Das Königreich Jugoslawien bestand aus Bosnien und Herzegowina, Slowenien, Kroatien, Makedonien, Kosovo, Montenegro und Serbien. Bis 1918 gehörten Bosnien und Herzegowina, Slowenien und Kroatien sowie Teile Serbiens zur österreichisch-ungarischen Monarchie.

Meine Großeltern und Eltern beherrschten das Serbokroatische (so hieß die Sprache damals noch) perfekt, zu Hause aber sprachen sie Deutsch und wurden der deutschsprachigen Minderheit des neuen Staates zugeordnet. Meine Mutter las einige Zeit lang die deutschsprachigen Nachrichten im Belgrader Radio. 1941 flüchteten meine Eltern mit meiner nur wenige Wochen alten Schwester vor den Nazibomben von Belgrad nach Wien, wo ich geboren wurde. Nach dem Tod unserer Mutter blieb unser Vater in Wien und erhielt die österreichische Staatsbürgerschaft. Bis zu seinem Lebensende plagte ihn das Heimweh nach Jugoslawien und der Adria.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Königreich Jugoslawien von Titos kommunistischem Regime abgelöst. Immer noch aber war es das gemeinsame Haus aller südslawischen Völker und der Albaner des Kosovo sowie die Heimat von orthodoxen Christen, Katholiken und Mohammedanern. Es war eine kleinere Version des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates und so gesehen sein treuester Nachfolger. Wie die Habsburger Monarchie fiel auch Titos Jugoslawien der nationalistischen Pest zum Opfer. Während das Reich der Habsburger Jahrhunderte überdauert hatte, bevor ihm der im neunzehnten Jahrhundert ausbrechende Nationalitätenstreit den Todesstoß versetzte, fiel Titos Schöpfung ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung auseinander, als eine neue und noch bösartigere Welle nationalistischen Wahnsinns über den Balkan hereinbrach.

Ich hatte das Glück, Titos Jugoslawien einige Male zu besuchen, als es noch eine glaubwürdige Alternative zum Kommunismus sowjetischer Prägung und ein Beispiel des funktionierenden Zusammenlebens verschiedener Völker und Religionen zu sein schien. Die Schwester unserer Mutter, Tante Gerda, war 1941 nicht vor den deutschen Bomben geflüchtet. Sie blieb mit ihrem Mann Vojeslav (kurz Vojo), einem Serben, in Belgrad. Die Kinder aus dieser Ehe sind Cousine Dušanka und Cousin Dejan. Als Ilse und ich sie kennenlernten, waren sie Jugoslawen, heute sind sie Serben.

Im Sommer 1964 wurden Ilse und ich von Tante Gerda und Onkel Vojo nach Belgrad eingeladen, und im folgenden Jahr verbrachten Dejan und Dušanka einige Wochen bei Tante Hanna in Wien. Tante Gerda und Onkel Vojo sprachen perfektes Deutsch, ihre Kinder aber konnten außer Serbokroatisch nur Französisch. Nach dem Krieg, so erzählte uns Tante Gerda, war es nicht ratsam, Deutsch zu sprechen, da dies feindliche Reaktionen auslösen konnte, weshalb sie und Vojo es für das Beste hielten, den Kindern kein Deutsch beizubringen. Ich sprach einigermaßen gut Englisch, meine Schwester aber hatte in der Schule nicht Englisch, sondern Französisch gelernt. Die einzige Sprache, die wir alle so recht und schlecht beherrschten, war das Lateinische. Dies wurde unsere lingua franca. Am Anfang war es ziemlich mühsam, aber allmählich wurden wir besser und schafften es schließlich sogar, uns auf Lateinisch Witze zu erzählen.

Damals wusste ich sehr wenig über die Geschichte und die politische Situation Jugoslawiens. Belgrad war für mich eine exotisch angehauchte Stadt, in der ich mich bald sehr wohl fühlte. Mir gefielen das Gewimmel der Menschen auf den Straßen an den heißen Sommerabenden, die Restaurants am Ufer der Sava, das scharf gewürzte Essen und die Märkte. Alles war ein bisschen heruntergekommen, aber das war in den mittel- und westeuropäischen Städten nicht anders. Wien und Paris waren bis in die späten Sechzigerjahre ziemlich schäbig.

Onkel Vojo war Antikommunist und machte daraus kein Hehl, was ihm jedoch beruflich und auch sonst nicht zu schaden schien. Eines Tages bot ihm einer seiner Freunde an, uns mit seinem Auto in die Umgebung von Belgrad zu fahren. Onkel Vojo warnte mich davor, abschätzige Äußerungen gegen den Kommunismus oder gegen Tito zu machen, da sein Freund ein Anhänger des Regimes war. Der Tag verlief sehr angenehm, mein Onkel und sein titoistischer Freund kamen ungeachtet ihrer politischen Differenzen recht gut miteinander aus.

Wenn es aber sein musste, zögerte Onkel Vojo nicht, gegen die Repräsentanten des Staates mutig aufzutreten. Einmal gingen wir in einem Park spazieren und beobachteten, wie ein Polizist einem etwa vierzehnjährigen Jungen, der ein Flobertgewehr hatte, zeigte, wie man Vögel abschießt. Onkel Vojo war empört und wies den Polizisten wegen seiner unverantwortlichen Handlungsweise (Tierquälerei, Gefährdung der Spaziergänger) mit sehr deutlichen Worten zurecht. Der Hüter des Gesetzes schrumpfte unter den verbalen Kanonaden meines Onkels um einige Nummern zusammen und entschuldigte sich schließlich auf höchst unterwürfige Weise.

