Читать книгу Reiseabenteuer 1950 - 2018 - Herbert Herzmann - Страница 11
ОглавлениеGegen Zielsetzungen ist nichts einzuwenden, sofern man sich dadurch nicht von interessanten Umwegen abhalten lässt. Mark Twain
Kapitel 2: Die Schweiz und Frankreich 1962
2.1 Hinweg
Ich liebe Städte. Sooft ich meine Familienangehörigen in Wien besuchte, war ich von den historischen Schichten fasziniert, aus denen sich diese Stadt zusammensetzt. Die bedeutenden Städte Europas haben unsere Geschichte in Stein und Ziegeln, in Kunstwerken, Institutionen und Lebensformen aufbewahrt. In Wien findet man Europas Geschichte auf wenige Quadratkilometer konzentriert. Mit seiner herrlichen Architektur bietet Wien auch eine Augenfreude. Dies gilt ebenso für viele andere europäische Städte, insbesondere für Paris. Schon sehr früh träumte ich nicht nur davon, die Adria zu sehen, einer meiner innigsten Wünsche war es auch, nach Paris zu reisen. Nachdem ich die höhere Schule mit der Matura abgeschlossen hatte, wollte ich nicht länger warten. Da keiner meiner Freunde Lust hatte, mit mir zu kommen, beschloss ich, alleine mit dem Fahrrad von Salzburg nach Paris zu fahren.
Anfang Juli fuhr ich von Salzburg weg. Die Fahrt durch das gebirgige Tirol und über den Arlberg war anstrengend. Ich brauchte mehrere Tage, bis ich die Schweizer Grenze erreichte. Mein erstes Ziel war Dornach bei Basel. Dort befindet sich das Goetheanum, das Weltzentrum der Anthroposophie. Einer meiner Klassenkameraden, Mario, war Anthroposoph und verbrachte jeden Sommer dort. Er hatte versprochen, mir im Goetheanum einen Job zu verschaffen, damit ich Geld für die Weiterreise verdienen könne. Auch Unterkunft hatte er mir zugesichert.
Vor meiner Ankunft in Dornach wusste ich absolut nichts über Anthroposophie. Nun erfuhr ich, dass die Waldorf Schulen von den Anthroposophen geführt werden und dass die Anthroposophie eine Bewegung ist, die antiautoritären und holistischen Prinzipien folgt, dass sie organische und biodynamische Landwirtschaft pflegt und dass es sogar eine alternative anthroposophische Medizin gibt. Es gibt auch eine anthroposophische Architektur, deren bestes Beispiel das Goetheanum ist. Bedeutende moderne Architekten wie Richard Neutra, Le Corbusier, Henry van der Velde, Eero Saarinen, Frank Lloyd Wright, Erich Mendelsohn und Hans Scharoun waren von ihr beeinflusst. Der Gründer der Anthroposophie war der österreichische Philosoph Rudolf Steiner (1861 – 1925).
Mario stellte mich Herrn K, dem Oberhaupt der Putzbrigade, vor, der sich bereiterklärte, mich in seine Dienste zu nehmen. Hier war ich nun und arbeitete unermüdlich, um genug Geld für meine Reise nach Paris zu verdienen. Herr K war ein kleiner und zierlicher Mann, der immer eine dicke Zigarre im Mund hatte. Er organisierte die Reinigungsarbeiten so, als ob es sich um eine gewaltige militärische Operation handelte. Wir wurden nach unserer Leistung bezahlt. Wer viel und gründlich putzte, erhielt mehr, Faulpelze bekamen weniger.
Jeden Tag bereitete Herr K ein herrliches Müsli zu. Er füllte ein riesiges Fass mit saurer Milch, Früchten, Nüssen und Haferflocken und rührte die Mischung eifrig um, während er die brennende Zigarre im Mund hatte. Das bisschen Asche, das in das Fass fiel, beeinträchtigte den Geschmack in keiner Weise. Wann immer wir Lust hatten, tauchten wir eine Schüssel in die Mischung und schöpften daraus. Alle Gebote der Hygiene wurden ignoriert. Niemand wurde krank, und niemals wieder habe ich so ein gutes Müsli genossen.
Das Heizhaus des Goetheanums, in dem wir Reinigungskräfte untergebracht waren, sah aus wie eine steinerne Flamme. Dort schliefen wir nicht nur, wir bereiteten auch unsere Mahlzeiten zu. Theo, ein junger Holländer, kochte für uns alle. Er war ein guter Koch, der sich um Hygiene noch weniger kümmerte als Herr K. Seine Schürze wurde niemals gewaschen, und er benützte dasselbe Tuch, um das Geschirr zu trocknen und den Boden aufzuwischen. Wir waren eine fröhliche Gemeinschaft und erfreuten uns bester Gesundheit.