Während meines ersten Besuchs in Jugoslawien kam ich nicht an die Adria. Es vergingen weitere zwei Jahre, bis es so weit war. Die Gelegenheit ergab sich im Sommer 1966, als ich Ann kennenlernte. Sie wusste, dass die serbischen Klöster aus dem 12. und 13. Jahrhundert wertvolle byzantinische Fresken enthielten. Thessaloniki, Palermo und Ravenna sind durch ihre Mosaiken bekannt. Die serbischen Könige beschäftigten, nachdem sie sich von der byzantinischen Herrschaft befreit hatten, Freskenmaler für die Ausstattung ihrer Kirchen und Klöster.

Vereinzelte Relikte byzantinischer Fresken trifft man auch in anderen Teilen Europas an, zum Beispiel in Lambach und in Pürgg in Österreich. Was die serbischen Klöster einzigartig macht, ist die Tatsache, dass ihre Fresken ein sorgfältig geplantes Programm bilden und dass dieses Programm zumeist gut erhalten geblieben ist. In der Apsis findet man normalerweise die zwölf Apostel und über ihnen Maria, in den vier Ecken der Kuppel sind die Symbole der vier Evangelisten zu sehen – Stier, Adler, Mann und Löwe –, und von der Kuppel blickt ein strenger Christus auf uns herab. Die Seitenwände des Kirchenschiffs sind mit einander entsprechenden Szenen aus dem Alten und Neuen Testament bemalt. Sieht man beispielsweise auf der linken Wand die Auferstehung Christi, so enthält die rechte Wand genau gegenüber die Darstellung des Jonas im Bauche des Wals. Die Geschichte des Jonas wurde als Vorausdeutung der Auferstehung Christi interpretiert. Neben solchen Szenen gab es auch Platz für Heilige und für die Darstellung von Königen und Königinnen. Diese wurden mitunter ikonographisch ähnlich behandelt wie göttliche Wesen. Der Tod einer serbischen Königin war manchmal nur schwer von der Darstellung des Todes Marias zu unterscheiden.

Die bekanntesten dieser klösterlichen Kostbarkeiten sind Mileševa in der Nähe von Prijepolje, Dečani bei Peć, zwei Kirchen in Peć selbst, Gračanica bei Priština, Sopoćani in der Umgebung von Novi Pazar und Studenica ein bisschen weiter im Norden. Mileševa, Sopoćani und Studenica befinden sich in Serbien; Dećani, die Kirchen von Peć und Gračanica waren früher ebenfalls in Serbien, heute jedoch stehen sie auf dem Gebiet des neuen Staates Kosovo, der aus dem jugoslawischen Krieg hervorgegangen ist. Dies ist ein großer Verlust für die Serben, denn diese Klöster sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Geschichte und ihres kulturellen Erbes. Peć war bis zum Ende des Krieges der Sitz des orthodoxen Patriarchen der serbischen Kirche gewesen. Es ist wie wenn Österreich Klosterneuburg, Göttweig, Dürnstein und Melk an die Tschechen abtreten müsste, oder England die Gebiete, in denen die Kathedralen von Ely, Wells, Winchester oder Canterbury stehen, an Frankreich verlöre.

Ann plante die Reise im Sommer 1966 so, dass wir bei möglichst vielen byzantinischen Klöstern und Kirchen vorbeikamen. Wir fuhren von Wien durch Slowenien nach Rijeka, von dort die Küste entlang nach Zadar und Dubrovnik. Nun sah ich zum ersten Mal die lange ersehnte Adria und war überwältigt!

Von Dubrovnik fuhren wir landeinwärts über Mostar und Sarajevo nach Novi Pazar und zu den serbischen Klöstern Studenica, Mileševa, Peć, Dećani und Prizren. Über Skopje ging es weiter bis zum Ochrid See an der albanischen Grenze und von dort in Richtung Norden zu den Klöstern von Gračanica und Priština. Wir verbrachten zwei Tage in Belgrad, wo wir meinen inzwischen verwitweten Onkel Vojo und Dušanka und Dejan besuchten. Über die autoput (eine Art von Autobahn ohne Barrieren gegen den entgegenkommenden Verkehr) ging es schließlich über Zagreb zurück nach Österreich.

Während unserer ganzen Reise durch Jugoslawien mussten wir keine einzige Grenze überqueren. In jeder Region trafen wir auf Menschen mit verschiedenen Religionen, Lebensformen, Musik und Trachten, aber alle waren Jugoslawen, und mit Ausnahme der Slowenen und Albaner sprachen alle eine Sprache: Serbokroatisch. Heute gibt es überall Grenzen. Die Kroaten und Slowenen sind Mitglieder der EU, die andern stehen auf der Warteliste und werden wohl noch lange dort verweilen. Das Schlimmste aber ist, dass die Serben Serbisch, die Kroaten Kroatisch, die Bosnier Bosnisch und die Montenegriner Montenegrinisch sprechen und so tun, als ob es sich um vollkommen verschiedene Sprachen handelte. Wenn sie in ferner Zukunft alle in der EU sein sollten, werden die Serben vermutlich darauf bestehen, dass kroatische Dokumente ins Serbische übersetzt werden und umgekehrt usw. Das ist so, als ob die Chilenen auf Übersetzungen aus dem Spanischen, Argentinischen, Ecuadorianischen usw. insistierten oder als ob man Deutsch und Österreichisch wie verschiedene Sprachen behandelte. Die Bibel erzählt uns von der großen Verwirrung, die durch den Bau des Turms von Babel verursacht worden war. Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens tun ihr Bestes, eine neue babylonische Verwirrung herbeizuführen.

3.2 Novi Pazar, serbische Klöster und die Adria

Am Abend des 9. September 1966 kamen Ann und ich in Novi Pazar an. Auf dem Weg dorthin hatten wir Žiča und Studenica besucht, für den folgenden Tag standen Sopoćani und Mileševa und danach die Weiterreise nach Peć auf dem Programm. So eindrucksvoll diese Klöster auch waren, Novi Pazar machte einen noch größeren Eindruck auf mich. Die Stadt liegt in der Region, die unter türkischer Herrschaft als Sandžak bekannt war, und wir hatten sofort das Gefühl, Europa verlassen und den Orient aus Tausend und eine Nacht betreten zu haben. Die Straßen waren voller Menschen, Autos waren so gut wie keine zu sehen. Das neue im westlichen Stil erbaute Hotel im Stadtzentrum passte zu den alten türkischen Häusern wie die Faust aufs Auge. Da wir annahmen, dass wir nur dort eine Unterkunft finden würden, ging ich hin, um zu fragen, ob ein Zimmer frei wäre. Es war geschlossen. Bei meiner Rückkehr zum Auto fand ich den Weg von etwa hundert Menschen verstellt, die sich um den VW Käfer geschart hatten und die junge Chauffeurin mit großem Interesse betrachteten. Sobald ich näher kam, wichen sie ehrfürchtig auseinander.

Dann entdeckten wir gegenüber dem geschlossenen modernen Hotel eine traditionelle Herberge, in der wir problemlos ein Zimmer bekamen. Weil es sehr heiß war, mussten wir die Fenster offen lassen und wurden bis in den frühen Morgen von Geschrei und lauter Musik wach gehalten.

Nachdem wir unser Gepäck im Hotel deponiert hatten, machten wir uns auf die Suche nach einem Restaurant. Die Nachricht von unserer Ankunft hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Wir wurden auf Schritt und Tritt angesprochen und hatten große Schwierigkeiten, die zahlreichen Angebote von Rat und Hilfe höflich abzulehnen. Schließlich endeten wir in Gesellschaft einiger junger Männer. Sie waren froh, ihr Englisch üben und uns ihre Stadt zeigen zu können. Einer von ihnen war dereinst der serbische Champion im Leichtgewicht-Boxen gewesen und hatte den Sport nach einer Verletzung aufgeben müssen. Sie brachten uns in ein Gasthaus, wo wir ćevapčići und frisch gebackenes Weißbrot aßen. Unsere Gastgeber bestanden darauf, uns Bier und šljivovica zu kaufen. Sie erwarteten keine Gegenleistung. Was sie boten, war serbische Gastfreundschaft pur.

Viele Jahre später, 1990, fuhr ich mit Ursula nach Jugoslawien. Es war kurz vor dem Ausbruch des Krieges, der das Land in Stücke riss. Wir reisten mit dem Auto nach Belgrad und besuchten dort Onkel Vojo, Dušanka und Danilo, ihren Mann, und deren Kinder, Jelena und Blagoje. Mein Wunsch war es, Ursula die serbischen Klöster zu zeigen. Wir fuhren von Belgrad zuerst nach Novi Pazar und von dort weiter zu den Klöstern. Dušanka folgte in ihrem eigenen Auto mit ihren Kindern. Sie mussten nach dem Besuch der Klöster nach Belgrad heimkehren, während wir in den Süden an die Küste weiterfuhren.

Dušanka hatte von Belgrad aus Zimmer mit Frühstück für uns alle in Novi Pazar bestellt. Man sagte uns, dass wir in das Hotel gehen und von dort den Besitzer unserer Unterkunft anrufen sollten, der uns abholen würde. Das Hotel war riesig und sah im Inneren ein wenig wie die Alhambra in Granada aus. Ich glaube, es war dasselbe Hotel, das Ann und ich verschlossen vorgefunden hatten, als wir 1966 dort waren. Die Rezeption befand sich im ersten Stock. An der Wand hinter dem Schalter stand in großen Buchstaben NO SMOKING. Dessen ungeachtet bliesen die beiden hübschen und stark geschminkten Damen in der Rezeption unbekümmert den Rauch aus ihren Zigaretten in die Luft. Sie riefen unseren Zimmerherrn an. Bald darauf hörten wir den Lift heraufkommen. Als er stehen blieb, versuchte jemand, von innen die Tür zu öffnen. Sie klemmte, und der im Lift Eingeschlossene trommelte heftig mit den Fäusten und stemmte sich offenbar gegen sie. Plötzlich flog die Tür auf, und ein stattlicher Mann fiel heraus. Es war Rešad, der gekommen war, um uns abzuholen.

Rešads Haus stand in einer alten Gasse, die Osmana đikića hieß. Es war komfortabel, und Rešads Frau, Muradija, tat alles, damit wir uns wohl fühlten. Zum Frühstück bereitete sie uštipci zu, die den churros, die ich in Granada kennengelernt hatte, ähnlich waren. Am besten schmecken sie, wenn man sie in heiße Trinkschokolade tunkt. Die Spanier hatten das Rezept wahrscheinlich von den Mauren übernommen, die Türken hatten es wohl auf den Balkan gebracht. Rešad lag die meiste Zeit im Wohnzimmer auf dem Sofa. Uns erschien er wie die Verkörperung eines Paschas. Er war sehr um unser Wohl besorgt und fragte uns in gebrochenem Deutsch, was wir unternommen hatten: Gut schlafen? Gut essen? Gut einkaufen?

Ich muss gestehen, dass ich beim zweiten Besuch von Novi Pazar ein wenig enttäuscht war. Viele der alten türkischen Häuser waren durch langweilige Wohnblocks ersetzt worden, nur wenige Frauen trugen die traditionellen Trachten, die meisten jungen Mädchen liefen in Blue Jeans herum. Die Aufrufe zum Gebet von den Türmen der Moscheen waren Tonbandaufnahmen. Wir brauchten lange, bis wir eine Bäckerei fanden, wo wir das herrliche serbische Weißbrot kaufen konnten, das mir vor vierundzwanzig Jahren so gut geschmeckt hatte. Vorbei war das Gefühl, in die Welt von Tausendundeine Nacht eingetreten zu sein. Novi Pazar bemühte sich redlich, wie jeder andere Ort in der globalisierten Welt zu werden.