Alle Anthroposophen, die ich kennenlernte, waren reizende Menschen. Sie waren zartfühlende und tolerante Naturen und überzeugte Pazifisten. Die meisten von ihnen verbrachten einige Wochen im Goetheanum, um an Kursen, Konzerten, Theatervorstellungen und Vorlesungen teilzunehmen. Einmal besuchte ich ein Konzert. Ein Streichquartett von Mozart wurde aufgeführt und simultan von einer Tanzgruppe in Bewegung übersetzt. Die holistische Weltauffassung ging davon aus, dass alles mit allem verbunden ist, und dass beispielsweise körperliche Bewegungen in Musik übertragen werden können und umgekehrt.
Ein anderes Mal wohnte ich einer Aufführung von Alexanders Wandlung bei, eines 1953 von Albert Steffen verfassten Theaterstücks. Albert Steffen hatte nach dem 1925 erfolgten Tod Rudolf Steiners dessen Nachfolge als Präsident der Anthroposophischen Gesellschaft angetreten. Alexanders Wandlung ist ein sehr langes Stück, von dem ich kein Wort verstand. Später las ich, dass es die Reise Alexanders des Großen darstellt, die dieser nach seinem Tod durch die Regionen des Geistes unternimmt, bis er wieder zur Erde zurückkehrt. Parallel zu Alexanders Wanderung und Wandlung werden die sich andauernd verändernden Verhältnisse auf der Erde gezeigt. Obwohl ich nichts verstand, beindruckte mich die Sprache. Die Schauspieler bedienten sich weder einer prosaischen noch einer gehobenen Sprache, wie man sie aus der klassischen Tragödie kennt, sondern einer Sprache, die sich zwischen normalem Sprechen und Gesang bewegte, ohne eines von beiden zu sein. Und Rezitativen war sie auch nicht ähnlich. Am ehesten mag man sie als expressiv oder expressionistisch beschreiben. Manche Vokale wurden extrem in die Länge gedehnt, die Lautstärke schwankte, manchmal hörte man fast nichts, dann wieder schwoll der Ton gewaltig an, die Tonhöhe ging auf und ab. Alles war Klang, Rhythmus und Bewegung. Man erzählte mir, dass bei besonderen Anlässen Faust I und Faust II auf diese Weise aufgeführt werden.
Eines Morgens putzte ich auf den Knien rutschend vor mich hin und pfiff, während ich mich einer Ecke näherte, die Melodie von Papagenos Arie Der Vogelfänger bin ich ja aus Mozarts Die Zauberflöte. Plötzlich hörte ich, wie jenseits der Ecke jemand die Melodie aufgriff und weiterführte. Gleich darauf stieß ich mit dem Pfeifer zusammen. Er hieß Tony und war ein Student aus England, der mit seinem Freund Phil im Goetheanum arbeitete, um Geld für die Weiterreise zu den Salzburger Festspielen zu verdienen. Tony und Phil waren keine großartigen Arbeiter und verdienten daher nicht genug, um sich die Reise nach Salzburg leisten zu können. Herr K hielt nicht viel von ihnen und nannte sie immer nur die Tommies. Die Arbeitsmoral dieser beiden Tommies mag nicht dem Schweizer Standard entsprochen haben, aber sie waren sehr liebenswürdige Menschen, mit denen ich mich schnell befreundete. Beide studierten Geschichte und wollten Lehrer werden.
Im folgenden Sommer besuchte mich Tony in Salzburg und wohnte mehrere Wochen bei mir bzw. bei meinen Zieheltern. Danach fuhr ich mit ihm nach England und verbrachte längere Zeit in Littleport in der Nähe von Ely im Haus seiner Eltern. Tony interessierte sich sehr für lokale Geschichte. Die Kathedrale von Ely kannte er bis ins kleinste Detail und er hatte Zugang zu allen möglichen Teilen dieses großartigen Bauwerks, die der Öffentlichkeit normalerweise verschlossen waren. Mit Phil verlor ich den Kontakt, aber Tony wurde ein lebenslanger Freund.