Und dennoch: trotz aller Bemühungen, den Anschluss an den westlichen „Fortschritt“ zu finden, war vieles unverändert geblieben. Hinter der Fassade der Modernität lebten alte Verhaltensweisen fort. Wir wollten im Postamt Briefmarken kaufen. Das Tor war versperrt, davor hing eine Tafel, auf die das Wort PAUSE geschrieben war. Wir warteten zehn Minuten und gaben es dann auf. Solche PAUSE-Tafeln gab es viele. Wann immer die Angestellten von Banken, Postämtern oder Geschäften ihre Ruhe haben wollten, machten sie eine PAUSE. Man wusste nie, wann diese angefangen hatte und wann sie zu Ende sein würde. Ein anderes Mal wollten wir in einer Bank Geld wechseln. Vor uns wurde eine Großfamilie bedient, die Deutsche Mark in Dinar umwechseln und Geld auf ihr Konto einzahlen wollte. Die beiden Angestellten hatten alle Hände voll zu tun, es wurde viel gestikuliert und geschrien, niemand kannte sich aus, es war das reinste Chaos. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir die Geduld aufbrachten, zu warten, bis wir an die Reihe kamen.

Die Fresken der serbischen Klöster waren so schön wie eh und je. Ich hatte eine gute Kamera mit Teleobjektiv und Stativ mitgebracht und machte eifrig davon Gebrauch. Manchmal war das verboten. In Mileševa wurden die Fresken gerade einer Restaurierung unterzogen. Eine Archäologin aus Belgrad leitete die Arbeiten und erlaubte mir, mein Stativ aufzustellen und zu fotografieren. In Studenica ignorierte ich das Fotografierverbot, und arbeitete munter drauf los, als plötzlich ein orthodoxer Mönch mit einem langen Bart vor mir stand. Er sah mich an, und ich erwiderte seinen Blick einigermaßen verlegen. Er fragte: français? Ich hielt es für am gescheitesten, oui zu antworten. Er schien damit zufrieden zu sein, gab mir einen Klaps auf die Schulter und ging davon. In Dečani erzählte uns ein Mönch namens Boreslav von den Grausamkeiten, die von den Türken vor hunderten von Jahren begangen worden waren. Wenn man ihm zuhörte, konnte man meinen, dass sich dies alles erst gestern zugetragen habe. Sollte Boreslav heute noch leben, wäre er gewiss unglücklich darüber, dass Dečani ebenso wie die Kirchen von Peć und das Kloster Gračanica jetzt zu dem neuen Staat Kosovo gehören, dessen Bewohner mehrheitlich Muslime sind.

1990 war das letzte Jahr Jugoslawiens. Im darauf folgenden Jahr brach der Krieg aus, der zu seinem Untergang führte. Die Anzeichen der nahenden Katastrophe waren überall zu spüren und zusehen. Dušanka fühlte sich mit ihrer serbischen Autonummer zeitweise sehr exponiert. In Novi Pazar hatte sie kein Problem, da es unbestritten zu Serbien gehörte. Im Kosovo hingegen, der zwar noch Teil Serbiens war, aber in dem die Spannungen zwischen Albanern und Serben deutlich zu Tage traten, war die Situation ziemlich ungemütlich. Das Postamt von Peć war niedergebrannt. Vor jeder Telefonzelle standen die Menschen Schlange. Der Müll war wochenlang nicht entfernt worden. Serbische Panzer fuhren in den Straßen auf und ab. Die Fußgänger überquerten die Straße, ohne sich um die Autos zu kümmern, und die Autofahrer nahmen keine Rücksicht auf die Fußgänger. Man hatte das Gefühl, dass die Ordnung in Auflösung begriffen war. Nirgendwo sah man Frauen am Steuer eines Autos. Auch in den Kaffeehäusern und Restaurants waren sie nicht zu sehen. Man hätte in einem arabischen Land sein können. Dušanka in ihrem Jugo Fiat war die einzige Autofahrerin. Als sie vor einer Tankstelle auf eine freie Pumpe wartete, zwängte sich ein Lastwagen rücksichtlos vor. Ich frage mich, wie es heute um die Rechte der Frauen in diesem neuen Staat bestellt ist.

Nachdem Dušanka mit Jelena und Blagoje die Reise zurück nach Belgrad angetreten hatte, fuhren Ursula und ich zur Küste. In Buljarica sah Ursula zum ersten Mal die Aaaadria. In Plat, einem kleinen Ort in der Nähe von Dubrovnik, fanden wir ein sehr angenehmes Zimmer mit Frühstück mit Blick auf das Meer. Wir nahmen das Frühstück auf der Terrasse ein, und einmal brachte uns die Vermieterin hausgemachten Apfelstrudel aufs Zimmer. Das Haus stand oberhalb eines kleinen Strandes, zu dem man über steile Stufen hinabstieg. Am Strand befand sich ein Restaurant, das frischen Fisch, Pasta und Salate servierte. Der Besitzer hatte einen Foxterrier, dessen Aufgabe es war, Katzen zu verjagen, was er mit sichtlichem Vergnügen tat. Es gab nur wenige Gäste. Zu ihnen gehörten ein irischer Polizist und seine Freundin, die mit dem Motorrad unterwegs waren. Am Abend saßen wir auf der Terrasse des Restaurants und blickten auf das Meer. Die Luft war lau, und der Mond goss sein silbernes Licht auf die Wellen. Es war die perfekte Szene für das Titelbild einer Reisebroschüre.

3.3 Mostar 1966, 1990 und 2001

Nachdem wir uns in der Idylle von Plat gut erholt hatten, war es Zeit, die Heimreise anzutreten. Unser Weg führte uns von Dubrovnik über Neum, Mostar, Sarajevo, Banja Luka und Zagreb nach Ljubljana, wo wir das Auto auf den Zug nach Oostende verluden. Von dort war es nicht mehr allzu weit bis Irland: zwei Autofähren und etwa 600 km Autobahnkilometer.

In Neum verließen wir die Küste und fuhren landeinwärts. Nach Počitelj, wo wir die türkische Festung besichtigt hatten, überholte uns ein Autobus in einer unübersichtlichen Kurve. Wir hielten kurz darauf an, setzten uns an den Straßenrand und aßen ein Sandwich. Dann fuhren wir in Richtung Mostar weiter. Plötzlich stießen wir auf eine schauderhafte Szene. Der Bus, der uns vorher überholt hatte, war mit einem Lastwagen zusammengestoßen. Trümmer und Tote und Verletzte lagen überall herum, die Polizei, Feuerwehr und zahlreiche Rettungswagen waren dabei, zu helfen. Wir erreichten Mostar in einem schockierten Zustand.

Bei meinem ersten Besuch mit Ann im Jahr 1966 gefiel mir das malerisch von Bergen umgebene Mostar auf Anhieb. Dass unser Hotel neben dem Bahnhof lag und wir die ganze Nacht den Ruß der Dampflokomotiven einatmen mussten, tat wenig zur Sache. Nach Novi Pazar war Mostar die am „orientalischsten“ anmutende Stadt Jugoslawiens. Fast jedermann kennt zumindest von Bildern die alte Brücke über den Neretva-Fluss. Sie bestand aus einem einzigen neunundzwanzig Meter langen Steinbogen und galt als Meisterwerk der Baukunst des sechzehnten Jahrhunderts. Mimar Hayruddin, ein Student des großen ottomanischen Architekten Sinan, erbaute sie 1566. Sie war das Wahrzeichen der Stadt und eine symbolische Brücke zwischen Osten und Westen, Christentum und Islam, sowie zwischen Katholiken und orthodoxen Christen. Die Legende berichtet, dass der Sultan dem Baumeister mit dem Tod drohte, falls die Brücke nach der Entfernung der hölzernen Träger einstürzen sollte, und dass Hayruddin vorsorglich sein eigenes Grab grub. Sein Werk stürzte nicht ein, sondern überdauerte mehr als vierhundert Jahre. Es stünde noch immer, wenn es nicht 1993 von der kroatischen Artillerie zusammengeschossen worden wäre. Nach dem Ende des Krieges wurde die Brücke mit internationaler Hilfe nach den originalen Plänen, die in einem Archiv in Istanbul aufbewahrt sind, wieder aufgebaut.

Der Besuch von 1990 war mein zweiter. Ursula war zum ersten Mal dort. Wir kamen später an, als wir geplant hatten, und standen unter Zeitdruck, da wir noch vor Einbruch der Dunkelheit Banja Luka erreichen mussten. Ich wollte Ursula die Brücke zeigen und hielt an einem Punkt an, von dem wir eine gute Aussicht auf sie hatten. Ein Mann trat auf uns zu und bot uns eine Stadtführung an. Er sagte, er sei Historiker, und aus dem, was er erzählte, war es offensichtlich, dass er viel über seine Stadt wusste. Wir erklärten ihm, dass wir leider nicht genug Zeit hätten und ließen ihn stehen. Er war sichtlich enttäuscht. Noch lange Zeit danach tat es uns leid, dass wir sein Angebot nicht angenommen hatten. Wir konnten natürlich nicht wissen, dass diese liebenswerte Stadt bald vom Krieg verwüstet werden sollte. Später, als der Krieg wütete, fragten wir uns noch oft, was aus dem Historiker, den wir so schlecht behandelt hatten, geworden war.

Auf der Fahrt nach Banja Luka bemerkten wir, dass die Namen auf vielen Ortstafeln schwarz übermalt waren und darüber SDS geschrieben worden war. SDS steht für Srpska Demokratska Stranka (Serbische Demokratische Partei). Jovan Rašković hatte sie am 17. Februar 1990 gegründet. Ihr Ziel war es, serbische nationale Interessen gegen den aufkommenden kroatischen Nationalismus zu verteidigen. In dem jugoslawischen Bürgerkrieg wurde die SDS zur treibenden Kraft der serbischen Nationalisten in Bosnien und Herzegowina. Sie wurde für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht, vor allem für das Massaker von Srebrenica. Einer ihrer berüchtigtsten Anführer war Radovan Karadžić. Der Zerfall Jugoslawiens wurde bereits 1990 vorbereitet. Die in den folgenden Krieg verwickelten Parteien suchten sich ihren Anteil an den Trümmern des Staates im Vorhinein zu sichern. Das Ziel der SDS war es, die bosnischen Serben mit dem serbischen Mutterland zu vereinigen, ein Ziel, das sie schließlich nicht erreichte. Stattdessen gibt es nun die Republika Srpska als autonome Region innerhalb des unabhängigen Staates Bosnien und Herzegowina. Banja Luka ist heute ihre de facto Hauptstadt.

Unser Hotelzimmer in Banja Luka hatte zwei Betten. Eines war nicht benützbar, weil es eine Rutschbahn war. Abgesehen von den beiden Betten war das Zimmer vollkommen leer. Eine Tür führte auf einen von keinem Geländer geschützten Balkon, der als riesiger Aschenbecher diente. In der Bar unter dem Zimmer sangen Gäste bis ein Uhr in der Früh in vollendeten Harmonien.