2.2 Rückweg
Auf dem Weg zurück von Paris machte ich eine weitere unvergessliche Erfahrung. Nachdem ich einen Tag lang von Paris in Richtung Straßburg geradelt war, kam ich am Abend nach Fère Champenoise, einem kleinen Ort in der Marne-Region. Da es bald dunkel wurde, machte ich mich auf die Suche nach einem Hotel oder einer Herberge, konnte jedoch nichts finden. In meinem armseligen Französisch fragte ich eine Frau, die gerade vorbeiging, ob sie wüsste, wo ich eine Unterkunft finden könne. Sie bot mir an, in ihrem Haus zu übernachten. Nachdem wir einige Minuten schweigend nebeneinander hergegangen waren, fragte sie mich, woher ich sei. Als ich sagte: Autriche, leuchteten ihre Augen auf und sie rief: Ah Autriche! Madame D stammte aus der Tschechoslowakei und hatte einen Franzosen geheiratet. Sie freute sich, mich zu sehen, als ob ich ein Landsmann wäre. Zwar hatten wir seit 1918 keinen gemeinsamen Staat mehr, doch teilten wir immer noch dasselbe mitteleuropäische Erbe. Sie gab mir ein gutes Abendessen, ein komfortables Bett und ein reichliches Frühstück. Während des Abendessens erzählte sie mir, dass sie eine kleine Wohnung in Neuilly sur Seine in unmittelbarer Nähe von Paris besitze, die sie mir gerne zur Verfügung stellen würde, sollte ich wieder einmal nach Paris kommen. Zum Abschied am Morgen packte sie mir eine Flasche Wein und hausgemachte Powidltascherln ein. Diese sind eine herrliche tschechische Mehlspeise, die auch in Österreich sehr beliebt ist.
Mit Madame D verblieb ich in losem Briefverkehr. Als ich ihr nach einigen Jahren schrieb und fragte, ob ihr Angebot immer noch gelte, erhielt ich von ihrem Mann die schockierende Nachricht, dass sie vor einigen Monaten vor dem Haus von einem Auto überfahren worden und an den Folgen diese Unfalls gestorben war.
Mein Aufenthalt in Paris fiel zwischen meine Zeit im Goetheanum und den Beginn meiner Freundschaft mit Tony auf der einen und meine Begegnung mit der liebenswürdigen Madame D auf der anderen Seite. Paris war mein Ziel, aber meine Erinnerungen an diese wunderbare Stadt sind vage. Viel mehr haben sich die Tage im Goetheanum in mein Gedächtnis eingegraben. Ich nahm von dort eine Freundschaft mit, die erst vor wenigen Jahren endete, als Tony starb. Und die liebe Madam D werde ich nie vergessen. Der Weg nach Paris und zurück hinterließ tiefere Spuren als Paris selbst.
Es ist nicht nötig, hier die Schönheiten dieser herrlichen Stadt zu beschreiben und ihre kulturellen Monumente zu lobpreisen. Ich wohnte in einer Herberge der UNESCO, die ich mir gerade noch leisten konnte. Zum Frühstück gab es café au lait und eine baguette mit Butter. Da mein Geld knapp war, vermied ich es, den öffentlichen Verkehr zu benützen und erforschte die Stadt per Fahrrad und zu Fuß. Oft war ich genötigt, Leute zu fragen, wie ich da oder dorthin gelange, was mir die Gelegenheit gab, mein Französisch aufzupolieren. Im Gegensatz zu dem, was ich über die angebliche Schroffheit und Arroganz der Pariser gehört hatte, fand ich die meisten Leute ausnehmend freundlich und charmant. Manchmal begleitete mich der eine oder andere Gast der Herberge auf meinen Spaziergängen. Einer davon war ein junger Mann aus Indien, der wissen wollte, was der Unterschied zwischen einer romanischen und einer gotischen Kirche sei. Ich tat mein Bestes, es ihm zu erklären. Die meiste Zeit über war ich hungrig. Alles, was ich mir leisten konnte, waren Hot Dogs und pommes frites. Kein Wunder, dass ich nach einer Woche vollkommen erschöpft war.
Ich hatte gehofft, Versailles zu sehen, aber meine Kräfte verließen mich, und ich beschloss, die lange Heimreise anzutreten. Madame D in Fère Champenoise war sehr überrascht, als sie erfuhr, dass ich Versailles nicht besucht hatte. „Was, Sie waren in Paris und haben Versailles nicht gesehen?“ Möglicherweise war dies ein Grund, warum sie mir ihre Wohnung in Neuilly sur Seine anbot. Viele Jahre später, in einem November, besuchte ich Paris mit Ursula. Wir fuhren nach Versailles und schlossen uns einer geführten Tour an, an der nur fünf Leute teilnahmen. Was für ein Privileg, die Innenräume von Versailles, durch die normalerweise hunderte und tausende Touristen hindurch geschleust werden, für uns zu haben!
Nachdem ich mich von Madame D in Fère Champenoise verabschiedet hatte, brauchte ich noch zwei Tage bis Straßburg. Dann hatte ich genug von der Radlerei und fuhr zum Bahnhof. Dort erfuhr ich, dass am frühen Morgen des nächsten Tages ein Zug nach Salzburg ging. Ich schlief auf einer Bahnhofsbank und bestieg den Zug in Allerherrgottsfrüh. So endete mein erster Besuch von Paris.