Elf Jahre danach, im Juni 2001, kehrten Ursula und ich in das Land zurück, das dereinst Jugoslawien gewesen war. Der Krieg hatte vor kurzem geendet, die früheren Teilrepubliken waren nun unabhängige Staaten. Wir flogen mit einem Charterflugzeug der kroatischen Luftlinien von Dublin über Split nach Dubrovnik. Die meisten Passagiere waren irische Pilger, die in Split ausstiegen, um nach Medjugorje zu fahren. Nur wenige Passagiere flogen weiter bis Dubrovnik. Dort holte uns ein Bus ab und brachte uns nach Plat in der Nähe von Dubrovnik. Als wir aus dem Bus stiegen und zum Hotel gingen, bot sich uns ein schockierender Anblick. Die Fassaden vieler Gebäude waren zerschossen, einige Häuser lagen vollkommen in Trümmern.

Glücklicherweise befand sich das Hotel in perfektem Zustand. Nachdem wir uns an die traurige Umgebung gewöhnt hatten, verbrachten wir dort eine angenehme Zeit. In unmittelbarer Nähe des Hotels befand sich das Haus, in dem wir 1991 gewohnt hatten. Es war unbeschädigt und immer noch eine Frühstückspension. Das Strandrestaurant, an das wir so romantische Erinnerungen hatten, war auch noch vorhanden. Der kleine Terrier, der die Katzen vertrieben hatte, fehlte. Der Besitzer sagte, dass ihn die Serben erschossen hatten.

Nachdem wir einige Tage am Strand und beim Schwimmbad des Hotels gefaulenzt und mehrere Male das nach wie vor romantische Strandrestaurant besucht hatten, mieteten wir ein Auto und unternahmen einen Tagesausflug nach Mostar. Wir wollten sehen, wie die Stadt mit der neuen Situation zurechtkam.

Die ersten Eindrücke waren noch schockierender als die von der Umgebung unseres Hotels. Die zahlreichen in Trümmern liegenden Häuserzeilen boten einen herzzerreißenden Anblick. Die Stadt ist durch die Neretva in zwei Hälften geteilt. Westlich des Flusses leben die (katholischen) Kroaten, die Muslime wohnen auf der östlichen Seite. Es war offensichtlich, dass die Kroaten unglücklich darüber waren, nicht im kroatischen „Mutterland“ sondern in Bosnien leben zu müssen. Von vielen Gebäuden der Westseite wehten kroatische Fahnen, und auf jedem Hügel drohte ein christliches Kreuz. Alle Geschäfte und Gaststätten akzeptierten die kroatische Währung als Zahlmittel.

Wir überquerten die provisorische Brücke, die nach der Zerstörung von Mimar Hayruddins Meisterwerk die beiden Stadteile verband, und setzten uns in ein Kaffeehaus. Als es zum Zahlen kam, weigerte sich die Kellnerin, kroatische Kunas anzunehmen. Sie belehrte uns in makellosem Deutsch, dass man in einem fremden Land mit der Landeswährung zu zahlen habe. In Bosnien ist dies die bosnische Mark und damit Punktum. Wir entschuldigten uns und versuchten uns damit zu rechtfertigen, dass man uns in Dubrovnik gesagt hatte, man könne überall in Bosnien mit Kunas bezahlen. Es machte auf sie keinen Eindruck. Niemand hatte uns gewarnt, wie groß der Hass zwischen Kroaten und muslimischen Bosniern seit dem Krieg war. Wir hätten es besser wissen sollen.

3.4 Slawische Gastfreundschaft

Die Gastfreundschaft, die uns die jungen Männer 1966 in Novi Pazar gewährten, ist in Serbien nicht ungewöhnlich. Die serbische Gastfreundschaft ist in der Tat eine ernste Angelegenheit, wie ernst, sollte ich im Jahr 2007 erfahren, als Ursula, Ilse und ich meine Verwandten in Belgrad besuchten. Onkel Vojo war nicht mehr am Leben. Dejans Frau Maret ist Holländerin, und die beiden leben in Amsterdam, sind jedoch häufig in Belgrad zu Besuch. Eines Tages mietete Dejan einen Minibus und führte uns alle einen Tag lang in der Umgebung von Belgrad umher. Irgendwo auf dem Land hielten wir bei einem Restaurant, wo ein ganzes Spanferkel über offenem Feuer am Spieß gebraten wurde. Wir setzten uns in den Gastgarten und verzehrten das Schweinchen mit Salat und Weißbrot. Da wir wussten, dass Dejan und Danilo alles bezahlen würden und wir bereits mehrere Tage die Gastfreundschaft unserer serbischen Verwandten in Anspruch genommen hatten, meinte Ursula, es sei eine gute Idee, wenn wir die Rechnung für das Spanferkelessen beglichen. Also schlich ich mich zum Wirt und bezahlte. Als danach Dejan und Danilo zahlen wollten und herausfanden, dass ich das bereits getan hatte, waren sie zutiefst beleidigt. Ich hatte die serbische Gastfreundschaft missachtet! Ich fürchte, sie haben mir das nie verziehen.

Vierzig Jahre davor, 1967, hatte ich ein anderes Beispiel slawischer Gastfreundschaft in Bulgarien erlebt. Ein Jahr nach unserer Reise zu den serbischen Klöstern wollte Ann die byzantinischen Kulturdenkmäler in Bulgarien und Griechenland besuchen. Wieder begleitete ich sie. Es war das Jahr, in dem Bulgarien die meisten Beschränkungen für westliche Besucher aufhob. Man bekam an der Grenze problemlos ein Visum für einen Monat. Dies erlaubte uns, überall im Land ohne Beschränkungen herumzufahren. An der Einfahrtstraße jeder größeren Stadt befand sich ein Kiosk des bulgarischen Touristenbüros, wo man ein Zimmer mit Frühstück reservieren konnte. Soviel ich mich entsinne, bezahlte man und erhielt einen Gutschein, mit dem man zur angewiesenen Adresse fuhr. Das System funktionierte ausgezeichnet.

Die Autofahrt durch das Land war das reinste Vergnügen. Die meisten Straßen, auch die großen Verkehrsadern zwischen den Städten, waren mit Katzenkopfpflaster bedeckt. Die Felder hatten Bewässerungsanlagen und befanden sich in gutem Zustand. Die auf ihnen arbeitenden Menschen, es waren fast ausschließlich Frauen, winkten uns zu, während wir vorbeifuhren. Hätte man diese gesund aussehenden kräftigen Landarbeiterinnen, die den Autofahrern von bestens bewirtschafteten Feldern fröhlich zuwinken, gemalt, wäre das Resultat ein vollkommenes Beispiel kommunistischer Propagandakunst gewesen. Die Leute winkten uns nicht nur zu, wenn wir an ihnen vorbeifuhren. Wo immer wir anhielten, drängten sie sich um das Auto, luden uns in ihre Häuser ein, boten uns Kaffee an und wollten uns die Sehenswürdigkeiten ihres Ortes zeigen. Selbst wenn diese Freundlichkeit teilweise von Neugierde motiviert gewesen sein mag, war sie dennoch bemerkenswert. Als wir später über die türkische Stadt Edirne weiter nach Griechenland fuhren, konnte der Gegensatz größer nicht sein. In Edirne wollten uns Kinder Postkarten verkaufen. Als wir kein Interesse zeigten, warfen sie mit Steinen auf uns.

Ann hatte ein Buch über byzantinische Kunst von David Rice mitgebracht, in dem einige Fresken in bulgarischen Klöstern und Kirchen beschrieben wurden. Da wir nicht Bulgarisch sprachen, mussten wir uns mittels Zeichensprache verständigen, wenn wir uns nach dem Weg zu den Sehenswürdigkeiten erkundigten. Manchmal nahm Ann ihren Notizblock heraus und fertigte eine kleine Zeichnung an. Wollten wir zum Beispiel den Weg zu einer Kirche namens Erzengel Gabriel erfahren, skizzierte sie eine byzantinische Kirche und daneben einen Erzengel (eine Figur mit sehr langen Flügeln) und schrieb „Gabriel“ dazu. Interessant war, dass uns die meisten Frauen sofort verstanden, aber nur die wenigsten Männer begriffen, was wir wollten.

David Rice erwähnte Fresken in einer Bergkirche in der Nähe einer kleinen Stadt. Leider habe ich vergessen, wo genau sich dieses Städtchen befand und wie es hieß. Wir kamen am späten Vormittag dort an und gingen in das Postamt, um den Weg zur Kirche zu erfragen. Die zwei Damen hinter dem Schalter wussten, wo die Kirche war, meinten aber, dass wir sie ohne Führer nicht finden könnten. Sie erboten sich, uns zu begleiten. Bevor sie das Postamt zusperrten, riefen sie einen befreundeten Chirurgen an und luden ihn ein, mitzukommen. Der gute Doktor musste leider absagen, da er eine Operation durchzuführen hatte. Wir zogen also zu viert los. Der Weg führte steil bergauf durch einen dichten Wald. Die Damen gingen barfuß voran und schlugen mit Stöcken auf das vor ihnen liegende Gestrüpp ein, um giftige Schlangen zu vertreiben. Nach etwa einer Stunde erreichten wir die Kirche. Sie war eine Ruine und es gab keine Fresken. Eine Tafel informierte uns, dass sie abmontiert und in ein Museum in Sofia gebracht worden waren.

So mussten wir unverrichteter Dinge umkehren. In der Stadt angekommen, luden uns die beiden Postdamen zum Mittagessen ein. Sie brachten uns in ein am Ufer eines Flusses gelegenes Restaurant. Da wir die Speisekarte nicht lesen konnten, durften wir in die Küche gehen und unser Essen aussuchen. Wir saßen im Freien um einen etwas wackligen Tisch herum, über den die Wirtin ein Tischtuch mit einer Geste ausbreitete, als bediente sie königliche Gäste. Und in der Tat, als solche wurden wir behandelt. Ich war seit damals nie mehr in Bulgarien gewesen, aber dieses Land nimmt bis heute einen besonderen Platz in meinem Herzen ein.

3.5 Eine Reise in die Geschichte

Die Geschichte Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten ist mit der Geschichte Österreichs eng verbunden. Eine besondere Rolle in unserer gemeinsamen Vergangenheit spielt Sarajewo, die Geburtsstadt meiner Mutter. Als ich 1966 zum ersten Mal dort war, stand ich auf der Stelle (sie war markiert), von der aus Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 die tödlichen Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand, den österreichisch-ungarischen Thronfolger, und seine Frau, Gräfin Sophie Chotek, abgefeuert hatte. In unmittelbarer Nähe davon war ein Museum, das Princip gewidmet war. Ich besuchte es, lernte aber wenig davon, weil es weder deutsche noch englische Übersetzungen der Erklärungen gab. Fünfhundert Kilometer nordwestlich von Sarajevo, in Wien, befindet sich das Heeresgeschichtliche Museum. Dort kann der Besucher das Automobil sehen, in dem Franz Ferdinand und Sophie Chotek erschossen wurden. Ebenfalls ausgestellt ist die blutgetränkte Uniform des Erzherzogs. Es ist unheimlich, vor diesen Relikten eines Ereignisses zu stehen, das vor mehr als hundert Jahren eine der größten europäischen Tragödien ausgelöst und die Welt für immer verändert hat.

Franz Ferdinand und Sophie Chotek sind in der Gruft des Schlosses Artstetten begraben, das sich im Besitz des Erzherzogs befand und bis heute seinen Nachfolgern gehört. Es liegt in einer idyllischen Landschaft in Niederösterreich nördlich der Donau und verfügt über ein ausgezeichnetes Museum. Die derzeitigen Besitzer sind die Fürstin Anita von Hohenberg, eine Urenkelin des ermordeten Paares, und ihr Mann. Es würde zu weit führen, hier zu erklären, wie es zu dem Namen von Hohenberg kam. Am 17. Mai 2019 besuchten Ursula und ich Artstetten. Als wir ankamen, fanden wir die Gruft geschlossen, weil gerade ein Begräbnis stattfand. Das Museum war zugänglich wie immer. Wir fragten eine Angestellte, wer hier begraben würde, und erfuhren, dass es sich um den Fürsten von Hohenberg, einen Enkel Franz Ferdinands, handelte. Er wurde in der Familiengruft beigesetzt. Beim Begräbnis waren etwa hundertfünfzig Trauergäste anwesend, allesamt Familienangehörige, wie uns die Angestellte erklärte.

Bosnien hatte Jahrhunderte lang zum Ottomanischen Reich gehört, bevor es 1878 unter die Verwaltung von Österreich-Ungarn gestellt und 1908 annektiert wurde. Mein Großvater lebte und arbeitete im etwa 250 km von Sarajevo entfernten Spital von Bosanski Novi. Heute heißt die Stadt Novi Grad. Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns verbrachte er seinen Lebensabend in Banja Luka, das heute ebenso wie Novi Grad in der zu Bosnien und Herzegovina gehörenden Republika Srpska liegt.

Sarajewo wurde im jugoslawischen Krieg von den Serben besonders übel mitgespielt. Es war nicht das erste Mal, dass diese Stadt das Schlachtfeld zwischen Christen und Muslimen abgab. Am Ende des 17. Jahrhunderts vertrieb der in Habsburgs Diensten stehende Feldmarschall Prinz Eugen von Savoyen die Türken aus Ungarn und drängte sie weiter nach Osten zurück, so dass es ihnen niemals mehr möglich war, Wien, das sie 1529 und 1683 belagert hatten, zu bedrohen. Nach der Schlacht bei Zenta, in der er das türkische Heer vollkommen aufgerieben hatte, wendete sich der Prinz nach Sarajewo. Als die Verteidiger am 23. Oktober 1697 die Übergabe verweigerten, ließ er seine Truppen die Stadt drei Tage lang plündern. Sie wurde vollkommen zerstört.

1717 eroberte Eugen das stark befestigte Belgrad. Die auf einem Hügel liegende Festung heißt Kalimegdan und ist heute von einem schönen Park umgeben, von dem aus man einen guten Blick auf die Save hat. Sooft ich meine Verwandten in Belgrad besuche, gehen wir auf dem Kalimegdan spazieren. Dort befinden sich auch die Gräber bedeutender ottomanischer Generäle. Der Kommandant der Festung im Jahr 1717 war Vezir Mükkerem Rumeli Valesi Bayeseli Taya-Sade Ibrahim Bassa. Nach dem Friedensschluss zwischen den Habsburgern und der Goldenen Pforte diente er von 1719 bis 1720 als Botschafter in Wien. Prinz Eugen starb 1736, und drei Jahre später eroberten die Türken Belgrad zurück. Es vergingen weitere fünfzig Jahre, bis die Österreicher einen neuen Versuch unternahmen, Belgrad zurückzugewinnen. Dies gelang 1789 dem österreichischen Feldmarschall Gideon Laudon, dem 72 Jahre alten Haudegen und Veteran des Siebenjährigen Krieges. Die Stadt blieb aber nicht lange im Besitz der Habsburger. 1791 fiel sie zurück an die Türken.

Gideon Laudon nahm den Sarkophag von Vezir Mükkerem Rumeli Valesi Bayeseli Taya-Sade Ibrahim Bassa als Siegestrophäe mit nach Wien. Ebenso raubte er zwei Epitaphe und eine schöne Tughra (ein kalligraphisches Monogramm des Sultans), beide aus Marmor, die am Konstantinopler Tor vor Belgrad aufgestellt waren. Die Epitaphe preisen in blumiger Sprache den Sieg der Türken von 1739 über die ungläubigen Österreicher.

Laudon besaß ein charmantes Schlösschen in der Nähe von Wien am Fuße des Wienerwaldes. Er starb ein Jahr nach seinem Belgrader militärischen Abenteuer und ließ sich im Wienerwald begraben. Wenn man den Wanderweg von Hadersdorf zu den Bergen des Wienerwalds einschlägt, kommt man bei seinem Grabmonument vorbei. Gegenüber davon, ganz nahe am Weg, stehen die beiden Epitaphe und die Tughra.

Ich stand in Sarajevo auf der Stelle, von der aus Princip auf den österreichischen Thronfolger geschossen hatte, ich sah dessen Auto und die blutgetränkte Uniform im Heeresgeschichtlichen Museum und ich wurde bei einem Besuch des Schlosses Artstetten zufällig Zeuge des Begräbnisses eines Enkels des ermordeten Erzherzogs. Ich ging mit meinen serbischen Verwandten auf dem dereinst von Österreichern und Türken so erbittert umkämpften Kalimegdan spazieren, auf dem der Sarkophag des türkischen Befehlshabers von 1717 gestanden war, bevor ihn Gideon Laudon in den Wienerwald entführte. Sooft ich bei meinen Wanderungen daran vorbeikomme, halte ich an und lese die deutsche Übersetzung der Epitaphe.

Reisen lässt Geschichte lebendig werden. Es macht uns bewusst, wie sehr wir mit der Vergangenheit verbunden sind und bereichert auf diese Weise unsere Gegenwart.


Kriegswunden in Mostar 2001

Reiseabenteuer 1950 - 2018

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